Vergilius
der
Zauberer
, die nach mittelalterlicher Auffassungsweise sagenhaft ausgeschmückte Gestalt
des römischen Dichters
Vergilius. Einige rätselhafte
Stellen in seinen Gedichten führten schon früh auf die Meinung, daß
darin eine ganz besondere
Weisheit und
Geheimlehre verborgen sei; christliche Schriftsteller des 3. und 4. Jahrh.,
wie
Lactantius,
Augustinus u. a., stellten ihn als einen Verkünder
des
Christentums dar, der
sich von dem
Polytheismus ab- und
dem
Monotheismus zugewendet habe, sie deuteten namentlich den Anfang seines vierten, im Jahr 40
v. Chr. gedichteten
und an den
Konsul
Asinius
Pollio und dessen neugebornes Söhnlein gerichteten
Idylls als eine messianische
Weissagung, und diese
Deutung setzte sich so fest, daß Vergilius
mit der
Sibylle neben den alttestamentlichen messianischen
Propheten in die katholische
Liturgie Eingang fand.
Kirchenbilder
stellen ihn neben der
Sibylle von
Tibur dar, die dem
Kaiser
Augustus das Christuskind in den
Wolken zeigt, und
Dante durfte sich somit in der
»Göttlichen
Komödie« dem heidnischen
Führer bis vor die
Thore des
Himmels anvertrauen.
Damit hängen auch die sogen.
Sortes Virgilianae zusammen, eine Schicksalsbefragung, bei der man die ersten sich darbietenden
Verse der aufs Geratewohl aufgeschlagenen
»Äneide« als
Orakel annahm. Es konnte nicht fehlen, daß bald
allerlei
Sagen an den so hoch verehrten
Namen sich knüpften, die sich vorzugsweise an die
Orte seiner
Geburt, seines Hauptaufenthalts
und seines
Todes, an
Mantua,
[* 2]
Rom und
[* 3]
Neapel,
[* 4] anlehnten. Im 12. Jahrh. scheint zuerst mit Benutzung orientalischer
Sagen, die in
den
Kreuzzügen nach
Europa
[* 5] gekommen waren, und in analoger
Weise, wie dies in jener Zeit mit andern weisen
Männern
(Kaiser
Leo dem
Philosophen,
Papst
Silvester,
Albertus Magnus,
Roger
Bacon u. a.) geschah, die Umwandlung in einen Zauberer
vollzogen zu sein.
Die frühsten Spuren davon finden sich in dem »Policraticus« des Johann von Salisbury (1159),
worauf Gervasius von Tilbury in seinem um 1211 geschriebenen Buch »Otia imperialia« schon eine größere Zahl von Sagen mitteilen konnte, die er zum Teil aus dem Munde des neapolitanischen Volkes gesammelt hatte. Fortbildung und weitere Beiträge zu dem Sagenkreis lieferten dann namentlich die Chroniken von Neapel und Mantua, wobei verschiedene früher dem Kaiser Leo zugeschriebene Künste jetzt dem Vergil beigelegt wurden, z. B. die vom Zauberspiegel, [* 6] in welchem alles zu sehen war, ¶
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was in der Welt vorging. Die Erzählungen von Automaten, einem Kupfermann, der auf kupfernem Roß Rom durchreitet, um es von schlechtem Gesindel zu reinigen, von Talismanen, die Vergil gefertigt, etc. erscheinen arabischen Ursprungs. Zu einem Ganzen gesammelt finden sich diese Sagen in dem seit dem Anfang des 16. Jahrh. wiederholt gedruckten französischen Volksbuch »Faictz merveilleux de Virgile« (neue Ausg., Genf [* 8] 1867),
aus welchem das englische hervorging (deutsch von Spazier, Braunschw. 1830). Die reichhaltigsten
Nachweise über die Litteratur der Vergiliussage
geben Keller in der Ausgabe der »Romans des sept sages« (Tübing. 1836) sowie
von »Dyocletianus' Leben« (Quedlinb. 1841) u. v. d. Hagen
[* 9] vor dem 3. Band
[* 10] seiner »Gesamtabenteuer« (Stuttg.
1850).
Vgl. Zappert, Virgils Fortleben im Mittelalter (Wien [* 11] 1851);
Roth in Pfeiffers »Germania« [* 12] (Bd. 4, 1859);
Milberg, Mirabilia Vergiliana (Meiß. 1867);
Comparetti, Virgil im Mittelalter (a. d. Ital., Leipz. 1875).