Reitkunst
,
die
Kunst, sich mit Gewandtheit, Sicherheit und
Anstand des
Pferdes zum
Reiten zu bedienen. Je nach
den besondern
Zwecken, welche der
Reiter verfolgt, unterscheidet man
Jagd-,
Soldaten- oder
Kampagne-,
Renn- und Sportreiterei;
wird dagegen das
Reiten zum Selbstzweck erhoben, und handelt es sich darum, die schöne Gestalt und die schönen
Bewegungen
des
Pferdes sowie die
Harmonie zwischen Gestalt und
Bewegungen von
Roß und
Reiter zum
Ausdruck zu bringen,
so bezeichnet man dies mit
Recht als eine
Kunst, die Reitkunst.
Man unterscheidet hier die
Schul- und die
Kunst- oder Zirkusreiterei
und bei der erstern, je nach den Leistungen, eine niedere und eine hohe
Schule; letztere ist die eigentliche Reitkunst.
Diese wird
vom
Kunstreiter zwar auch ausgeübt, doch verbindet er mit derselben meist noch gymnastische Übungen,
die mit der Reitkunst
nichts zu thun haben. Die Ausübung der Reitkunst setzt die
Ausbildung von
Reiter und
Pferd
[* 2] voraus.
Menschen, welche
ohne methodische
Ausbildung im
Reiten ihr
Pferd vermöge natürlicher
Anlagen zu führen und zu beherrschen wissen, pflegt man
Naturreiter zu nennen. Die Abrichtung
(Dressur) soll das
Pferd dahin bringen, daß es widerstandslos, schnell
und sicher den
Willen des
Reiters
¶
mehr
ausführt; da nun aber die Dressur verschiedene Ziele verfolgt, so muß eine zweckentsprechende Auswahl des Pferdes, sei es für die Jagd, den Rennplatz, als Soldaten- oder Damenpferd etc., nach seinem Körperbau und Temperament getroffen werden.
Die natürliche Haltung des Pferdes, in welcher sein Schwerpunkt
[* 4] mehr in der Vorderhand ruht, muß durch
Heben des Kopfes und Durchbiegen des Rückens dahin geändert werden, daß das Gleichgewicht
[* 5] mehr nach hinten, auf die Hinterhand,
verlegt wird. Mit der Erreichung dieses für das gewöhnliche Reiten ausreichenden natürlichen Gleichgewichts begnügt sich
die niedere Reitkunst
, die Schulreiterei dagegen schiebt den Schwerpunkt noch weiter zurück bis zu den Hüften
und nennt das das künstliche Gleichgewicht.
Bei der Rennreiterei bleibt diese Gleichgewichtsherstellung außer Betracht, sie gipfelt in der Geschicklichkeit, ungelenke
Pferde,
[* 6] »deren fünfter Fuß im Maule liegt«, möglichst rasch zum Ziel zu steuern. Die Reitkunst
entwickelt aus den natürlichen Gangarten des
rohen Pferdes (Schritt, Trab, Paß,
[* 7] Galopp,
[* 8] Karriere [Renngalopp] und Sprung, zu welchen die Lancade gehört)
die geregelten Reitgänge und zwar Schulen auf der Erde: Passagieren, Piaffieren oder stolzer Tritt, Redopp, und Schulen über
der Erde: Levade, Pesade, Terre à Terre, Mezair, Kurbette, Kruppade, Ballotade, Kapriole.
Alle diese Bewegungen sind vorwärts gerichtet, während die Seitengänge das Pferd zu kurzen Wendungen befähigen, bei welchen es sich mit Vorder- und Hinterbeinen auf nebeneinander liegenden Linien, dem sogen. doppelten Hufschlag, bewegt und die Füße der einen Seite über die der andern hinwegschreiten. Hierher gehören die Schulen: Schulterherein, Travers, Renvers und Kontra-Schulterherein, die nur in der Bahn geritten werden, die Pirouette, das Passadieren, Quadrille und Karussell. - Wenn auch die Dressur des Pferdes hauptsächlich unter dem Reiter erfolgt, ist doch die Bearbeitung an der Longe oder Leine (Longieren), für die Schulsprünge zwischen den Pilaren (Standsäulen), an denen das Pferd unter gewisser Sprungfreiheit mit den Zügeln befestigt ist, nicht zu entbehren. Der Reiter hat entweder Stuhl- oder Spaltsitz, im erstern mit mehr oder weniger schräg liegenden, im letztern mit gerade herunterhängenden Oberschenkeln; er gibt dem Pferde die Hilfen mittels der Zügel, Schenkel, Sporen, dem Gewicht seines Körpers durch veränderten Sitz oder der Reitgerte. Das Reiten beginnt in der Regel auf der Decke [* 9] und geht, nachdem der Reiter Sitz gewonnen, zum Reiten auf dem Sattel über.
