Dieser
Schluß ist so lange unberechtigt, als nicht erwiesen ist, daß die psychischen Vorgänge (Vorstellen, Fühlen,
Begehren),
die nur dem sogen. innern, und die physischen
(Nerven- und Muskelreize, elektrische Strömungen), die nur dem äußern
Sinn
zugänglich sind, nicht bloß einander korrespondierende Zustände, sondern eins und dasselbe seien, was zu
erweisen der
Physiologie bisher keineswegs gelungen ist. Auch die von
Fechner als Zwischengebiet zwischen Psychologie und
Physik eingeschobene
Psychophysik hat nur gezeigt, daß die Beziehungen zwischen den äußersten
Grenzen
[* 4] der physischen (Nervenreize) und den niedersten
Stufen der psychischen Vorgänge (elementare Sinnesempfindungen) sich auf exakte
Formeln
(Webersches Gesetz) bringen lassen,
keineswegs aber die
Identität des Nervenvorganges
(Bewegung) mit der
Empfindung dargethan. So lange, als
jener
Beweis nicht erbracht ist, muß es daher unverwehrt bleiben, von den psychischen
Phänomenen als einem von den physikalischen
und physiologischen abgesonderten
Kreis
[* 5] von
Erscheinungen zu handeln und rücksichtlich sowohl ihres
Substrats als ihrer
Gesetze
diejenigen Folgerungen zu ziehen, welche durch die besondere
Natur der psychischen
Erscheinungen unvermeidlich
gemacht werden. Psychologie in diesem
Sinn ist daher zwar eine empirische
Wissenschaft insofern, als sie von den durch
Erfahrung
(an sich
und andern) gegebenen psychischen
¶
mehr
Erscheinungen ausgeht und weiter schließt; es ist aber keineswegs notwendig, daß dasjenige, zu dem sie auf diesem Weg
mit Notwendigkeit gelangt, selbst innerhalb der Grenzen sichtbarer Erfahrung gelegen sei. Lassen sich sämtliche erfahrungsgemäß
gegebene psychische Phänomene ohne Voraussetzung einer (körperlichen oder unkörperlichen) Seele überhaupt oder doch wenigstens
einer unkörperlichen Seele befriedigend erklären, so ist im erstern Fall die Annahme eines Seelenwesens
überhaupt, im letztern wenigstens die eines unkörperlichen überflüssig.
Gibt es dagegen auch nur ein einziges thatsächliches Seelenphänomen, das sich ohne die Annahme eines atomistischen Seelenwesens
schlechterdings nicht erklären läßt, so ist die letztere Annahme (wenigstens als Hypothese) notwendig. Neuere
Psychologen (Herbart und dessen Schule, Lotze) haben als ein solches Phänomen die Einheit des Bewußtseins und Kants entgegenstehende
Behauptung, daß die Annahme einer Seele ein (übrigens unvermeidlicher) Paralogismus der reinen Vernunft sei, selbst für einen
Fehlschluß (quaternio terminorum) erklärt.
Infolgedessen stehen einander in der Psychologie sehr verschiedene philosophische Richtungen gegenüber. Der Materialismus
und (Comtesche) Positivismus, welcher (unbewiesenerweise) nur eine Gattung von Phänomenen (die physikalischen) anerkennt, betrachtet
die sogen. psychischen Phänomene als physische (Nervenschwingungen) und die sogen. Seele als ein körperliches Organ (Gehirn),
[* 7] zu dessen Funktionen das Denken gehört, wie zu jenen des Magens dieVerdauung.
Die Psychologie fällt beiden sonach mit der Physiologie zusammen und ist von A. Comte folgerichtig der Biologie
einverleibt worden. Die kritische SchuleKants hält zwar an der Nichtidentität psychischer und physischer Phänomene fest;
aber sie läßt den Schluß von der Einheit des Bewußtseins auf die Existenz der Seele nicht gelten und gelangt dazu, eine Wissenschaft
von den Seelenerscheinungen ohne Substrat, eine »Psychologie ohne Seele« (Lange) zu konstruieren. Die idealistischen Nachfolger Kants
sehen (nach dem Vorgang Spinozas) Physisches und Psychisches als verschiedene Seiten desselben identischen Wesens an und sprechen
demgemäß der Seele als »Idee des Leibes« jede von diesem abgesonderte Existenzweise als Einzelwesen ab. Die realistischen
Nachfolger Kants (Herbart und seine Schule, Lotze) schließen von der Thatsache der Einheit des Bewußtseins, die keine »itio in partes«
erlaubt, auf die unteilbare Natur des Seelenatoms (Monade, einfaches Reale) als Trägers derselben und leiten aus dieser gewisse
(sonst unverständliche) Fundamentalgesetze des Seelenlebens, wie die (Lockesche) »Enge des Bewußtseins« und
die innige Verbindung (Ideenassociation) der gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander in der Seele gegenwärtigen Vorstellungen,
ab. Als beschreibende Wissenschaft unterscheidet die Psychologie mindestens drei Gattungen verschiedener Seelenvorgänge, die sie als
Vorstellungen (s. d.), Gefühle (s. d.) und Strebungen (Begierden, Willensakte, s. Wille) bezeichnet; als erklärende nimmt sie
entweder (wie die ältere Physik zu der Annahme von Kräften) zu der Annahme besonderer Vermögen (Vorstellungsvermögen,
Gefühlsvermögen, Begehrungsvermögen, Einbildungskraft, Gedächtnis etc.) behufs Erklärung besonderer Erscheinungen ihre Zuflucht,
oder sie leitet (wie die neuere Physik aus den elementaren Bestandteilen des Stoffes und deren Bewegungen) nicht nur auch die
höchsten und verwickeltsten psychischen Gebilde (die Ichvorstellung, den sittlichen Charakter etc.) aus
den elementaren Bestandteilen des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen)
und deren (durch Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung herbeigeführten)
