Reichsgesetze
,
die von der
gesetzgebende Gewalt des
Deutschen
Reichs für dasselbe erlassenen gesetzlichen
Normen. Zur
Gültigkeit eines Reichsgesetzes
war zur Zeit des frühern
Deutschen
Reichs die Zustimmung des
Reichstags und die
Sanktion
des
Kaisers erforderlich. Die
Initiative, d. h. das
Recht, Reichsgesetze
vorzuschlagen, stand nämlich in erster
Linie dem
Kaiser selbst
zu; doch war auch dem
Kollegium der
Kurfürsten die gleiche Befugnis eingeräumt. Ebenso gingen die kaiserlichen Gesetzvorlagen
zunächst an das Kurfürstenkollegium zur Beschlußfassung, welches sie mit ebendiesem Beschluß, der sogen.
Relation, an das
Kollegium der reichsstädtischen
Fürsten und
Herren zur sogen.
Korrektion mitteilte.
War zwischen diesen beiden Kollegien eine Übereinstimmung erzielt, so war regelmäßig noch die Zustimmung des
Kollegiums
der
Reichsstädte erforderlich. Ein so zu stande gekommener, übereinstimmender Beschluß dieser drei
Faktoren wurde
Reichsgutachten
(consultum s. suffragium imperii) genannt. Zum wirklichen
Gesetz wurde ein solches aber erst durch die
Ratifikation des
Kaisers, die in Form einer sogen. kaiserlichen
Resolution erteilt ward, erhoben. Es lag alsdann ein sogen.
Reichsschluß (conclusum imperii) vor, welcher nunmehr als Reichsgesetz
durch den
Kaiser publiziert werden konnte.
Verweigerte der
Kaiser seine Zustimmung, so blieb das
Reichsgutachten ohne rechtliche Wirksamkeit, mit
andern
Worten: es war dem
Kaiser in der Reichsgese
tzgebung ein sogen. absolutes
Veto eingeräumt. Was die
Publikation dieser
Reichsgesetze
anlangt, so war es lange Zeit hindurch bis zum »jüngsten«
(letzten)
Reichsabschied von 1654 üblich, die sämtlichen
Reichsschlüsse, welche in einer Reichstagssession zu stande kamen,
am
Schluß der letztern in einem sogen.
Reichsabschied (Reichsrezeß, recessus imperii) zusammenzufassen.
Von besonderer Wichtigkeit waren die sogen. Reichsgrundgesetze, d. h.
die eigentlichen Verfassungsgesetze des
Reichs, zu welchen namentlich die
Goldene Bulle (s. d.) von 1356, der
Ewige
Landfriede
von 1495, die
Gerichtsordnungen der obersten
Reichsgerichte, nämlich die Reichskammergerichtsordnung von 1555 und die (revidierte)
Reichshofratsordnung von 1654, ferner die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrh.,
namentlich die von 1577, der
Westfälische
Friede (s. d.), der
Friede zu Lüneville von 1801 und der Reichsdeputationshauptschluß
vom gehörten. Reichsgesetze
privatrechtlicher
Natur nahmen nur selten unbedingte,
¶
mehr
vielmehr in der Regel bloß subsidiäre Geltung in Anspruch, d. h. wenn und soweit die partikulären Landesgesetze
nichts anderweites bestimmten. Gerade in diesem Punkt zeigt sich aber eine wesentliche Verschiedenheit zwischen den Gesetzen
des frühern und denjenigen des dermaligen Deutschen Reichs. Denn nach dem Vorgang der norddeutschen Bundesverfassung bestimmt
die jetzige deutsche Reichsverfassung (Art. 2), daß das Reich das Recht der Gesetzgebung innerhalb des verfassungsmäßigen
Kompetenzkreises mit der Wirkung ausübt, daß die Reichsgesetze
den Landesgesetzen vorgehen.
Während ferner zur Zeit des frühern Deutschen Bundes die Beschlüsse des Bundestags für die Angehörigen der Einzelstaaten
nur dann rechtsverbindliche Kraft
[* 3] hatten, wenn sie von der betreffenden Staatsregierung publiziert waren,
so erhalten die dermaligen Reichsgesetze
diese Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen, welche mittels des Reichsgesetzblatts erfolgt.
