Titel
Schädellehre
[* 1] (Kraniologie), die Lehre [* 2] vom menschlichen Schädel in anthropologischer Hinsicht, wurde nach dem Vorgang von Camper, Blumenbach, Prichard, Geoffroy Saint-Hilaire, Spix, Morton u. a. von Retzius begründet, welcher, auf die Profilbildung des Gesichtsschädels u. die Form des Hirnschädels gestützt, eine Klassifikation der Schädel erreichte, die, vielfach modifiziert, fast sämtlichen neuern Systemen zu Grunde liegt. Camper fand ein Maß für die Bestimmung des mehr oder weniger starken Hervorspringens der Mundpartie über das Stirn- und Obergesichtsprofil in gewissen Gesichtslinien (s. d.), und Prichard nannte die Schädel, deren Mundpartie infolge der schrägen, nach vorn gerichteten Stellung der Zähne, [* 3] bez. Kiefer schnauzenartig vorspringt, prognath im Gegensatz zu den orthognathen.
Indem Retzius diese Bezeichnungen annahm, benutzte er, um die Form der Schädelkapsel mathematisch auszudrücken, das Verhältnis zweier Durchmesser derselben, eines größten Längsdurchmessers, von der Unterstirn bis zum hervorragendsten Punkte des Hinterhaupts gezogen, und eines Breitendurchmessers, nämlich die größte Breite [* 4] der Schädelkapsel senkrecht zur Länge gemessen. Beide Maße lassen sich bei der Betrachtung des Schädels von oben gleichzeitig überblicken und vergleichen und lassen, je nachdem die Länge die Breite mehr oder weniger übertrifft, die Form der Schädelkapsel bald mehr längsoval, bald annähernd kreisförmig erscheinen. Als Längen-Breitenindex (I) des Schädels bezeichnet man das Verhältnis beider Maße zu einander, das Längenmaß = 100 gesetzt (L:Br = 100:1, I = (Br × 100) / L).
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In dieser Weise unterschied Retzius Langschädel oder Dolichokephalen und Kurzschädel oder Brachykephalen und gelangte unter Mitbenutzung des Gesichtswinkels zu vier Gruppen: ortho- und prognathe Dolichokephalen und ortho- und prognathe Brachykephalen. Welcker und Broca fixierten noch eine Mittelgruppe zwischen Dolicho- und Brachykephalen, nämlich die Orthokephalen (W) oder Mesokephalen (Br). Die spätern Systeme charakterisieren sich wesentlich durch die eigenartige Messung der Hauptdurchmesser und durch die der Messung zu Grunde gelegte Aufstellung des Schädels, die sogen. Horizontale.
Man versteht darunter diejenige Haltung des Schädels, welche der lebende stehende Mensch bei Betrachtung des natürlichen Horizonts einnimmt, wobei die Augenachsen horizontal gerichtet sind. Je nach der gewählten Aufstellung des Schädels muß das Messungsergebnis gewisser Durchmesser, namentlich der Höhe, ein sehr verschiedenes sein. Die gebräuchlichsten Horizontalen sind:
1) der Plan alvéolo-condylien Brocas, eine Ebene, welche durch den vorstehendsten Punkt der untern Fläche der Gelenkfortsätze des Hinterhauptsbeins nach dem untern Rande des Alveolarfortsatzes des Oberkiefers zwischen den Schneidezähnen geht (französisches Meßverfahren);
2) die sogen. Göttinger Horizontale, durch den obern Rand des Jochbogens gehend;
3) Jherings Horizontale: unterer Augenhöhlenrand, Mitte der äußern knöchernen Ohröffnung;
4) deutsche Horizontale (1877 vereinbart und von fast allen deutschen Anthropologen angenommen): oberer Rand der knöchernen Ohröffnung, senkrecht über der Mitte und tiefste Stelle der untern Kante des Augenhöhlenrandes [* 1] (Fig. 1 h h). Die Hauptmaße nach der sogen.
