(Stadtgemeinde), größere
Gemeinde mit selbständiger
Organisation und
Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten.
Verschiedene Merkmale, welche früher für den Unterschied zwischen
S. und Dorf oder zwischen Stadt- und Landgemeinde von
Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wie die alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welche früher einem
Ort
im
Gegensatz zum platten
Lande den städtischen
Charakter verliehen, so hat sich auch der Unterschied zwischen
der rechtlichen und wirtschaftlichen
Stellung des städtischen
Bürgers und des Landmanns mehr und mehr verwischt.
Die
Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehr schlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sind heutzutage volkreicher
als kleine Landstädtchen mit vorwiegend landwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger. Beseitigt
sind ferner durch die moderne
Gesetzgebung die einstige Ausschließlichkeit des zunftmäßigen
Gewerbebetriebs innerhalb des
städtischen
Weichbildes und das
Recht derStadtgemeinde, innerhalb der städtischen
Bannmeile jeden für den städtischen
Verkehr
nachteilige
Gewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst den städtischen
Gemeinden ausschließlich zukam, ist
jetzt auch größern Landgemeinden
(Marktflecken) zugestanden. Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet
des
Handels und der
Industrie findet sich nicht mehr ausschließlich und in manchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in
den Städten. Dagegen besteht noch in verschiedenen
Staaten in Ansehung der Gemeindeverfassung ein
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erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); doch auch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr
oder weniger beseitigt.
Die ersten Städte wurden unter den mildern Himmelsstrichen Asiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens
[* 3] gegründet. In Griechenland
[* 4] erhielten sie sich meist ihre volle Selbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten. Bei den
Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als feste Plätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Bei den
Etruskern und Latinerngab es schon früh städtische Niederlassungen, zunächst mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet
und durch Bündnisse geeint, bis sich Rom
[* 5] zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzen zivilisierten Welt
machte und unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reich zu führen wußte.
Doch auch hier besteht wenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihren Schultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo
dann die herzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben und Sachsen,
[* 28] haben sich die fürstlichen
Städte zur Reichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängiger die Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb
des Reichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei der Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, so
war die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge.
Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen und schwäbischen Städte und besonders die Hansa,
welche sogar den Norden
[* 29] Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehen vermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne
Klassen durch
Handel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern ab und suchten möglichst allein die Leitung der
städtischen Angelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge, daß die Handwerker sich in Zünfte
organisierten und um Beteiligung am Stadtregiment sich bemühten.
Verheerend schritt dann der Dreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, und unter seiner blutigen Geißel erstarb die
Blüte
[* 32] der einst so mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verloren ihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte der
Fürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergang entgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen
Revolutiongab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nach der Auflösung des DeutschenReichs bis auf vier, 1866 bis
auf drei, Hamburg,
[* 33] Bremen
[* 34] und Lübeck,
[* 35] welche noch jetzt selbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren.
Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte der Fürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller und glänzender
entwickelte, je entschiedener die Fürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland wurde. Im 19. Jahrh.
aber hat nicht nur der Bau vonEisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau,
[* 36] in der Fabrikthätigkeit
und im Handel dem Städtewesen in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte, welche im Mittelpunkt wichtiger
Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau- und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung
[* 37] bisweilen verzehnfacht.
Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesen frühzeitig in Italien
[* 38] genommen. Die einzelnen Einwohnerklassen traten
in Vereinigungen zusammen, so in Mailand
[* 39] die vornehmen Lehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben
zu Ende des 11. Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung und Gerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte
den Anspruch erhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zu ernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 das
Wahlrecht der Konsuln zugestehen.
Diese wurden dann vom König oder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit den Regalien belehnt.
Neben jenen Beamten finden sich häufig ein Rat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeine Bürgerversammlung (parlamentum).