Ist in dem einzelnen Gesetz kein besonderer Anfangstermin seiner Gültigkeit vorgesehen, so beginnt dieselbe mit dem 14. Tag
nach Ablauf
[* 4] desjenigen Tags, an welchem das fragliche Stück des Reichsgesetzblatts in Berlin
[* 5] ausgegeben worden
ist.
Die Faktoren der dermaligen deutschen Reichsgesetzgebung sind der Bundesrat und der Reichstag. Jede von beiden Körperschaften
hat das Recht der Initiative. Die von dem Bundesrat ausgehenden Gesetzvorschläge werden zwar im Namen des Kaisers an den Reichstag
gebracht, allein das Recht des Gesetzvorschlags selbst steht dem Kaiser als solchem nicht zu. Das Zustandekommen
eines Reichsgesetzes
ist durch den übereinstimmenden Mehrheitsbeschluß des Bundesrats und des Reichstags bedingt.
Die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze
und die Überwachung ihrer Ausführung stehen dem Kaiser zu. Ein Recht der Sanktion
(Genehmigung) oder ein Veto hat also hiernach der Kaiser nicht. Allerdings wird jene Schwäche der kaiserlichen
Autorität durch das Stimmgewicht der preußischen Regierung im Bundesrat, welche hier über 17 von 58 Stimmen verfügt, namentlich
aber dadurch einigermaßen paralysiert, daß bei Meinungsverschiedenheiten im Bundesrat, sobald es sich um Gesetzvorschläge
über Heer, Marine, Zollwesen oder die Verbrauchssteuern des Reichs handelt, die Präsidialstimme Preußens
[* 6] den Ausschlag gibt, wofern sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht.
Ebenso hat es die preußische Regierung in der Hand,
[* 7] eigentlichen Verfassungsänderungen vorzubeugen, da solche für abgelehnt
gelten, wenn sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben. Dagegen ist dem Kaiser mit dem Rechte der Überwachung
der Ausführung der auch die Befugnis zum Erlaß der zur Ausführung der letztern erforderlichen Verordnungen und Instruktionen
und zwar auf dem Gebiet des Militär- und Marine-, des Post- und Telegraphenwesens in ausschließlicher Weise eingeräumt. Im
übrigen steht dem Bundesrat ein konkurrierendes Verordnungsrecht zu, und ebendarum pflegt nach bisheriger Praxis
in den einzelnen Reichsgesetzen
selbst die Stelle bezeichnet zu werden, von welcher die erforderlichen Ausführungsverordnungen
in dem gegebenen Fall ausgehen sollen. Die in den Kompetenzkreis der Reichsgesetzgebung gezogenen Gegenstände sind im Art. 4 der
Verfassung aufgezählt (s. Deutschland,
[* 8] S. 837), und zahlreiche Reichsgesetze
sind bereits erlassen (s. Deutsches Recht). Der
Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs ist ausgearbeitet und veröffentlicht (Berl. 1888). Auch die Motive (Berl.
1888, 5 Bde) sind der Öffentlichkeit übergeben. -
In Österreich
[* 9] heißen Reichsgesetze
die aus dem Reichsrat hervorgehenden Gesetze. Zu
ihrem Zustandekommen ist die Übereinstimmung beider Reichsratshäuser und die Sanktion des Kaisers erforderlich.
Die Publikation erfolgt durch das Reichsgesetzblatt, welches in allen Sprachen der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder ausgegeben wird, wobei aber die deutsche Ausgabe als der authentische Text gilt.
Vgl. über die frühern
Reichsgesetze
außer den Lehrbüchern des deutschen Privatrechts und der Rechtsgeschichte: Emminghaus, Corpus juris germanici (2. Aufl.,
Jena
[* 10] 1844-56, 2 Bde.);
über die Gesetzgebung des neuen Deutschen Reichs: das von Holtzendorff begründete »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft im Deutschen Reich« (Leipz. 1872 ff., hrsg. von Schmoller);