Thermochemie
(griech.), die Lehre [* 2] von den durch chemische Prozesse bedingten Wärmeerscheinungen. Die neuere Physik lehrt bekanntlich, daß der Wärmezustand eines Körpers bedingt werde durch die Art der Bewegung der kleinsten Massenteilchen, der Moleküle. Je schneller sich diese Teilchen bewegen, je größer ihre lebendige Kraft ist, um so wärmer erscheint uns der Körper, dem sie angehören; je geringer dagegen die Geschwindigkeit der Moleküle ist, um so weniger Wärme [* 3] wird der Körper zu enthalten scheinen.
Mithin muß, wenn durch irgendwelche äußere Einwirkung oder innere Veränderung die Bewegung der Moleküle in einem beliebigen Massensystem geändert wird, auch der Wärmezustand dieses Systems eine Veränderung erleiden. Wenn sich zwei isolierte Gasatome, die sich vollkommen unabhängig voneinander bewegen, zu einem Molekül vereinen, so werden bedeutende Bewegungsgrößen zerstört, da die früher frei beweglichen Atome durch die chemische Verbindung gezwungen sind, sich innerhalb bestimmter Grenzen [* 4] zu bewegen.
Der scheinbare Wärmeinhalt des Systems wird also nach der Vereinigung der beiden Atome ein geringerer sein, es wird während der Vereinigung Wärme nach außen abgegeben. Mithin wird bei der chemischen Vereinigung zweier Atome stets Wärme frei. Zur Trennung der chemisch vereinten Atome ist die Anziehungskraft zu überwinden, welche die Atome zwingt, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen; den Atomen ist eine so lebhafte Bewegung mitzuteilen, daß sie sich voneinander losreißen, sich unabhängig voneinander bewegen können. Es wird also bei der Zersetzung einer chemischen Verbindung Wärme von außen zugeführt werden müssen, es wird Wärme gebunden werden und zwar genau so viel, wie bei der Entstehung der betreffenden Verbindung frei geworden war. Da nun aber bei der Entstehung einer chemischen Verbindung um so mehr Wärme frei wird, je größer die durch die Affinität zerstörten oder richtiger in Wärme verwandelten Bewegungsgrößen der Elementaratome oder nähern Bestandteile der fraglichen Verbindung waren, so gibt die frei werdende Wärmemenge ein relatives Maß der bei der Entstehung der fraglichen Verbindung sich bethätigenden Verwandtschaftskräfte ab, vorausgesetzt, daß nicht anderweitige physikalische oder chemische Vorgänge, welche sich neben der eigentlichen Reaktion abspielen, von Wärmeerscheinungen begleitet sind.
Das letztere ist nun gewöhnlich der
Fall, so daß die thermochem
ischen
Daten nur mit Vorsicht als
Maß
für die chemischen Verwandtschaftskräfte zu benutzen sind. Wenn bei der Vereinigung von
Wasserstoff und
Chlor zu gasförmiger
Chlorwasserstoffsäure 22
Kal. entwickelt werden, so ist diese Wärmeentwickelung nicht durch die bei der Vereinigung der
beiden
Gase
[* 5] in
Frage kommende
Affinität allein bedingt, sondern es kommen noch andre
Faktoren in Betracht.
Der
Prozeß ist nicht: H+Cl==HCl, sondern: H2 + Cl = = 2HCl, d. h. es müssen erst die
Wasserstoff- und die Chlormoleküle in die diskreten
Atome zerlegt werden, ehe die letztern sich zu
Chlorwasserstoff
[* 6] vereinigen
können.
Die
oben angeführte Wärmetönung gibt also die Bildungswärme des
Chlorwasserstoffs, vermindert um die
Zersetzungswärme der
Wasserstoff- und der Chlormoleküle. Aus dem Umstand, daß jede Wärmetönung, wie sie durch die direkte
Beobachtung gegeben wird, als eine
Differenz angesehen werden muß, ergibt sich auch die
Erklärung für die sonst schwerverständliche
Thatsache, daß viele
Verbindungen unter Wärmeabsorption entstehen. Nichtsdestoweniger haben die thermochem
ischen
Daten als relatives
Maß der bei einem chemischen
Prozeß zum
Ausgleich kommenden
Affinitäten ihren hohen Wert. Man darf eben
nur auf solche
Prozesse bezügliche
Zahlen direkt miteinander vergleichen, welche analog verlaufen und
Produkte von analoger
Konstitution liefern, so daß man eine annähernde
Gleichheit der sekundären Wärmeerscheinungen annehmen
kann. Die letztern werden sich dann bei der Differenzierung aufheben.
