Titel
Romān,
ursprünglich bei den roman.
Völkern des
Mittelalters auf dem
Boden des ehemaligen römischen
Reichs jede größere
erdichtete oder doch dichterisch ausgeschmückte Profanerzählung, so genannt, weil sie im
Gegensatz zu der (im
Lateinischen
als der
Schul- und
Kirchensprache abgefaßten) geschichtlichen
Chronik und
Heldensage einerseits, der biblischen Geschichte und
der kirchlichen
Legende anderseits in der Volkssprache (lingua romana
) abgefaßt ward.
Dieser
Name ging dann allmählich auf die gesamte heute so benannte und beliebte epische Dichtgattung über. Das
Charakteristische
der letztern liegt im ästhetischen
Sinn darin, daß sie, im
Gegensatz zum
Epos (s. d.) und zum
Märchen (s. d.), nur ein natürliches
Geschehen, dieses aber, im
Gegensatz zur
Erzählung (s. d.), unter dem
Schein des Wunderbaren darstellt.
Von der
Novelle (s. d.), welche dasselbe thut, unterscheidet sich der Roman
dadurch,
daß jene nur eine einzige (ebendarum um ihrer »Neuheit« willen ausgesuchte)
Begebenheit, dieser dagegen eine ganze
Reihe in der Zeit aufeinander folgender Begebenheiten umfaßt, welche
untereinander wohl (episch) durch die
Einheit der
Person, aber nicht eben (dramatisch) durch die
Einheit der
Handlung zusammenhängen
müssen.
Der Träger [* 2] derselben (der »Held« des Romans) hat mit den Helden des Epos, des Märchens und der Erzählung die Abhängigkeit seiner Schicksale von Mächten, die nicht seinem Willen unterworfen sind, gemein, unterscheidet sich aber dadurch von denselben, daß die beherrschenden Mächte im Epos nicht nur übernatürlich scheinende, sondern wirklich übernatürliche, im Märchen widernatürliche, aber natürlich scheinende, in der Erzählung nicht nur natürliche, sondern auch als solche erkennbare, im R. dagegen zwar durchaus natürliche, aber mit dem Schleier des Geheimnisses und daher übernatürlich scheinende sind.
Der ist daher, was die
Annahme göttlicher
Führung betrifft, der
Antipode des
Epos, was dagegen den
Schein einer solchen und
den mystischen
Reiz des geheimnisvoll Wunderbaren betrifft, dessen nächster Verwandter: das wahre
»Epos des Unglaubens«. Während
das
Epos daher solchen Bildungsstufen und
Zeitaltern angehört, in welchen der
Glaube an die
Existenz einer
überweltlichen Macht und an die Möglichkeit des Eingreifens einer Götterwelt oder der
Gottheit in menschliche
Schicksale
lebendig und die Einmischung derselben natürlich ist, sagt der Roman
als epische Kunstgattung solchen Kulturstufen
und
Zeiten zu, bei welchen durch (wahre oder vermeintliche)
Bildung und
Aufklärung der
Glaube an Übernatürliches
(gänzlich oder doch in Bezug auf gewisse
Kreise
[* 3]
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von Erscheinungen, z. B. der Liebesleidenschaft) geschwunden, der Reiz des Übernatürlichen und die Sehnsucht nach demselben
aber geblieben ist, und dessen künstlich erneuerter Schein daher wohlgefällig fesselt. Lebensverwickelungen, welche den
Schein einer übernatürlichen Schickung erwecken, werden daher wohl »roman
haft«,
eine Gemütsstimmung, welche am Schein der Existenz eines Übernatürlichen Vergnügen findet, wird »roman
tisch«
genannt. Die Weltanschauung, die dem Roman
, der nur natürliche Ursachen des Verlaufs menschlicher Dinge gestattet, zu Grunde liegt,
ist durchaus nüchtern (philosophisch), jene, welche dem Epos, das Übernatürliches zuläßt, zu Grunde liegt, gehoben (theologisch).