Seit dem 13. Jahrh. wurde es Sitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter dem Titel »Podestà« die militärische und
richterliche Gewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien, ein Großer und ein KleinerRat, fungierten. Auch die Handwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten, bildeten Innungen und organisierten
sich unter Consules oder einem eignen Podestà oder Capitano del popolo als besondere Gemeinde neben den Adelsgeschlechtern.
Diese Rivalität unter den einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impuls durch die Parteiungen
der Guelfen und Ghibellinen.
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In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtische Freiheit verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen in Italien
wiederum einen erfreulichen Aufschwung.
In Südfrankreich findet anfangs eine ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibt es Consules, Ratskollegien
und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auch die erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter
sind die Baillis, denen die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In den bischöflichen Städten von Nordfrankreich traten
die untern Stände zu Vereinigungen (Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfe auf und fanden dabei bei den Königen
lebhafte Unterstützung. Diese vertraten den wohlwollenden Grundsatz, daß jede »Kommune« unter dem König
stehe, obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (des alten Francien) nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte
finden sich in diesen Städten: ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Als die Macht des Königtums wuchs, wurde
die städtische Selbstverwaltung mehr und mehr eingeschränkt.
In England sind die Städte teils auf keltischen, teils auf römischen Ursprung zurückzuführen. Sie
besaßen in der angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit und Selbständigkeit, berieten ihre Angelegenheiten in eigner
Versammlung und standen unter Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerung haben sich schon früh Vereinigungen (Gilden)
gebildet, welchen die Pflicht gegenseitiger Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hatten Statuten
und eigne Vorsteher.
Nach der EroberungEnglands durch die Normannen wurden die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerieten in Abhängigkeit
von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15. Jahrh. erhielten sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch
haben sie auch schon früher bei der eigenartigen Entwickelung der englischen Verfassung Einfluß auf die
öffentlichen Angelegenheiten gewonnen. Ihnen wurden bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihre Zustimmung
auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnen selbst überlassen.
In der Magna Charta ist jedoch nur London
[* 41] und sieben andern Städten oder Häfen ein Recht derTeilnahme amParlament zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städte bisweilen auf 200, doch hing die Berufung der städtischen Abgeordneten
von der Willkür der Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam für die Vertreter der Städte die Bezeichnung »Gemeine«
(communitas totius regni Angliae) auf; sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälaten ein zweites
Kollegium und erhielten einen Sprecher.
Ihr Hauptrecht war die Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen, andre zwei Vertreter zur Versammlung der Gemeinen,
wozu im 14. Jahrh. noch zwei Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh., besonders aber seit den
ZeitenElisabeths, hob sich mit dem wachsenden Wohlstand der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischen Städte hat jedoch
erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt und Industrie einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn
noch zu Ende des 17. Jahrh. gab es außer London, das damals ½ Mill. Einwohner zählte, nur zwei Städte
(Bristol und Norwich)
[* 42] mit 30,000 und vier andre mit mehr als 10,000 Einw.
Bevölkerungsverhältnisse.
Naturgemäß bildet die S. vorzüglich den Standort für Handel und Gewerbe, welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinem
Flächenraum nicht allein gestatten, sondern in derselben eine vorzügliche Stütze für Gedeihen und Weiterentwickelung finden,
während die auf die Bebauung der
Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuung der Bevölkerung über das ganze
Land hin bedingt. Land und S. versorgen einander gegenseitig. Demnach können große Städte, welche stets der Zufuhr von
Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.) bedürfen, nur bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für sie genügend
entwickelt sind.
Darum sind solche Städte früher vornehmlich an Meeresküsten und schiffbaren Strömen entstanden. Zwar
hatte auch das Altertum seine Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nur verhältnismäßig klein sein. Und im Mittelalter
bis zum 19. Jahrh. trat in den meisten europäischen Ländern die städtische Bevölkerung gegenüber der ländlichen erheblich
zurück. Eine wesentliche Änderung wurde in dieser Beziehung durch die Fortschritte der modernen Technik
und insbesondere des Verkehrswesens herbeigeführt.
