Sardou
(spr. ssarduh), Victorien, franz. Bühnendichter, geb. zu Paris, [* 3] trieb erst medizinische Studien, fühlte sich aber bald zur Litteratur hingezogen und machte, während er sich mit Lektionen kümmerlich ernährte, seinen ersten Versuch als Theaterdichter mit »La taverne des étudiants« (1854),
welche auf dem Odéon total durchfiel. Durch seine Verheiratung mit der Schauspielerin Brécourt trat er in Beziehungen zu der berühmten Déjazet, die sein Talent erkannte und sich von ihm in »Monsieur [* 4] Garat« und »Les prés Saint-Gervais« (1860) zwei Paraderollen schreiben ließ, die sich dauernd auf dem Repertoire erhalten haben. Den Beifall eines gewähltern Publikums errang er dann zuerst im Gymnase mit dem Lustspiel »Les pattes de mouche« (1861; in Deutschland [* 5] unter dem Namen: »Der letzte Brief« bekannt), das bereits alle großen Vorzüge und kleinen Schwächen des Verfassers offenbart.
Mit Scribe teilt S. die erstaunliche Fertigkeit der Mache und die Oberflächlichkeit der Empfindung; dagegen überragt er ihn in dem Witz des Dialogs und in der Kunst, den Zeitgenossen ihre Fehler abzusehen und, wenn auch nicht in durchgearbeiteten Charakteren, so doch in lustigen und prägnanten Typen vorzuhalten. Diese Kunst bewährte er in einer langen Reihe von Stücken, die fast ebensoviel Bühnenerfolge waren, und von denen wir als die bedeutendsten anführen: »Piccolino«, »Nos intimes« und »Les Ganaches« (1861),
letzteres eine etwas liebedienerische Satire auf die »alten Parteien«;
»La papillonne« (1862 von dem Parterre des Théâtre-Français wegen seiner Schlüpfrigkeit zurückgewiesen und 1880 im Gymnase als vergleichsweise sehr harmlos applaudiert);
»Les diables noirs« (1863),
das Zauberstück »Don Quichotte« und die Posse »Les pommes du voisin« (1864);
»Les vieux garçons« und »La famille Benoîton«, eine scharfe Verhöhnung der Sitten des zweiten Kaiserreichs (1865);
»Nos bons villageois«, worin die falsche Gemütlichkeit des Landlebens gegeißelt wird, und »Maison neuve«, gegen die Haußmannsche Stadtverschönerung gerichtet (1866);
»Séraphine«, ein Bild weiblicher Scheinheiligkeit (1868);
»Fernande« (1870);
»Rabagas«, ein dramatisches Pamphlet, für dessen Helden politische Parvenüs aller Parteien, namentlich aber Emile Ollivier und Gambetta, Modell sitzen mußten, daher die Aufführungen im Vaudeville regelmäßig zu Demonstrationen Anlaß gaben (1872);
»L'oncle Sam«, ein etwas schiefes nordamerikanisches Familien- und Charakterbild, und »Les Merveilleuses«, eine Sittenstudie aus der Zeit des Direktoriums (1873);
»Ferréol« (1875);
»Dora« (1877);
»Les bourgeois de Pont-Arcis« (1878);
endlich »Daniel Rochat«, der den freilich sehr äußerlich aufgefaßten Kampf zwischen Freigeisterei und Rechtgläubigkeit zum Vorwurf hat (1880);
»Divorçons«, eine Verspottung der Ehescheidung (1881);
»Odette« (1882);
die im modernen Rußland spielende »Fédora« (1883) und »Théodora« (1884),
worin eine Episode aus der Regierungszeit Kaiser Justinians und seiner entarteten, aus dem Zirkus stammenden Gemahlin Theodora behandelt wird;
das Ausstattungsstück »Le [* 6] Crocodile« (1886) und das Schauerdrama »La Tosca« (1887),
dessen Titelrolle Sarah Bernhardt auf den Leib geschrieben war.
Außerdem sind noch zwei Dramen von etwas höherm Flug zu nennen: »Patrie« (1869),
ein großartig angelegtes Gemälde aus der Zeit der Befreiung der Niederlande [* 7] und »La haine« (1874),
ein Nachtstück aus den Kämpfen der italienischen Adelsgeschlechter im Mittelalter, von denen jedoch nur das erstere einen äußern Erfolg hatte. Auch hat er eine Anzahl Operntexte sowie einige Novellen (z. B. »La perte noire«) verfaßt. S. ist seit 1877 Mitglied der Akademie und bewohnt in der Ortschaft Marty, deren Maire er ist, einen fürstlichen Landsitz.
Vgl. Gottschall, Porträts und Studien, Bd. 4 (Leipz. 1871);
Montégut in der »Revue des Deux Mondes« (1877);