Jener betrachtet alle Begebenheiten, die er erzählt, wie das Drama (s. d.), als unter dem Kausalgesetz, das Epos dagegen, kraft seines religiösen Standpunktes, als unter dem Willen einer höhern Macht stehend. Das Verhältnis des Helden des Epos zu der sein Schicksal leitenden Macht ist das eines Menschen zur Gottheit, eines Niedern zum Höhern, eines Dieners zum Herrn (oder Herrin: Achilleus und Pallas, Odysseus und Athene). [* 5] Das gleiche Verhältnis des Helden des Romans kann nur das eines Menschen zu sich selbst (seinem Naturell, seiner beherrschenden Leidenschaft) oder zu der ihn umgebenden Natur- und Menschenwelt sein.
Aus dem letztern Umstand entspringt die Einteilung der Romane
in Charakter- und Situationsromane
, je nachdem die natürliche
Ursache der Schicksale des Helden in dessen persönlichem (angebornem oder erworbenem) Naturell oder in dessen
äußerer natürlicher oder Menschenumgebung gelegen vorgestellt wird. Jener kann psychologisch heißen, wenn er das Schicksal
des Helden aus dessen Abhängigkeit von seiner Gesamtanlage, pathologisch, wenn er dasselbe aus dessen Beherrschtsein durch
einen einzelnen Charakterzug (eine Leidenschaft, z. B. die Liebe: Liebesroman
) zu erklären sucht.
Der Situationsroman
verlegt den Grund der Lebensereignisse entweder in die Natur (Einfluß der Natur auf Rousseaus »Neue Heloise«,
Goethes »Werther«) oder in die Gesellschaft, innerhalb deren er den Helden denkt (Gesellschaftsroman
, sozialer Roman). Je nachdem
die Situation, welche das Schicksal des Helden macht, als unabhängig von ihm gegeben oder mit Rücksicht
auf ihn durch andre (irdische Vorsehung) künstlich veranstaltet angenommen wird, zerfällt derselbe in zwei Klassen. Zu der
erstern gehören der Reiseroman, welcher den Lebenslauf des Helden unter dem Einfluß der örtlichen Natur, und der geschichtliche
Roman, welcher denselben unter dem Einfluß einer bestimmten Zeit- und Kulturepoche, zu der letztern
der pädagogische Roman (»Wilhelm Meister«),
welcher ihn unter dem Einfluß eines im geheimen thätigen, erziehenden Menschenbundes (»Unsichtbare Loge«, »Ritter vom Geist«) schildert. Noch sind von den Romanen mit einfacher Begebenheitsreihe (und einem einzigen Helden) die Romane mit zwei- und mehrfacher Reihe von Begebenheiten (zwei und mehreren Helden) zu unterscheiden, welche entweder, wie in dem von Gutzkow so genannten »Roman des Nebeneinander«, parallel (»Ritter vom Geist«, Heyses »Kinder der Welt«) oder (wie in Freytags »Ahnen«) nacheinander (in verschiedenen Generationen) ablaufen.
Sollen jedoch die Teile des Romans dabei nicht (in einen Novellencyklus, wie Steffens' »Vier Norweger«) auseinander fallen, so müssen die verschiedenen Helden untereinander entweder durch ein geistiges (wie in den »Rittern vom Geist«) oder durch ein Blutband (wie in den »Ahnen«) zusammenhängen. Hinsichtlich der sprachliche Form kann der Roman seiner Eposnatur halber ebensogut in gebundener (Becks und Schacks »Romane in Versen«) wie seiner nüchternen Grundansicht halber in ungebundener Rede abgefaßt sein, letztere ist bei weitem die vorwiegende.
Während das Epos, dessen waltende Macht eine Götterwelt ist, einen Heros (Achilleus, Odysseus, Rama, Rustem etc.) zum Helden hat, muß der Roman, dessen waltende Macht eine berückende Leidenschaft, der Einfluß des Ortes, der Zeit oder gar einer geheimen Gesellschaft ist, einen »Romanhelden« (oder Heldin) wählen, der sich von solchen beherrschen läßt. Diese menschliche Schwäche sowie der durchaus dem Kreis [* 6] der natürlichen Dinge entnommene Charakter der wirkenden Ursachen befähigen den Roman wie keine andre epische Dichtungsart (die Novelle ausgenommen), das Bild einer Welt wie die unsre (Welt des modernen Bewußtseins) gewürzt und belebt durch den Schein des Wunderbaren und mit dem Reiz der Spannung auf die natürliche Lösung des Rätsels zu entwerfen.