Die städtische Bevölkerung wächst in größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durch Zuzug als diejenige des flachen Landes.
Als Folge dieses Umstandes läßt sich in den Städten eine stärkere Besetzung der Altersklassen von 15-35 Jahren
wahrnehmen. So enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter 15 Jahren im DeutschenReich 35, in einer Reihe größerer
deutscher Städte nur 25; für die Alter von 20-30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, für die Alter von 30-40 Jahren: 13 u.
16, für die Alter über 40 Jahren dagegen: 25 u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallend
erscheinen, wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahl verhältnismäßig hoch sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar
vornehmlich, weil hier die gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl der unehelichen Geburten und der Sterbefälle
in den meisten Städten relativ größer als auf dem Land.
in socialer Hinsicht der Gegensatz zum Land. Die Einteilung der Wohnorte in städtische
und ländliche bietet insofern Schwierigkeiten, als die charakteristischen Merkmale nicht immer bestimmt hervortreten. Die
ehemals die S. von der Dorf- und Landgemeinde unterscheidenden Merkmale sind jetzt zum großen Teil in Wegfall gekommen. Die
Gräben, Thore, Mauern sind gefallen, und den ausschließlichen Besitz des Marktrechts und zunftmäßigen Gewerbebetriebes der
S. hat die moderne Gesetzgebung ebenso beseitigt wie die meisten sonstigen Unterschiede zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen
Stellung des Städters und des Landmanns.
Die rechtliche Qualität eines Ortes als Stadtgemeinde kann hier nicht ausschließlich maßgebend sein, denn es giebt große
Dörfer mit durchaus städtischem Charakter, wie z. B. die Vorstadtdörfer mancher
Großstädte, und andererseits Orte mit Stadtrechten, welche nur wenige hundert Einwohner zählen und einen rein ländlichen
Charakter tragen. Auch die in der Socialwissenschaft früher übliche Trennung vonS. und Land je nach der vorwiegend gewerblichen
oder landwirtschaftlichen Berufsthätigkeit der Ortseingesessenen ist gegenwärtig vielfach nicht mehr zutreffend, nachdem
die Großgewerbe auf dem Lande immer ausgedehntere Verbreitung gefunden haben, und zwar sowohl infolge des
Übergangs vieler hausindustrieller Gewerbszweige zur Großindustrie und des Aufblühens der technischen Nebengewerbs der
Landwirtschaft,
als auch namentlich infolge der Entwicklung des Transport- und Verkehrswesens, welches in Verbindung mit dem Vorteil
der Benutzung billiger ländlicher Grundstückspreise und Arbeitskräfte zahllose industrielle Anlagen
auch außerhalb der größern S. ins Leben gerufen hat. Die Statistik pflegt, nach franz. Vorgang, alle Orte mit einer Zahl
von 2000 und mehr Einwohnern als S., alle kleinern Orte dagegen als zum Lande gehörig zu behandeln.
Gewisse Großgewerbe siedeln sich mit Vorliebe in den größeren Orten an. Schon die völlige Abhängigkeit
des städtischen Lebensbedarfs von den auswärtigen Zufuhren, ferner Bauthätigkeit, Straßenunterhaltung und Straßenverkehr,
das Beleuchtungswesen nebst den sonstigen specifisch städtischen Einrichtungen geben vielen Erwerbszweigen Beschäftigung.
Als Sitz der mannigfachen Anstalten für Kunst und Wissenschaft, Unterrichtswesen, Wohlfahrts- und Vergnügungszwecke erwecken
die S. in ihrer Bevölkerung materielle und geistige Bedürfnisse, welche dem Lande mehr oder weniger fremd
sind.