[* 1] ^[Abb.: Fig. 1. Mesokephaler Schädel in der Seitenansicht (Norma lateralis)]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 2. Langschädel in der Seitenansicht]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 3. Der mesokephale Schädel, von oben gesehen (Norma verticalis)]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 4. Der mesokephale Schädel in der Vorderansicht (Norma frontalis)] ¶
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Frankfurter Vereinigung lassen [* 5] Fig. 1-4 erkennen. Aus der Vergleichung der entsprechenden Maße ergeben sich dann folgende Indices:
100 × Breite : (geteilt durch) Länge = Längenbreitenindex,
100 × Höhe : Länge = Längenhöhenindex,
100 × Gesichtshöhe : Jochbreite = Jochbreitengesichtsindex,
100 × Obergesichtshöhe : Jochbreite = Jochbreitenobergesichtshöhenindex,
100 × Augenhöhlenhöhe : Augenhöhlenbreite = Augenhöhlenindex,
100 × Nasenöffnungsbreite : Nasenhöhe = Nasenindex,
100 × Gaumenbreite : Gaumenlänge = Gaumenindex.
Eine internationale Vereinigung über Gruppeneinteilung und Bezeichnung der Schädelindices vom J. 1886 teilt die Schädel in folgender Weise ein:
1) Dolichokephale Hauptgruppe:
2. " « 60,0-64,9 Ultra-Dolichokephalie
3. " « 65,0-69,9 Hyper-Dolichokephalie
4. " « 70,0-74,9 Dolichokephalie.
2) Mesokephale Hauptgruppe:
5. Gruppe: Index 75,0-79,9 Mesokephalie.
3) Brachykephale Hauptgruppe:
6. Gruppe: Index 80,0-84,9 Brachykephalie
7. " « 85,0-89,9 Hyper-Brachykephalie
8. " « 90,0-94,9 Ultra-Brachykephalie
9. " « 95,0-99,9.
Außer den angeführten Maßen werden noch allgemein die den Schädelumfang betreffenden Maße (Sagittal-, Horizontal-, Querumfang) und zwar mit dem Bandmaß genommen.
Die Kapazität, d. h. der Rauminhalt der Schädelhöhle, gestattet vergleichsweise wichtige Schlüsse auf die Größe des Gehirns und ist daher ebenfalls Gegenstand der Bestimmung. Zur Ausführung füllt man Sand, Hirse, [* 6] Kanariensamen, Schrot durch das Hinterhauptsloch in den Schädelraum ein und bestimmt die Mengen dieser Substanzen durch Ausgießen in einem Maßcylinder. Die Fehlerquellen dieser Methoden sind bedeutend, und ein Vergleich der auf verschiedene Weise gewonnenen Zahlen ist nicht ohne weiteres statthaft.
Für die europäische Bevölkerung [* 7] nimmt man als Maximum 1800-2000 ccm, als Minimum 1000-1100 ccm Schädelinhalt an. Nach Welcker haben die germanischen Völker, die Kelten, Romanen, Griechen eine mittlere Kapazität von 1400-1500 (ähnlich auch die Slawen), die semitischen und hamitischen Völker 1250-1470 (obenan Juden, Araber), die Mongolen 1320-1490, die Malaien 1350-1450, die Papua 1370-1460, die Australier 1320, die Neger 1300-1400 (Buschmänner nur 1244), die vorderindischen Völker 1260-1370, die Amerikaner 1300-1450 ccm. Die Kapazität des weiblichen Schädels ist im allgemeinen geringer als die des männlichen. Endlich scheint die Schädelkapazität im direkten Verhältnis zu der mittlern Körpergröße der Völker zu stehen.
Die gebräuchlichsten Meßinstrumente sind: der Virchowsche Stangenzirkel, der Tasterzirkel, das Bandmaß. Das Spengelsche Kraniometer ermöglicht die Bestimmung der Höhe, Breite und Länge sowie des Profilwinkels zu gleicher Zeit mit Rücksicht auf eine bestimmte Horizontale. Rankes Goniometer dient gleichen Zwecken. Eine sehr wichtige Rolle spielt die bildliche Darstellung der Schädel, in erster Linie durch gute Photographien und durch das geometrische Verfahren Lucäs.