Über das Reiten im Altertum s. Pferde, S. 949. Im Mittelalter gelangte die Reitkunst
zu hoher Ausbildung durch das Rittertum und die
Turniere, mit deren Verfall sie aufhört, Allgemeingut der bevorzugten Stände zu sein. Sie flüchtet sich an die
Höfe, an welchen ihr eine luxuriöse Pflege zu teil wird. Der Stallmeister gehört zu den höchsten Hofbeamten, und die Ausbildung
in der Reitbahn ist Haupterfordernis für die höfische Erziehung. Quadrille und Karussell, die an die Stelle der Turniere treten,
erfordern eine vorzügliche Dressur der Pferde.
Die Begründung der modernen ist in Italien, [* 10] speziell in Neapel, [* 11] zu suchen, wo Federico Griso (um 1552) eine Reitakademie errichtete, die vom Adel fast ganz Europas besucht wurde. Sein Schüler Pignatelli erfand die Kandare, [* 12] und zwei von dessen Schülern, Antoine de Pluvinel, der Erfinder der Pilaren und des ersten geordneten Dressursystems, und Salomon de la Broue, begründeten die neue in Frankreich, während ein dritter, der Chevalier Saint-Antoine, unter Jakob I. der erste Stallmeister in England wurde. Zu höchster Vollkommenheit gelangte die um die Mitte des 18. Jahrh. durch die Reitschule in Versailles. [* 13] De la Guérinière, Stallmeister Ludwigs XV., gab der in seiner »École de cavalerie« (1733) eine wissenschaftliche Grundlage, auf welcher sie sich auch in Deutschland [* 14] weiter entwickelte.
Hier standen im vorigen Jahrhundert die Reitschulen zu Koburg
[* 15] und Wien
[* 16] in hohem Ansehen. Ayrer begründete den Ruf der Göttinger
Schule, der sich unter dem jüngern Ayrer bis in die neuere Zeit erhielt. Hünersdorf, Stallmeister des
Kurfürsten von Hessen,
[* 17] schrieb ein klassisches Werk über Reitkunst
, die »Anleitung
zu der natürlichen und leichtesten Art, Pferde abzurichten« (1791),
und dies Werk wurde die Grundlage für die preußische »Reitinstruktion für die Kavallerie« (1825, neubearbeitet 1882). Den preußischen Reitergeneralen verdankt man die hohe Entwickelung der Kampagnereiterei, welche aus der in England begründeten Renn- und Jagdreiterei gewisse Elemente aufgenommen hat und in dem Militärreitinstitut zu Hannover [* 18] gegenwärtig ihre bedeutendste Vertretung besitzt.
Vgl. Jähns, Roß und Reiter in Leben und Geschichte etc. der Deutschen (Leipz. 1872, 2 Bde.);
Baucher, Methode der Reitkunst
(deutsch, Wien 1884);
Kästner, Die in ihrer Anwendung (3. Aufl., Leipz. 1876);
Monteton, Über die Reitkunst
(Stendal
[* 19] 1877-79, 2 Tle.);
v. Krane, Anleitung zur Ausbildung der Kavallerieremonten (2. Aufl., Berl. 1879);
Seidler, Die Dressur des Pferdes (1. Tl., 5. Aufl., das. 1882; 2. Tl., 2. Aufl., das. 1879);
Heinze, Pferd und Reiter, oder die in ihrem ganzen Umfang (6. Aufl., Leipz. 1888);
Schönbeck, Reithandbuch für berittene Offiziere der Fußtruppen (3. Aufl., das. 1887);
v. Heydebrand und der Lasa, Handbuch des Reitsports (Wien 1882);
v. Öttingen, Über die
Geschichte und die verschiedenen Formen der Reitkunst
(Berl. 1885);
Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes (Potsd. 1885).
Über Reitkunst
der Damen die Schriften von Blanka v. Wobeser (2. Aufl., Berl.
1884), v. Heydebrand und der Lasa (Leipz. 1884), Schlaberg (Berl. 1884).