Ferner sind die Bewohner der S., als der Mittelpunkte des unter dem Druck scharfer Einzelkonkurrenz stehenden Verkehrs, den
fortschrittlichen Ideenrichtungen und technischen Neuerungen günstiger als die mehr an den überlieferten Sitten und Gewohnheiten
hängenden Landleute; neue Anregungen finden dort leichter Aufnahme und günstigern Boden für weitere
Verbreitung. Die Armuts- und Sittlichkeitsverhältnisse sind hier von andern Faktoren beeinflußt und von andern Gesichtspunkten
aus zu beurteilen als dort.
Was die demographischen Gegensätze anbetrifft, so ist den Unterschieden in der allgemeinen Heirats-, Geburten- und Sterbeziffer
wegen der ungleichen natürlichen Zusammensetzung der Bevölkerung in S. und Land eine erhebliche Bedeutung
nicht beizumessen; bei Berücksichtigung des Alters und Geschlechts der beiderseitigen Bevölkerung zeigt sich indessen unter
anderm, daß die Sterblichkeit in den S. namentlich unter dem männlichen Geschlecht und aus den mittlern Altersstufen erheblich
größer ist als auf dem Lande. Bezüglich der Alterszusammensetzung der Bevölkerung lehrt die Statistik,
daß die mittlern Altersklassen in den städtischen Orten stärker besetzt sind als in den ländlichen, und daß der Anteil
jener Klassen an der Gesamtbevölkerung mit der Größe der Orte steigt. So waren 1890 in Preußen
[* 53] von der Bevölkerung im Alter:
Die stärkere Vertretung der mittlern Altersklassen in den größern S. ist darauf zurückzuführen, daß
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an der Abwanderung der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung in die größern Orte (s. Binnenwanderungen, Bd.
17) namentlich Leute im kräftigen, arbeitsfähigen Alter beteiligt sind. Über dieEinteilung der S. s. Bevölkerung.
Jener Wanderungszug nach den S. ist für die Gegenwart von außerordentlicher Bedeutung geworden, denn er bildet die allein
durchschlagende Ursache für die gewaltige Vermehrung der städtischen Bevölkerung während der letzten
Jahrzehnte. In dem Zeitraum 1885‒90 nahmen im DeutschenReiche die Mittelstädte um 17,29, die Großstädte um 17,79 Proz.
zu; hiervon entfallen nur 5,34 und 5,86 Proz. auf den natürlichen Zuwachs durch Überschuß der
Geburten über die Sterbefälle, dagegen 11,95 und 11,93 Proz. auf den
Gewinn durch die Zuwanderung. Die S. von über 20000 E. hatten 1871‒75 einen Zuwachs von 3,06, in den folgenden Jahrfünften
von 2,39, 2,24, 2,87 und (1890‒95) von 2,20 Proz. zu verzeichnen. Ähnliche Verhältnisse zeigen
die übrigen Kulturländer.
Dieser "Zug
nach der S.», wie er in dem starken Anwachsen
unserer Großstädte zum Ausdruck kommt, ist eine durchaus moderne Erscheinung. Abgesehen von der auf ganz eigenartige sociale
und wirtschaftliche Ursachen zurückzuführenden Bevölkerungsentwicklung der Stadtrepubliken im klassischen Griechenland und
der S. Rom zur Zeit des Kaiserreichs, hatte nur das spätere Mittelalter, insbesondere das 14. und 15. Jahrh.,
den heutigen ähnliche Verhältnisse aufzuweisen, insofern auch damals ein stetes Abströmen des ländlichen
Bevölkerungsüberschusses in die S. erfolgte.
Indessen reicht die Bedeutung dieses Vorgangs an die neuzeitliche Entwicklung nicht heran. Selbst die hervorragendsten deutschen
S. des spätern Mittelalters sind an Einwohnerzahl weit kleiner gewesen, als man bis vor kurzem anzunehmen geneigt
war. Berühmte Handelsplätze, wie Nürnberg,
[* 55] Straßburg und Basel,
[* 56] waren gegen Ende des 15. Jahrh. bescheidene Mittelstädte von 15000 bis 20000 E.