Wie daher einst das religiöse Bewußtsein das Bild der realen (seienden) wie das der idealen (sein sollenden) Welt episch in die Form des Epos, so faßt das moderne Bewußtsein beide in die Form des Romans, welcher dadurch eine lehrhafte Tendenz annimmt und auf das Gebiet der sogen. didaktischen Poesie (theoretische wie praktische Belehrung in Romanform) übertritt. In dieser Gestalt, welche den verschiedensten stofflichen Inhalt bequem aufzunehmen vermag, ist der Roman die gesuchteste und beliebteste Dichtgattung geworden, hat aber über dem mehr oder minder schwerfälligen Gehalt nicht selten den Reiz der poetischen Form eingebüßt.
Eine Einteilung desselben vom stofflichen Gesichtspunkt aus zu geben, ist ein hoffnungsloses Beginnen. Unterscheiden lassen sich allenfalls der realistische Roman, der die wirkliche Welt naturhistorisch (mit größter Treue, ohne Neid und ohne Gunst) schildert, und dessen Ausartung, der naturalistische Roman, das Schlechte in der bestehenden Welt nicht nur schonungslos schildert, sondern mit Vorliebe sucht (Zola), und der moralische oder Idealroman, der das Bild einer vollkommensten Welt ohne Rücksicht auf deren Realität ausmalt. Zu jener Gattung gehört nicht nur der sogen. historische Kultur- und zeitgenössische Sittenroman, deren ersterer die Menschheit irgend einer Kultur- und Bildungsstufe, deren letzterer seine (des Romanschriftstellers) Gegenwart mit minutiöser Sorgfalt porträtiert, sondern auch das sogen. Zukunftsbild oder das Romanidyll und der philosophische Roman, deren erstes das Bild der Welt ausmalt, wie es (der Ansicht des Autors nach) einst sein wird, während der andre den ewig gleichen Kern der Welt und des Menschen darzustellen sich vorsetzt. Zu dieser Gattung gehören die zahlreichen Tugend- und Fürstenspiegel sowie die Staatsutopien, Gesellschaftsikarien in Romanform, welche dazu bestimmt sind, dem Einzelnen und der Gesamtheit als Beispiel vorzuleuchten.
Wie durch die beiden vorgenannten Gattungen das unterrichtete, so betritt der Roman als moralisierender oder Tendenzroman das erziehende Gebiet, wobei er entweder (optimistisch) an die Möglichkeit des Gelingens des Besserungswerkes glaubt oder (pessimistisch) dessen Unmöglichkeit einsieht. Im erstern Fall sucht er strafend (satirischer Roman) oder spottend (komischer Roman) auf die Menschheit zu wirken; im letztern Fall gesellt sich zu dem an die Stelle des Zorns oder Spottes über die andern tretenden Mitleid mit deren Schwächen der Spott über sich selbst, dessen Thorheit das Unmögliche für möglich hielt (humoristischer ¶
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Roman). Aus der Einteilung nach dem Stand, Beruf etc. des Helden entspringen die Bezeichnungen: Ritter-, Räuber-, Schäfer-, Bauern-, Soldaten-, Seemanns-, Künstlerromane etc.
[Geschichtliches.]
Der Roman findet sich bei allen Völkern: im Orient bei Chinesen, Japanern, Arabern und Persern (Nisamis »Medschnun und Leila«, Dschamis »Jussuf und Suleika«);
bei den Griechen, wo ihm die sogen. Milesischen Märchen (Liebesgeschichten des Aristeides von Milet um 160 v. Chr.) als Vorläufer dienten, wie in der römischen Kaiserzeit.
Iamblichos (2. Jahrh. n. Chr.) schrieb die Liebesgeschichte der Rhodane und des Simonis, Achilleus Tatios (4. Jahrh.) jene des Klitophon und der Leukippe in blumenreichem, Longos das Urbild aller Schäferromane, »Daphnis und Chloe«, in anmutigem, Xenophon von Ephesos [* 8] und Chariton von Aphrodisias Novellen in einfachem Stil. Der erste wirkliche und kunstreiche Roman des Altertums ist Heliodoros' (aus Emesa) »Geschichte des Theagenes und der Charikleia«, die von Cervantes und Tasso benutzt und von Calderon auf die Bühne gebracht worden ist.
Vgl. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer (Leipz. 1876).
