Titel
Stengel
[* 2]
(Caulis,
Kaulom,
Stamm,
Achse), eins der morphologischen Grundorgane der
Pflanzen, in der Fähigkeit dauernder
Verjüngung an seiner
Spitze mit der
Wurzel
[* 3] übereinstimmend, aber durch den
Besitz von Blättern wesentlich
verschieden. Man beschränkt gewöhnlich das Vorkommen des Stengels
im
Pflanzenreich auf die deshalb so genannten stammbildenden
Pflanzen
(Kormophyten), welche, alle
Gewächse von den
Moosen an aufwärts umfassend, den
Thallophyten gegenübergestellt sind,
denen man den S. abspricht und einen
Thallus beilegt.
Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beim sogen. blattlosen S. sind in
Wahrheit die
Blätter entweder nur
auf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn als bloße
Scheiden nur am
Grund, oder der vermeintlich blattlose
S. ist nur das zu ungewöhnlicher
Länge gestreckte Zwischenstück zwischen je zwei einander folgenden
Blättern. Die
Stellen des Stengels
, an welchen ein
Blatt
[* 4] sitzt, die
Knoten (nodus), sind nicht selten durch eine knotenartige
Verdickung und oft auch durch andre anatomische
Beschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln
mit
Mark erfüllt.
Das zwischen je zwei aufeinander folgenden
Knoten liegende
Stück heißt Stengel
glied
(Internodium). Das
aus dem
Blatt in den S. übertretende
Gefäßbündel
[* 5] wird als
Blattspur bezeichnet. Die im jugendlichen Zustand an der Stengel
spitze
dicht zusammengedrängten Blätterrücken erst bei der weitern
Ausbildung in der
Regel mehr auseinander, indem die Stengel
glieder
sich strecken. Bei Stengeln
, deren Internodien unentwickelt bleiben, stehen alle
Laubblätter unmittelbar
über der
Wurzel und heißen deshalb
Wurzel- oder Grundblätter, während man solche
Pflanzen ungenau stengellose
Pflanzen (plantae
acaules) nennt. Auch die
Knospen,
[* 6] die
Köpfchen, die
Blüten sind
Beispiele für S. mit verkürzten Internodien. Einen sehr hohen
Grad erreicht die Streckung der Stengel
glieder z. B. bei den
Pflanzen mit windenden Stengeln
, bei den fadendünnen
Ausläufern und beim
Schaft (scapus
), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes
Internodium eines aus der
Achsel
¶
mehr
von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte [* 8] oder einen Blütenstand [* 9] tragenden Sprosses darstellt.
Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare)
[* 10] das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die in der
Fortbildung begriffene Spitze des Stengels
der Länge nach durchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine
halbkugel- bis schlank kegelförmige Kuppe endigt
[* 2]
(Fig. 1), auf deren Oberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden
sind. Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seine zellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels
in die Länge.
Erst ein mehr oder minder großes Stück unterhalb des Scheitels
[* 2]
(Fig. 1 ss) desselben zeigen sich auf seiner
Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nach rückwärts verfolgend, bald in größere Gebilde übergehen sehen und als die ersten
Anlagen der Blätter erkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengels
samt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt
bedeckenden jungen Blättern
[* 2]
(Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). Der Vegetationspunkt ist aus lauter
gleichartigen, sehr kleinen, polyedrischen, dünnwandigen, reichlich mit Protoplasma erfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen
Zellen zusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristem darstellen, aus welchem allmählich die Gewebe
[* 11] (Fig. 1 m)
durch entsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei den Gefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es im Scheitel
des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durch regelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und
von welcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengels abstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen im
Vegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig und unabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelle anzunehmen ist.
Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugt an seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zu einer neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihr zusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweig oder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengels bilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schon in der Nähe der Spitze des Stengels und meist in regelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, auf welcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanze beruht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche aus Adventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von der Spitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnung und oft durch zufällige äußere Einflüsse veranlaßt entstehen.
Bei jeder normalen Verzweigung treten die neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätter auf, und zwar an der Oberfläche des Stengels [* 2] (Fig. 1 k). Daher ist die Stellung der Zweige von der Blattstellung [* 12] abhängig und zeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessen erzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe, und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zu wirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert die Unterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, da man jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproß nennt, von Haupt- und Seitensprossen.
Insofern aber die Nebenachsen sich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsen erster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nach dem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten der Verzweigung:
1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sich fortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, so nennt man ein solches Verzweigungssystem monopodial oder ein Monopodium; es ist die gewöhnlichste Form.
2) Wenn der S. aber an einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezu gleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, so heißt er gabelig verzweigt oder dichotom (caulis dichotomus), die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann auf dreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einer Modifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falsche Dichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebenso stark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrer Richtung etwas zur Seite drängt [* 2] (Fig. 2 C, wo aaa die Hauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze der Hauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oder welche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zwei gegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und in demselben Grad wie der Hauptsproß erstarken [* 2] (Fig. 2 B, Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltener bei den Selaginellen und Lykopodiaceen [* 13] vorkommender Fall, der gar nicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht, daß das Wachstum am Scheitel des
[* 2] ^[Abb.: Fig. 1. Längsschnitt durch die Stengelspitze eines Keimlings von Phaseolus. ss Scheitel, pb Teile der ersten beiden Blätter, k deren Achselknospen, m inneres Gewebe des Stengels.
Fig. 2. Verzweigungsarten des Stengels.] ¶
mehr
Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben in zwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem der Vegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt [* 14] (Fig. 2 A, Bärlapp).
3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. in seiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aber die der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicher Richtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe von Internodien sich wiederholt [* 14] (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb' die aufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbar Einer Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsen verschiedenen Grades zusammengesetzt ist.
Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnen Sprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung bei phanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselben erwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällen schließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kann dabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einer einzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird. Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei denen erst an den Nebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, also z. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätter trägt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oder an der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auch jede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß für sich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachse unterirdisch als Rhizom [* 15] wächst und einfache Nebenachsen über den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüte abschließen, wie z. B. bei Paris [* 16] quadrifolia.
Man kann hiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc. Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigen Pflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach, sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sie tragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose der Blätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamen bestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u. Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nach deren Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregion und Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzen folgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, bei mehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsen verteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc. unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denen hauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) der Pflanze abhängt, zeigen wiederum große Mannigfaltigkeiten.
Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namen üblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S. oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm (culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einer einzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen [* 17] und Baumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde, in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen und Nadelhölzer [* 18] wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum).
Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichtete Stengelformen sind die Knollen, [* 19] Ranken und Dornen (s. d.). Bei manchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig, wie bei dem Kohlrabi [* 14] (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus [* 14] (Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedern zusammengesetzt, wie bei den Opuntien [* 14] (Fig. 5). Ja, es gibt auch S., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen, wie z. B. die Zweige von Ruscus [* 20] aculeatus [* 14] (Fig. 6), welche flächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktes Längenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzte blattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia) unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch, daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmiger Blätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleine Blättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blüte hervorbringen. Über den innern Bau des Stengels vgl. die Artikel Gefäßbündel, Holz, [* 21] Rinde, Kambium. [* 22]
^[Abb.: Fig. 3. Kohlrabi. [* 14] Fig. 4. Stengel von Melocactus. [* 14] Fig. 5. Stengel von Opuntia. [* 14] Fig. 6. Phyllokladien von Ruscus aculeatus.]