Unter überaus günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen haben die deutschen S. allerdings während des 16. Jahrh.
bedeutend zugenommen; aber es ist als feststehend anzusehen, daß kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges
keine der damaligen S. über 60000 E. gehabt hat. Großstädte im modernen Sinne gab es damals nicht. Bekanntlich wurde durch
jenen Krieg die kulturelle EntwicklungDeutschlands
[* 57] jäh unterbrochen und die Bevölkerung in E. und Land stark verringert. Wie
hierin während des 18. Jahrh. eine allmähliche Besserung Platz griff, läßt sich
bei dem Mangel an jeder sichern statist. Grundlage mehr vermuten als im einzelnen nachweisen.
Erst seit dem Beginn des 19. Jahrh. gestattet die damals begründete amtliche Statistik genauere Feststellungen über die
Volkszahl in S. und Land. Vergleichbare Angaben reichen aber nicht hinter die Mitte des 19. Jahrh.
zurück. Über die Verschiebung der städtischen und ländlichen Bevölkerung des DeutschenReichs s. Bevölkerung.
In Preußen betrug der Anteil der in den Stadtgemeinden lebenden Einwohner 1849: 20,52, 1858: 29,61, 1804: 31,10, 1871: 32,33,
1875: 34,18, 1880: 35,59, 1885: 37,27, 1890: 39,35 und 1895: 40,73 Proz.;
in Frankreich betrug die Volkszahl aller Gemeinden
mit mehr als 2000 E. 1846: 24,42, 1851: 25,52, 1856: 27,31, 1861: 28,86, 1866: 30,46, 1872: 31,06, 1876:
32,44, 1881: 34,76, 1886: 35,95 und 1891: 37,4 Proz. der Gesamtbevölkerung;
bei gleichbleibender Zunahme dürfte
die städtische
Bevölkerung 1920 die Stärke
[* 58] der ländlichen erreichen. In Österreich
[* 59] beherbergten die städtischen Wohnplätze (von 2000 und
mehr E.) 1843 kaum den fünften Teil, 1890 aber bereits ein Drittel der ganzen Bevölkerung des Staates.
In England machte die städtische Bevölkerung schon 1850 die Hälfte, gegenwärtig dagegen drei Viertel der Gesamtheit aus.
Hier ist also, dank der außerordentlich starken überseeischen Einwanderung, nicht nur eine beispiellose Zunahme der städtischen,
sondern auch eine sehr starke Zunahme der ländlichen Bevölkerung erfolgt.
Allgemein zeigt sich, daß die größern S. verhältnismäßig weit stärker zunehmen als die kleinern, und daß namentlich
die sog. Landstädte unter dem Einfluß der modernen wirtschaftlichen Entwicklung vielfach stark zurückgeblieben sind.
Für die europ. Kulturstaaten sind die Ursachen der hier angedeuteten Verschiebung, sofern dieselbe auf dem
Zuzug vom Lande in die S. beruhen, in erster Linie auf die günstigere wirtschaftliche und sociale Lage der groß- und kleingewerblichen
Arbeiterklassen in den S. gegenüber derjenigen der landwirtschaftlichen Bevölkerung auf dem platten Lande zurückzuführen,
ein Gegensatz, welcher durch die kritische Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes neuerdings erheblich
verschärft worden ist.
Während sich in den S. die Nachteile der Bevölkerungsanhäufung in Gestalt der Arbeitslosigkeit und der Wohnungsnot mehr
und mehr als sociale Probleme geltend machen, mangelt es in der Landwirtschaft immer fühlbarer an tüchtigen Arbeitern, welche
letztere durch den Zug
nach den großstädtischen und industriellen Bezirken dem Lande gegenwärtig in einem
Maße entzogen werden, das den thatsächlichen Bedürfnissen der Industrie längst nicht mehr entspricht.