Aus der römischen Litteratur gehören des Petronius schmutziges, aber als Sittenbild der Neronischen Zeit interessantes »Satirikon« und des L. Apulejus (130 n. Chr.) »Goldener [* 9] Esel« oder »Metamorphosen« hierher, welches unter anderm die Geschichte Amors und der Psyche enthält, nach welcher Raffael seine Fresken in der Farnesina zu Rom [* 10] entworfen hat. Das christliche Mittelalter setzte der trocknen Chronik und der biblischen Wunder- wie der wunderbaren Heiligengeschichte die erdichtete (oder dichterisch ausgeschmückte) und profane, aber gleichfalls wunderbare Historie entgegen, die, wie erwähnt, von der Sprache [* 11] derjenigen Völker, bei denen sie zuerst auftrat (lingua romana), den Namen Roman empfing.
Neben »Romanen in Versen«, unter denen sich Hartmanns von Aue »Armer Heinrich«, Rudolfs von Ems [* 12] »Guter Gerhard von Köln« [* 13] und die nordfranzösische Liebesgeschichte von »Aucassin und Nicollette« (13. Jahrh.) auszeichnen, kommen die schlüpfrigen Contes und Fabliaux der französischen wandernden Minstrels und Jongleure (die Vorläufer der Novellen des Boccaccio und der Königin von Navarra) sowie die derben Schwänke der deutschen Hofnarren und fahrenden Sänger (Neidhart Fuchs, [* 14] Pfaff von Kahlenberg, Wernher des Garteners Dorfgeschichte »Meier Helmprecht«),
die Vorläufer der Schelmen- und Spitzbubenromane, auf, an welche sich die gespreizten allegorischen (»Roman de la rose«, 13. Jahrh.) und die phantastischen Ritterromane (des Vasco da Lobeira »Amadis von Gallien« im 14. Jahrh. und dessen zahllose Fortsetzer und Nachahmer, darunter Kaiser Max mit seinem »Weißkunig« und »Theuerdank«) anschließen, während die anmutige Darstellung des wirklichen Lebens in kunstvoller Prosa in Boccaccio (»Decamerone«),
Don Juan Manuel (»Graf Lucanor«) und deren Nachahmern (Chaucer in England, Margarete von Valois in Frankreich) ihre Meister fand. Mit der unübertroffenen Satire auf die Ritterromane, dem »Don Quichotte« (zuerst 1605) des Cervantes, beginnt die kunstmäßige Vollendung des Romans in Spanien [* 15] in humoristischer Gestalt, während Mendoza (gest. 1575) durch seinen »Lazarillo de Tormes«, Quevedo (gest. 1645) durch seinen »Großen Schelm« (»Gran [* 16] tacaño«),
Guevara durch seinen »Hinkenden Teufel« die Gattung der komischen »Schelmen- und Spitzbubenromane« begründeten, die später in Frankreich (Scarrons »Roman comique«),
England (Fieldings »Tom Jones«) und Deutschland [* 17] (»Simplicissimus« von Grimmelshausen) nachgeahmt wurden. Rabelais (gest. 1553) verpflanzte den satirischen Roman (»Gargantua und Pantagruel«) nach Frankreich, Fischart in ungeschlachter Bearbeitung nach Deutschland. In Italien [* 18] führte Sannazaro durch seine »Arcadia« (1502) den Schäferroman des Longos wieder ein, der sich von da aus nach Spanien (Cervantes' »Galatea«),
England (Philipp Sidneys »Arcadia«),
Frankreich (d'Urfés »Astraea«) und Deutschland (Romane der Pegnitzschäfer) verbreitete. Das affektierte Römertum unter Ludwig XIV. brachte in Frankreich die langen Bändereihen des politisch-galanten Romans der Scudéry und des Calprenède hervor, die den Versailler Hof [* 19] in römischer und orientalischer Maske darstellten und vom Herzog Anton Ulrich von Braunschweig [* 20] (»Herkuladiskus und Herkuladiska«),
Ziegler (»Die asiatische Banise«),