Letzteres gestattet eine landkartenartige Aufnahme des Schädels, so daß die mit der Papierfläche parallelen Durchmesser unverkürzt zur Darstellung kommen und auf der Zeichnung gemessen werden können.
Vgl. Retzius in Müllers »Archiv« 1845, 1848, 1849, 1853; Lucä, Zur Morphologie der Rassenschädel (Frankf. 1861-64);
Welcker, Untersuchungen über Wachstum und Bau des menschlichen Schädels (Leipz. 1862);
His u. Rütimeyer, Crania helvetica (Basel [* 8] 1864);
Ecker, Crania Germaniae (Freib. 1863-65);
v. Hölder, Zusammenstellung der in Württemberg [* 9] vorkommenden Schädelformen (Stuttg. 1877);
Virchow, Zur physischen Anthropologie der Deutschen (in den »Gesammelten Abhandlungen etc.«);
v. Baer, Crania selecta (Petersb. 1859);
Ranke, Der Mensch (Leipz. 1886, 2 Bde.);
Benedikt, Kraniometrie und Kephalometrie (Wien [* 10] 1888).
[Phrenologie.]
Unter S. (Kraniologie, Kranioskopie, Phrenologie) versteht man auch die von Gall (s. d.) herrührende Lehre von der Erkenntnis der menschlichen Geistesanlagen aus den Hervorragungen der Schädeloberfläche. Nach dieser von Spurzheim, Carus, Scheve u. a. weiter ausgebildeten Lehre ist das Gehirn, [* 11] das Organ für alle geistigen Verrichtungen, nicht bei jeder einzelnen Geistesthätigkeit mit seiner ganzen Masse aktiv, sondern jede besondere Geistesverrichtung kommt vermittelst eines besondern Teils (Organs) desselben zu stande, so daß das Gehirn als ein Inbegriff von Organen erscheint, die teils den verschiedenen Äußerungen des Begehrungsvermögens, teils den Thätigkeiten des Erkenntnisvermögens dienen.
Die geistigen Fähigkeiten vergrößern oder vermindern sich mit den entsprechenden Hirnteilen, so daß sich die Energie eines bestimmten Seelenvermögens aus der räumlichen Entwickelung des betreffenden Hirnteils erkennen läßt. Dies kann aber am Lebenden geschehen, da die Organe des Gehirns auch die äußere Form der Schädelknochen bestimmen und Hervorragungen, Buckel und Vertiefungen erzeugen. Die Phrenologen unterscheiden einige dreißig geistige Anlagen oder Grundkräfte des Geistes und glauben für dieselben bestimmte Teile des Gehirns nachweisen zu können.
Nun hat die neuere Physiologie die Lokalisation der einzelnen Hirnfähigkeiten in der That nachgewiesen; außer gewissen Bewegungszentren ist aber nur das Sprachzentrum aufgefunden worden, und die Behauptungen der Phrenologen erscheinen um so haltloser, als die äußern Schädelumrisse keineswegs den Umrissen des Gehirns entsprechen.
Vgl. Gall und Spurzheim, Anatomie et physiologie du système nerveux (Par. 1810-20, 4 Bde.; 2. Aufl. 1822-25);
Combe, System of phrenology (5. Aufl., Lond. 1843; deutsch, Braunschweig [* 12] 1833);
Carus, Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Kranioskopie (Stuttg. 1841);
Noël, Grundzüge der Phrenologie (2. Aufl., Leipz. 1856);
Derselbe, Die materielle Grundlage des Seelenlebens (das. 1874);
Carus, Atlas [* 13] der Kranioskopie (2. Aufl., das. 1864);
Wittich, Physiognomik und Phrenologie (Berl. 1870);
Scheve, Katechismus der Phrenologie (7. Aufl., Leipz. 1884).
Eine ausgezeichnete vorurteilslose Kritik der Gallschen S. gab Hyrtl in seiner »Topographischen Anatomie«.