Als er aber auf die
Frage nach dem
Zweck des zweiten
Pfeils, den er zu sich gesteckt hatte, antwortete, daß derselbe, wenn er
sein
Kind getroffen, für den
Vogt bestimmt gewesen, befahl dieser, ihn gefesselt auf seine
Burg nach
Küßnacht überzuführen.
Auf dem
Vierwaldstätter See aber brachte ein
Sturm das Fahrzeug in
Gefahr, und Tell ward seiner
Fesseln entledigt, um dasselbe
zu lenken. Geschickt wußte er das
Schiff
[* 6] gegen das
Ufer, wo der
Axenberg sich erhebt, zu treiben, sprang dort vom
Bord auf eine
hervorragende Felsplatte, welche noch jetzt dieTellsplatte heißt, eilte darauf über das
Gebirge nach
Küßnacht zu, erwartete den
Vogt in einem Hohlweg,
HohleGasse genannt, und erschoß ihn aus sicherm
Versteck mit der
Armbrust.
[* 7]
Von Tells weitern Lebensschicksalen wird nur noch berichtet, daß er 1315 in der
Schlacht bei
Morgarten mit gefochten und 1354 in
dem Schächenbach beim
Versuch der Rettung eines
Kindes den
Tod gefunden habe. Nachdem schon der
Freiburger
Guillimann 1607, dann die
BaselerChristian und
IsaakIselin, der
BernerPfarrerFreudenberger 1752 sowie
Voltaire (»Annales de l'Empire«)
die Geschichte Tells als
Fabel bezeichnet hatten, ist in neuerer Zeit durch die Forschungen
Kopps (s. d.) u. a.
in unzweifelhafter
Weise aufgezeigt worden, daß dieselbe, wie überhaupt die gewöhnliche
Tradition von der
Befreiung der
Waldstätte,
einerseits im
Widerspruch mit der urkundlich beglaubigten Geschichte (s.
Schweiz,
[* 8] S. 757) steht, und daß sie anderseits in
keinen zeitgenössischen oder der Zeit näher stehenden
Quellen mit irgend einer
Silbe erwähnt wird.
Erst gegen Ende des 15. Jahrh. taucht die Tellsage auf und zwar in zwei
Versionen. Die eine, repräsentiert durch ein um 1470 entstandenes
Volkslied, die 1482-88 geschriebene
Chronik des
Luzerners
Melchior
Ruß, ein 1512 in Uri
verfaßtes Volksschauspiel u. a., erblickt in Tell den Haupturheber
der
Befreiung und
Stifter des
Bundes; die andre, die zuerst in dem um 1470 geschriebenen anonymen
»WeißenBuch« zu
Sarnen, dann in der 1507 gedruckten
Chronik des
Luzerners Etterlin erscheint, gibt Tells Geschichte nur als zufällige
Episode und schreibt die
Verschwörung¶
mehr
vornehmlich den Stauffacher zu. ErstTschudi (s. d.) hat die beiden Traditionen zu der stehend gewordenen Gesamtsage verknüpft,
die dann im Lauf der Jahrhunderte noch mancherlei Zusätze bekam und durch J. v. Müller und Schiller Gemeingut geworden ist.
Die sogen. Tellskapellen auf der Tellsplatte, in Bürglen, in der HohlenGasse stammen sämtlich erst aus
dem 16. Jahrh. und sind zum Teil nachweislich zu Ehren von Kirchenheiligen gestiftet worden. In Uri
ließ sich keine FamilieTell ermitteln;
die Erkenntnisse der Urnerlandsgemeinden von 1387 und 1388, welche TellsExistenz bezeugen sollten, sowie die den Namen »Tello«
und »Täll« enthaltenden Totenregister und Jahrzeitbücher von
Schaddorf und Attinghausen sind als Erdichtungen und Fälschungen nachgewiesen.
Die Sage vom Apfelschuß ist ein uralter indogermanischer Mythus, welcher in anderm Gewand auch in der persischen, dänischen,
norwegischen und isländischen Heldensage, in welch letzterer der Held Eigil genannt wird, von dessen Sohn, König Orentel,
Tell vielleicht den Namen erhalten hat, vorkommt und in der Schweiz von den Chronisten des 15. Jahrh. zur
Ausschmückung der Befreiungssage verwendet worden ist.