Lohenstein u. a. in Deutschland kopiert wurden. Mit dem Beginn des 18. Jahrh. erfand in England Daniel Defoe (»Robinson Crusoe«) den Reiseroman mit pädagogisch-didaktischer Tendenz und rief dadurch namentlich in Deutschland eine Unzahl »Robinsonaden« mit und ohne Tendenz hervor, von welchen »Die Insel Felsenburg« und Campes »Robinson« die bedeutendsten sind. Zu gleicher Zeit zeichneten sich ebendaselbst Swift (»Gullivers Reisen«) im Fach des satirischen, Fielding und Smollet in dem des komischen Romans aus; Richardson (dessen »Clarisse« von Rousseau in der »Neuen Heloise«, von Goethe im »Werther« nachgeahmt wurde) schuf den sentimentalen, Goldsmith (»Landprediger von Wakefield«) den humoristischen Familienroman, während Sternes sentimental-humoristische »Reise« und »Tristram Shandy« das Vorbild nicht nur aller spätern englischen (Dickens, Thackeray u. a.),
sondern auch der deutschen humoristischen Romanschriftsteller (Hippel, Jean Paul) geworden sind. Der sentimentale Roman fand in Frankreich außer Rousseau in Marivaux und Prévost d'Exiles (»Manon Lescaut«),
das frivole Sittenbild in Crébillon (»Le [* 21] sopha«),
Diderot (»Les bijoux indiscrets«, »La religieuse«),
der satirische in Voltaire (»Candide«, »L'ingénu«) glänzende Vertretung. In Deutschland bemächtigte sich, dem Geiste der Nation entsprechend, der Romanform vorherrschend die didaktische Tendenz, aus welcher der philosophische Roman (Jacobis »Woldemar« und »Allwills Briefsammlung«),
der Kunstroman (Heinses »Ardinghello« und »Hildegard von Hohenthal«, Tiecks »Ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« und »Sternbalds Wanderungen«),
der pädagogische Roman (Goethes »Wilhelm Meister«, Gutzkows »Söhne Pestalozzis«),
der politische und soziale Tendenzroman (die Romane des Jungen Deutschland, Gutzkows »Wally« und »Ritter vom Geist«, Spielhagens »Hammer [* 22] und Amboß« und »In Reih' und Glied«, [* 23] Auerbachs »Landhaus am Rhein«, Freytags »Soll und Haben« u. a.) hervorgegangen sind. Der Schotte Walter Scott wurde durch seine »Waverleynovellen« der Schöpfer und das Muster des historischen Romans und als solches in Italien von Manzoni (»Promessi sposi«),
d'Azeglio (»L'assedio di Firenze«),
Cantù (»Margherita Pusterla«) u. a., in Frankreich von Victor Hugo (»Notre Dame«, »1793«),
A. de Vigny (»Cinq-Mars«) u. a., in Deutschland am besten von Wilibald Alexis (»Roland von Berlin«, [* 24] »Isegrimm«) und außerdem von Spindler (»Der Jude«, »Der Invalide«),
König (»Die Klubbisten in Mainz«, [* 25] »König Jérômes Karneval«),
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Romān,
im Mittelalter in Frankreich Bezeichnung derjenigen epischen, meist in Reimpaaren verfaßten und ritterliche Stoffe behandelnden Gedichte, welche nicht in der lat., sondern in der Volkssprache (der lingua romana) geschrieben waren; ausgenommen sind alle Schöpfungen des Volksepos, also auch die franz. Chansons de geste. Als mit dem Verfall der ritterlichen Poesie und dem wachsenden Lesehunger des Publikums das stoffliche Interesse das formelle ganz verdrängte, trat nach dem Muster lat. Prosaromane auch in den Landessprachen, zuerst in Frankreich, später in Deutschland und England, Prosa an die Stelle der Reimpaare, ja ältere Dichtungen wurden der Mode zu Liebe prosaisch aufgelöst.
Seit dem 16. Jahrh. ist uns daher der Roman der prosaische Vertreter des frühern Epos, eine höchst moderne poet. Gattung. Im Gegensatz zum Volksepos, das im wesentlichen ein bestimmtes großes, von der Sage verherrlichtes Ereignis poetisch verklärt, ist schon der Ritterroman in Versen wesentlich auf der Person des Helden aufgebaut, der durch eine Fülle verschiedener Erlebnisse hindurch geleitet wird und sich in ihnen entfaltet; diese Fülle des Inhalts stellt den Helden zugleich in ein großes Weltbild hinein.