Abgesehen hiervon wird man es aber als erfreulich betrachten dürfen, daß unter unsern modernen Rechts- und Kulturverhältnissen
das Aufsuchen der günstigern Lebensbedingungen so außerordentlich erleichtert worden ist und durch eine engere Mischung
des städtischen und ländlichen Elements und der verschiedenen Stammesangehörigen die Vereinheitlichung des Volkscharakters
gefördert und das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit gestärkt wird. - Über Einnahmen und Ausgaben einiger Großstädte
s. Gemeindehaushalt. Das starke Anwachsen der großstädtischen Bevölkerung hat der Frage einer planmäßigen Erweiterung
der städtischen Bebauungsgebiete eine besondere Bedeutung verlieben (s. Stadterweiterungen).
Geschichtliches. Abgesehen von den Chinesen und andern Völkern des östl. und südl. Asiens waren es die Babylonier, Ägypter,
Phönizier und Griechen, die zuerst daheim und in der Fremde S. anlegten. Bei den Babyloniern und Ägyptern dienten sie vorzugsweise
als feste Plätze, bei den Phöniziern und Griechen dem Handel, und bezeichnenderweise gingen nur aus
diesen die
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mehr
berühmten Städterepubliken hervor. In Italien erwuchs Rom unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen zur Herrin der
Mittelmeerwelt und prägte seinem Reiche vorwiegend den Charakter städtischer Kultur auf. In dem ganzen Bereich röm. Herrschaft
wurden S., wo solche nicht bereits bestanden, neu angelegt, so namentlich auch seit KaiserAugustus in den unterworfenen Teilen
von Deutschland, da den Germanen im Gegensatz zu den Kelten die Sitte des städtischen Zusammenwohnens verhaßt war.
Eine große Zahl der S. im westl. und südl. Deutschland, von Köln bis Basel
und von Augsburg bis Wien, verdankt so röm. Lagern
und Kastellen ihre Entstehung. Die Stürme der Völkerwanderung bereiteten den meisten den Untergang; aber
nach der Errichtung des Frankenreichs erstanden sie mit dem Vordringen des Christentums und den Anfängen von Handel und Gewerbe
zu neuem Leben, während der Andrang der slaw., normann. und magyar.
Feinde im 9. und 10. Jahrh. auch im übrigen Deutschland die Errichtung von festen Plätzen veranlaßte,
unter deren Schutz allmählich städtisches Leben erwuchs. Zu ihnen gesellte sich schließlich im 12. und 13. Jahrh.
die nicht minder zahlreiche Gruppe der fürstl.
Neugründungen, sowohl im Innern von Deutschland(Freiburg
[* 63] i. Br., Bern
[* 64] u. a.) als auch in den den
Slawen abgewonnenen Gebieten, an den Ostseegestaden von Lübeck bis Reval,
[* 65] in den Landen zwischen Elbe und
Weichsel und in Schlesien.
[* 66] Jede ältere S. wurde anfangs durch herrschaftliche Beamte (Grafen oder Vögte) verwaltet, hatte
aber nicht eher volle rechtliche Selbständigkeit, als bis sich in ihr eine eigene Verfassung und Verwaltung ausgebildet hatte,
an deren SpitzeBürgermeister und Räte standen. Doch konnte diese Selbstverwaltung meist nur durch Kampf
mit den Stadtherren, insbesondere den Bischöfen, errungen werden. Die neuen Verhältnisse in den S., die sich hiernach ausbildeten,
wurden dann durch besondere Statuten oder Stadtrechte (s. d.) geregelt.