Wilhelm, die volkstümlichste Gestalt der schweiz. Heldensage, war der Überlieferung nach ein als Armbrustschütze
und kühner Schiffer weit berühmter Landmann aus Bürglen(Uri),
der von dem Vogte Gehler gefangen gesetzt wurde, weil er dem Hute,
den dieser zu Altdorf als Zeichen der österr. Herrschaft aufgepflanzt hatte, die anbefohlene Reverenz
nicht bewies. Um das verwirkte Leben zu lösen, sollte er vom Haupte seines eigenen Sohnes einen Apfel schießen. Tell wagte
den Schuß und traf glücklich; aber weil er einen zweiten Pfeil aus dem Köcher genommen hatte, um damit, im Fall er sein
Kind getroffen hätte, den Vogt zu töten, sollte er auf dessen Befehl in die BurgKüßnacht übergeführt
werden. Auf der Fahrt über den Vierwaldstätter See gelang es ihm jedoch während eines Sturmes, sich am Axenberg (Tellsplatte)
durch einen kühnen Sprung ans Land zu retten, worauf er sich auf Schleichwegen nach Küßnacht begab und dort durch einen
Pfeilschuß aus einem Hinterhalt in der Hohlen Gasse den heimkehrenden Landvogt tötete und dadurch der Befreiung der Waldstätte
den Weg bahnte. 1315 soll er nach der Vermutung späterer Gelehrten an der Schlacht am Morgarten teilgenommen und bei der Rettung
eines Kindes aus dem angeschwollenen Schächenbach den Tod gefunden haben. 1895 wurde in Altdorf ein Denkmal
T.s (von Kißling) enthüllt.
Als Wahrzeichen T.s gelten die drei Tellskapellen (in Bürglen, zu Küßnacht an der Hohlen Gasse, auf der Tellsplatte) und der
Tellenturm und -Brunnen in Altdorf; indessen reichen namentlich die Tellskapellen, die am ehesten Beweiskraft hätten, nicht
über das 16. Jahrh, zurück. Manches, was mit der Überlieferung von Tell zusammenhängt, namentlich
die Existenz eines Vogtes Geßler, ist urkundlich erschüttert worden. Wir finden die früher nicht namentlich aufgeführte
Sage zum erstenmal aufgezeichnet im sog. WeißenBuch des Archivs von Obwalden
(um 1470) und
der Chronik des Melchior Ruß (1482) sowie
in einem etwa gleichzeitigen Volkslied («Tellenlied»),
wenn auch noch in rohen, unvollkommenen, zum Teil
voneinander abweichenden und sich widersprechenden Umrissen. Im 16. Jahrh. bringen dannTschudi und andere, aus denen Schiller
geschöpft hat, jene sichtlich ausgeschmückte Darstellung, welche später die herrschende geworden ist. Auf die Entstehung
der Tellsage ist vielleicht ein altgerman. Mythus von Einfluß gewesen. So erzählt der dän. Chronist
Saxo Grammaticus von einem Schützen Toko, den der Dänenkönig Harald Blauzahn zu gleichem Schusse gezwungen und dessen Pfeil
später Harald erlegt habe. Die Isländer legen den Pfeilschuß unter denselben Umständen verschiedenen Männern bei, wie
z. B. Eigil, dem BruderWielands des Schmieds. Desgleichen ein Volkslied des nördl. Englands von William
of Cloudeslay. Auch in Holstein, am Oberrhein, in Norwegen
[* 14] an verschiedenen Orten hat sich diese Wandersage eingebürgert.
Züge dieser alten Sagen können auf einen wirklichen Helden der Befreiungskämpfe des 13. Jahrh. übertragen worden sein.
Vgl. Ideler, Die Sage vom Schusse des Tell (Berl. 1836);
Häusser, Die Sage vom Tell (Heidelb. 1840);
Hisely,
Recheres critiques sur l'histoire de Guillaume Tell (Lausanne
[* 15] 1843);
Mit einem Anhang über die geschichtliche Bedeutung des Wilhelm Tell (Innsbr. 1861); H. von
Liebenau, Die Tellsage zu dem Jahr 1230 (Aarau 1864); Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstätte
nach ihrer allmählichen Ausbildung. Nebst Beilage: Das älteste Tellenschauspiel (Lpz. 1867);
Nochholz, Tell und Geßler in Sage und Geschichte (Heilbr. 1877);