Als Muster eines solchen Ritterromans, der feinste psychol. Entwicklung mit reicher Gestaltung des umgebenden Lebens vereint, darf Wolframs «Parzival» gelten. Der moderne Roman verschmäht zwar die märchenhaften Stoffe der mittelalterlichen Ritterepen, aber auch er giebt ein umfassendes Bild der vergangenen (historischer Roman) oder bestehenden (Zeitroman) Welt und Gesellschaft, das zugleich den Untergrund bildet für das geistige und seelische Werden des meist mehr bildsamen und eindrucksfähigen als energischen und sichern Romanhelden.
Auch da, wo der moderne Roman histor. Personen zu Helden wählt, ist ihm ihr Privatleben, die Probleme ihres Gemüts- und Geisteslebens die Hauptsache; im Unterschied zur Novelle (s. d.) ist es aber nicht ein einzelnes inneres oder äußeres Erlebnis, eine individuelle psychol. Frage, die der Roman zum Thema hat, sondern er giebt eine zusammenhängende Entwicklungsreihe, die den Helden als Typus einer bestimmten Richtung, Krankheit, Schwärmerei seiner Zeit oder der Zeit des Dichters darstellt und ihn stets in mannigfachste Berührung mit der Vielheit der Welt bringt, der gegenüber er etwa die Rechte des Herzens, der Vernunft, der Wahrhaftigkeit verficht.
Eine Vorstufe des Roman bilden gewisse alexandrinische Liebesgeschichten in griech. Sprache aus dem 2. bis 5. Jahrh. n.Chr. (s. Erotiker). Rom führte den satir.-phantastischen Sittenroman durch die «Satiren» des Petronius und den «Goldenen Esel» des Apulejus (nach Lucian) in die Litteratur ein. Im Mittelalter wurde das lange allein herrschende Kunstepos seit dem 13. Jahrh. mehr und mehr durch Prosaromane verdrängt, die aber zunächst dieselben ritterlichen Stoffe behandelten wie die Kunstepen.
Den Anfang macht Frankreich (der ältere engl. «Apollonius» um 1100 steht ganz isoliert da) und ruft durch sein Beispiel auch in den andern Ländern des Abendlandes, namentlich in Spanien, eine gewaltige Romanproduktion hervor. Den Höhepunkt des galanten prosaischen Ritterromans bezeichnet der ungeheuerliche «Amadis von Gallien» des Portugiesen Vasco de Lobeira, der im 15. und 16. Jahrh. in immer umfänglichern Bearbeitungen die ganze Kulturwelt überschwemmte und seit 1569 auch in Deutschland heimisch ward, wo schon seit 1437 («Loher und Maller», übersetzt von der Herzogin Elisabeth von Lothringen), namentlich in adligen Kreisen, Übersetzungen franz. Prosaromane in Mode waren, aus denen viele unserer Volksbücher (s. d.) hervorgingen.
Die ersten deutschen Originalromane in Prosa waren von Jörg Wickram (gest. um 1556), harmlose Familiengeschichten mit pädagogischer Tendenz. Die Hochflut der Ritterromane veranlaßte den großen span. Dichter Cervantes zu seinem «Don Quixote» (1605 und 1615), der in wehmütigem Spotte die ideale Verstiegenheit des Helden mit der gemeinen Prosa des Lebens kontrastiert, und schon früher den franz. Satiriker Rabelais zu seinen gegen die gesamte Romantik gerichteten tollphantastischen, grotesk-derben ¶
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Romanen von den Riesen Gargantua und Pantagruel (1532 und 1535). Eine bedeutende Rolle spielt im 16. und 17. Jahrh. der Schäferroman (s. Schäferpoesie). Das 17. Jahrh. ist zugleich die Blüte [* 27] pathetischer, von Gelehrsamkeit überladener Geschichtsromane, von Haupt- und Staatsaktionen, Liebes- und Heldengeschichten ungeheuren Umfangs, die auffallend an die ersten griechischen Roman erinnern; diese Gattung vertritt in Frankreich Madelaine de Scudéry, in Deutschland Philipp von Zesen, Anselm von Ziegler und Kliphausen («Asiat. Banise», 1688) und Lohenstein («Arminius», 1689). Hier überall herrscht trotz Rabelais und Cervantes noch immer die der Wirklichkeit abgewandte Romantik; die politischen Roman, wie des Engländers Th. Morus «Utopia» (1516),
Barclays «Argenis» (1621; verdeutscht von Opitz) und Fénelons «Télémaque» (1717),
sind in dieser Hinsicht nicht viel besser.