Es gibt eine Reihe wichtiger chemischer Prozesse, deren Verlauf teils wegen der Langsamkeit der Reaktion, teils wegen der geringen Beständigkeit der dabei entstehenden Produkte und aus ähnlichen Gründen keiner genauen thermischen Untersuchung unterzogen werden kann. Will man nun dennoch einen Aufschluß über die durch derartige Prozesse bedingten Wärmeerscheinungen erhalten, so muß man mittels Rechnungsoperationen aus anderweitigen Versuchsdaten erschließen, was die direkte Beobachtung nicht ergeben kann.
Die Handhabe für diese Rechnungen bietet der sogen. zweite Hauptsatz der Thermochemie
, welcher
aussagt, daß, wenn ein
System einfacher oder zusammengesetzter
Körper unter bestimmten äußern Umständen
und
Bedingungen chemische und, wie wir gleich hinzusetzen können, physikalische Veränderungen erleidet, die dabei auftretende
Wärmeabsorption oder
Emission allein von dem Anfangszustand und dem Endzustand des
Systems abhängig ist und dieselbe bleibt,
welches immer die
Beschaffenheit und die Aufeinanderfolge der Zwischenzustände sei. Es geht daraus hervor, daß, wenn ein
System von zwei verschiedenen Anfangszuständen zu demselben Endzustand oder von einem und demselben Anfangszustand zu
zwei verschiedenen Endzuständen übergeführt wird, die
Differenz der diesen beiden
Prozessen entsprechenden Wärmetönungen
diejenige Wärmetönung ergibt, welche dem Übergang des
Systems aus dem einen Anfangs-, bez. Endzustand in den andern entspricht.
Die Affinitätskräfte beruhen auf der Zerstörung von Bewegungsgrößen oder richtiger auf ihrer
Verwandlung
in
Wärme. Jedes bewegte Massensystem strebt aber dem Zustand des stabilen
Gleichgewichts zu, und das
Gleichgewicht
[* 7] ist am stabilsten,
wenn das
System den größtmöglichen Verlust an lebendiger
Kraft
[* 8]
¶
mehr
erlitten hat. Mithin ist stets die wahrscheinlichste Reaktion, vorausgesetzt, daß nur die Affinitätskräfte den Verlauf
derselben bedingen, diejenige, bei welcher die Atome den größten Verlust an lebendiger Kraft erleiden, bei welcher also die
größte Wärmemenge entwickelt wird. Dies Prinzip der größten Arbeit, das am meisten bestreitbare und auch bestrittene Prinzip
der Thermochemie
, ist nur eine erste Annäherung, welche man unter Vernachlässigung aller sekundären Kräfte erhält, und welche ihren
Wert nur so lange bewahren kann, als diese Vernachlässigung statthaft ist.
Unter dieser Voraussetzung hat das Prinzip für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Reaktion seinen großen Wert. Ein Problem, an dessen Lösung man oft gezweifelt hat, ist das, was eintritt, wenn man eine Säure auf das Salz [* 10] einer andern Säure einwirken läßt. Bringt man z. B. Natriumsulfat und Salpetersäure zusammen, so könnten folgende Reaktionen eintreten: die Salpetersäure könnte die Schwefelsäure [* 11] vollkommen verdrängen, so daß in der Lösung schließlich nur Natriumnitrat und freie Schwefelsäure vorhanden wären. Es könnte aber auch eine nur teilweise Verdrängung der Schwefelsäure eintreten, so daß wir eine Mischung von Natriumnitrat und Natriumsulfat, von freier Salpetersäure und freier Schwefelsäure in der Endlösung anzunehmen hätten.
Die Schwefelsäure würde sich dann aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Natriumsulfat zu Natriumbisulfat vereinigen. Die
Thermochemie
hat die vollkommene Sicherheit dafür verschafft, daß die zuletzt erwähnte Teilung im Schoß der Lösung
vor sich geht. Die Thermochemie
liefert also nicht allein die Mittel, um die Affinitätskräfte einer genauen relativen Messung zu unterziehen,
sie gibt zugleich Aufschluß über die Wirkungen dieser Kräfte in Fällen, wo alle rein chemischen Methoden
bisher versagt haben.
Sie gibt die Handhabe, um über die Möglichkeit, in vielen Fällen sogar über die Wahrscheinlichkeit des Verlaufs eines chemischen Prozesses von vornherein zu entscheiden, und eröffnet der theoretischen chemischen Forschung dadurch ganz neue Bahnen.
Vgl. Berthelot, Méchanique chimique ^[richtig: Essai de mécanique chimique ...] (Par. 1879, 2 Bde.);
Thomsen, Thermochem
ische Untersuchungen (Leipz. 1882-1886, 4 Bde.);
Naumann, Lehr- und Handbuch der Thermochemie
(Braunschw. 1882);
Jahn, Grundsätze der Thermochemie
(Wien
[* 12] 1882);
Horstmann, Theoretische Chemie einschließlich
der Thermochemie
(Braunschw. 1885);
Ditte, Anorganische Chemie, gegründet auf die Thermochemie
(deutsch von Böttger, Berl. 1886).