Am frühesten trat diese Entwicklung in Italien ein. Als das reformierte Papsttum im 11. Jahrh. daran ging, die
Selbständigkeit des Episkopats zu brechen, verbündete es sich mit der Pataria (s. d.) zum Sturz der bischöfl. Herrschaft
in den S. und erreichte diesen Zweck unter heftigen Kämpfen. Die Bischöfe verloren ihre Rechte, und Verwaltung wie Gerichtsbarkeit
gingen seit Ausgang des 11. Jahrh. an selbstgewählte Vorsteher (Consules) der S. über. Gleichzeitig
vereinigten sich die S. zu Städtebünden, die diese Errungenschaften gegen Bischöfe und Kaiser verteidigen sollten, und nach
hundertjährigem Kampfe erzwang der Lombardische Bund 1183 den Frieden von Konstanz,
[* 67] der zwar die Zugehörigkeit der S. zum
Reich anerkannte, ihnen jedoch die Selbständigkeit im Innern sicherte.
Von Italien griff die städtische Bewegung alsbald nach Süd- und Nordfrankreich, Flandern und Deutschland
hinüber. Doch gelangten die S. im allgemeinen nur in Deutschland zu derselben selbstherrlichen Stellung wie in Italien, teils
durch Abschüttelung der bischöfl. Herrschaft, teils durch den Wegfall der herzogl. Gewalt,
wie in Schwaben nach dem Aussterben der Staufer, teils durch die Zerrüttung der königl. Macht. Während
aber die ital. Republiken ihre Freiheit seit dem 13. Jahrh. durch innere Parteiungen zu Gunsten einzelner Herren einbüßten,
gelang es den deutschen S., zum Teil mit Hilfe umfassender
Bünde (Hansa, Rheinischer Städtebund, Schwäbischer Bund), sich die
Selbständigkeit über das Mittelalter hinaus zu erhalten (s. Reichsstädte und
Freie Städte).
Auch ihre Blüte erlosch sowohl infolge der Entdeckung Amerikas und der Auffindung neuer Handelswege, als infolge der Verwüstungen
des Dreißigjährigen Krieges und der Erstarkung der fürstl. Gewalt. Die im Mittelalter weniger bedeutsamen holländischen
und dann die englischen S. traten im 17. und 18. Jahrh. an die Spitze der gesamtstädtischen Entwicklung,
und erst im 19. brach die Städteordnung (s. d.) des Freiherrn vom Stein vom dem Städtewesen zunächst in Preußen
neue Bahn, das seitdem durch die veränderten Produktions- und Verkehrsverhältnisse wiederum einen gewaltigen Aufschwung
nahm.
Litteratur. Hüllmann, Städtewesen im Mittelalter (4 Bde., Bonn 1825-29);
Warnkönig, Flandr. Staats-
und Rechtsgeschichte (3 Bde., Tüb.
1834-39);
Hegel, Geschichte der Städteverfassung in Italien (2 Bde., Lpz. 1847);
Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen
Freistädte (2 Bde., Gotha
[* 68] 1854);
Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum (Lpz. 1859);
J.
Jastrow, Die Volkszahl deutscher S. zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Berl. 1886);
Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (2. Aufl., Wien 1889);
von Below, Die Entstehung der deutschen
Stadtgemeinde (Düsseld. 1889);
ders., Der Ursprung der Stadtverfassung (ebd. 1892);
Sohm, Die Entstehung
des deutschen Städtewesens (Lpz. 1890);
Kallsen, Die deutschen S. im Mittelalter. I. Gründung und Entwicklung der S. (Halle
[* 71] 1891);
Hegel, S. und Gilden der german. Völker im Mittelalter (2 Bde., Lpz.
1891);
Heinr. Rauchberg, Der Zug
nach der S. (in der «Statist. Monatsschrift», Wien 1893);
A. Wirminghaus,
S. und Land unter dem Einfluß der Binnenwanderungen (in den «Jahrbüchern
für Nationalökonomie und Statistik», 3. Folge, Bd. 9, Jena
[* 72] 1895);
Oberrhein. Stadtrechte (hg. von der badischen Historischen
Kommission, Heidelb. 1895fg.);
Rietschel, Markt und S. in ihrem rechtlichen Verhältnis (Lpz. 1897);
Boos, Geschichte der rhein.
Städtekultur (Tl. 1., Berl. 1897).