Aber auch der Rückschlag ging von dem klassischen Lande des Roman, von Spanien, aus. Mendoza eröffnete durch seinen «Lazarillo de Tormes» (1554) die Schelmen- und Vagabundenromane; ihm folgte Alemans «Guzman de Alfarache» (1599). In dieser Richtung entstanden in Deutschland die realistischen Zeitsatiren Moscherosch' und vor allem Grimmelshausens lebenswahrer «Simplicissimus» (1669),
ein packendes Sittenbild aus dem Dreißigjährigen Kriege, weiterhin Christian Reuters komischer Lügenroman «Schelmuffsky», in Frankreich Scarrons «Roman comique» (1662) und Lesages «Histoire de Gil Blas» (1735); ja Defoes berühmter «Robinson Crusoe» (1719) und die ungeheure Litteratur der Robinsonaden und Aventurierromane gehen im letzten Grunde auf den span. Schelmenroman zurück. Auch in England wurde «Lazarillo» noch im 16. Jahrh. (1586) übersetzt, wie auch «Das Leben des Guzman de Alfarache» als «Spanish Rogue».
Thomas Nash schrieb noch im 16. Jahrh. in Nachahmung der Spanier den «Jack Wilton». 1665 verfaßte dann Richard Head «The English Rogue», der von Franz Kirkman fortgesetzt wurde. Trotz der ermüdenden Breite [* 28] ist dieser Roman wichtig, weil er auf Defoes Roman, nicht auf seinen «Robinson», wohl aber auf seinen «Colonel Jack», «Captain Singleton», «Moll Flanders u. a. einwirkte. In England selbst entstand noch im 17. Jahrh. der erste Negerroman »Oroonoko» von Aphra Behn (1640-89),
der das Vorbild für alle spätern Roman dieser Art wurde, auch noch auf «Onkel Toms Hütte» stark einwirkte. Die mancherlei pikanten Situationen des Schelmenromans und seiner Ausläufer wurden in Frankreich das Thema schlüpfriger Salon- und Boudoirromane, die auch nach Deutschland herüber wirkten. Der Klassiker dieser Richtung war der phantastische Crébillon (1707-77), der seine Erfindungen gern in den märchenhaften Orient verlegt, während in Deutschland Wieland, der Schüler Lucians, Griechenland [* 29] zu ihrer Stätte macht.
Hatte bis dahin die Tendenz auf die Wirklichkeit und Gegenwart stets einen komisch-frivolen Charakter gehabt, so beginnt der ernsthafte Sitten- und Familienroman mit dem Engländer Richardson, der zugleich der Schöpfer des Briefromans war. Seine bis zur Langweiligkeit einseitige Tugendtendenz wurde in England selbst bald ergänzt durch den saftvollen realistischen Humor Fieldings und Smollets, durch den sentimentalen Humor der Sterneschen Ich-Romane, der noch bei Jean Paul und Tieck Früchte trug. An die Schelmenromane erinnern vielfach noch Dickens und Thackeray.
Dagegen wirkte Richardson gerade durch seine moralische Einseitigkeit und seine idealistische Psychologie überwältigend auf den Roman des Festlandes. J. J. Rousseau, der Vater des romantischen Naturgefühls, der begeisterte Vorkämpfer des Rechts der Leidenschaft, der Aristokratie einer schönen Seele, trat in der «Nouvelle Héloise» in Richardsons Fußstapfen, und Goethe stand in «Werthers Leiden», [* 30] dem poet. Meisterwerke dieser Gruppe, auf beider Schultern (vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe, Jena [* 31] 1875). Damit hatte der Roman in den Mittelpunkt der socialen Interessen hereingegriffen und sich einen nahezu beherrschenden Platz auf den Höhen der Litteratur errungen. Erst mit jenen dreien begann der moderne Roman.
Goethes «Werther» hatte einen internationalen, alle Stände umfassenden Erfolg. Aber die Masse des deutschen Lesepublikums zog doch auf die Dauer die humoristischen Plattheiten Nicolais, Engels, Hermes', [* 32] die das Schlüpfrige streifenden Roman Wielands, Heinses, Thümmels, Lafontaines, die im 19. Jahrh. an Clauren einen berüchtigten Nachfolger fanden, vor allem die aufregenden Ritter- und Räuberromane der Spieß, Cramer, Vulpius, über die sich Fouqué trotz aller adlig-romantischen Deutschtümelei und aller blassen Tugend künstlerisch nicht viel erhebt, Goethe bedeutend vor, und der sentimentale Humorist Jean Paul zumal schlug in der Gunst der Gebildeten die Klassiker weitaus. Da nahm Goethe in so gewaltig einschneidenden Werken wie den «Wahlverwandtschaften» und vor allem im «Wilhelm Meister» noch einmal das Wort, die tiefsten socialen Fragen mit sicherer Künstlerhand berührend.
Auf dem «Wilhelm Meister», diesem von der romantischen Schule überschwänglich gefeierten Werk, beruht der moderne Bildungs- und Künstlerroman, wie Tiecks «Sternbald», Friedrich Schlegels «Lucinde», Novalis' «Heinrich von Ofterdingen», im weitern Fortschritt Immermanns «Epigonen» und Gottfried Kellers «Grüner Heinrich». Die Jüngern lernten wenigstens von dem Altmeister auf die Zeichen der Zeit achten. Romantische Anregungen, die aus Deutschland kamen (darunter die genialen Schauerromane E. T. A. Hoffmanns, Fouqués «Undine» u. a.), riefen in Frankreich Victor Hugo und Eugen Sue, in Italien Manzoni, in England den schott. Romantiker Walter Scott hervor, der nun seinerseits auf Deutschland zurückwirkte und dort die lange Episode des historischen Roman (Spindler, Wilibald Alexis, Freytag, Ebers, Dahn) veranlaßte.
Immermanns wundervolle Dorfgeschichte im «Münchhausen» fand sehr bald bei Bitzius (Jeremias Gotthelf), Auerbach, [* 33] Rosegger, Max. Schmidt u. a. Nachfolge. Den engl. Seeromanen Coopers und Marryats thaten es in Deutschland Sealsfield und Gerstäcker nach. Die Zuckungen der Revolutionszeit zeitigten in Frankreich einen großen Romanschriftsteller in dem glänzenden Sittenschilderer Honoré de Balzac, neben ihm die talentvolle Verfechterin der Frauenrechte, George Sand, während die Roman Jungdeutschlands (Gutzkow, Laube, Meißner, Spielhagen) künstlerisch nicht so hoch stehen. Unter den deutschen Romanschriftstellern der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart ragen hervor Gust. Freytag, Anzengruber, Gottfr. Keller, Fontane, Sudermann; auch der Humoristen K. von Holtei und des plattdeutsch schreibenden Fritz Reuter sei nicht vergessen; die Novelle, die bei ¶
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größerm Umfange oft, aber mit Unrecht, unter der Flagge des Roman segelt, hat bei uns den Roman momentan in den Schatten [* 35] gestellt, während Frankreich an Daudet, Flaubert, den Goncourt bedeutende Romanciers besitzt oder besaß. Die neueste Richtung des Roman, die des Naturalismus, der sich bisher in der Schilderung geistiger oder seelischer Krankheit ganz besonders gefällt, wird in Frankreich durch den virtuosen Romantiker Zola, in Rußland durch den grüblerischen Psychologen Dostojewski mit starker poet. Kraft [* 36] vertreten. Doch ist die Reaktion gegen die naturalistische Einseitigkeit schnell eingetreten.
Vgl. O. L. B. Wolff, Allgemeine Geschichte des Roman von dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit (Jena 1841);
Dunlop, History of fiction (Lond. 1843 u. ö.; deutsch von Liebrecht, Berl. 1851);
Kreyßig, Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart (Berl. 1869);
Bobertag, Geschichte des Roman und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland (Bd. 1-2, Bresl. und Berl. 1877-84);
Scherer, Die Anfänge des deutschen Prosaromans (Straßb. 1877);
Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Roman (Lpz. 1883);
K. Reborn, Der deutsche Roman (Köln 1890);
H. Mielke, Der deutsche Roman des 19. Jahrh. (Braunschw. 1890);
H. Gerschmann, Studien über den modernen Roman (Königsb. 1894).