Verbindungen ab, sondern betrachtet selbst die verschiedenen Arten der psychischen Phänomene als Umbildungen einer einzigen
(ursprünglichen) Art (Gefühle und Strebungen als bloße »Zustände der Vorstellungen«, Darwinismus in der Psychologie). Je nachdem
die psychischen Phänomene mit den physiologischen für identisch (wie in der Psychologie des Materialismus) oder
nicht identisch erklärt werden, nehmen auch die Naturgesetze, durch welche der Gang und Ablauf
[* 8] derselben geregelt wird, spezifisch
physiologischen oder allgemeinen Charakter an. In letzterm Sinn spricht die Herbartsche Schule von einer »Statik« und »Mechanik«
der psychischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung
stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) außerhalb (in modifizierter Gestalt) auf die in Wechselwirkung befindlichen
elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) innerhalb des Bewußtseins an (exakte oder mathematische Psychologie). Wird
dagegen von der Ansicht ausgegangen, daß die psychischen Phänomene überhaupt nicht, wie andre Vorgänge
der natürlichen Welt, durch »Naturgesetze« geregelt werden, sondern entweder völlig gesetzlos (willkürlich, transcendental
frei) oder nach Normen einer »übernatürlichen« (mystischen) Welt erfolgen, so nimmt die Psychologie selbst »übernatürlichen«
(mystischen) Charakter an und geht in Spiritismus und Mystizismus über. Letztere Gestalt der Psychologie umfaßt alle diejenigen
(angeblichen) Thatsachen des Seelenlebens, welche (wie Kants transcendentale Willensfreiheit) das die erfahrungsmäßig gegebene
Natur beherrschende Kausalgesetz gänzlich oder (wie die räumlich und zeitlich unvermittelten Einwirkungen der Geister- und
Hellseher, Somnambulen etc.) teilweise aufheben und (seit Schubert) als »Nachtseite der Seele« zusammengefaßt zu werden pflegen.
Anfänge der Psychologie finden sich schon in der Philosophie des Altertums, insbesondere bei Platon, welcher die
Seele aus einem vernünftigen und einem vernunftwidrigen »Teil« zusammengesetzt
dachte, zwischen welchen ein dritter vernunftloser, aber für Vernunft empfänglicher das »Band«
[* 9] darstelle, und deren »Harmonie«
die Vollkommenheit des psychischen (wie die Harmonie zwischen den drei Ständen des Staats: Lehr-, Wehr- und
Nährstand, die Vollkommenheit des politischen) Lebens ausmache.
Aristoteles, bei welchem die Keime aller spätern Psychologie zu finden sind, bezeichnete die Seele als »Entelechie des organischen Leibes«
und unterschied eine vegetative (der Ernährung und dem Wachstum vorstehende: Pflanzenseele), empfindende (sinnlich wahrnehmende
und sinnlich begehrende: Tierseele) und erkennende (denkende und wollende) Seele: Geist. Seine Zurückführung
der psychischen Vorgänge auf Arten und Vermögen ist von den Spätern fast unverändert beibehalten und nur von den einen
(den Neuplatonikern) die Psychologie als Lehre
[* 10] von der sinnlichen Seele von der Pneumatologie als Lehre vom Geist unterschieden, von den
andern (den materialistischen Physikern) auch der Geist bloß als ein feinerer Körper angesehen worden.
Beide letztere Anschauungen pflanzten sich durch das Mittelalter auf die neuere Zeit fort, wo die erstere bei Descartes, die
letztere bei Hobbes wieder zum Vorschein kam. Leibniz, welcher die Seele als Monade, d. h. als spiritualistisches Atom, auffaßte,
suchte alle Erscheinungen in derselben auf ein Vermögen, zu erkennen, und ein solches, zu begehren, zurückzuführen,
während Locke den Versuch machte,
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mehr
dieselben aus einem ursprünglichen Vermögen, zu empfinden (sensation), und einem, auf das Empfundene zu reflektieren (reflection),
abzuleiten. Aus ersterm Bemühen ist die systematische Seelenvermögenstheorie der Wolfschen Schule, aus letzterm die genetische
(die zusammengesetzten und reichern aus einfachen und elementaren Seelenvorgängen ableitende) Psychologie der englischen,
schottischen und französischen Empiristen und Sensualisten (Locke, Hume, Condillac) hervorgegangen.
Unter den realistischen Nachfolgern Kants gingen die einen mit Beseitigung der »mythologischen«
Seelenvermögen auf Leibniz und Locke zurück und gestalteten die Psychologie als genetische Entwickelung des Seelenlebens aus elementaren
Bewußtseinsvorgängen im Innern eines atomistischen Seelenwesens (Herbart und seine Schule, Lotze), während die andern den
leeren Platz der von Kant aus dem Bereich der Erfahrung und Erkenntnis ausgewiesenen Seele entweder durch
ein »Hirngespinst« (Schopenhauer) im materialistischen oder durch »das Gespenst einer Seele« (Mystiker und Spiritisten) im supranaturalistischen
Sinn (Schubert, Eschenmayer, Just. Kerner u. a.) ausfüllten.
Die seit alters her zur Psychologie gerechneten und von derselben als »Einfluß
des Leibes auf die Seele und dieser auf den Leib« (Naturell, Temperament im gesunden, Seelenstörung, Geisteskrankheit
im kranken Zustand) abgehandelten Wechselbeziehungen psychische (Bewußtseins-) und somatischer (körperlicher) Vorgänge
sind in jüngster Zeit zum Gegenstand einer von derselben sich absondernden, ihre Wurzeln einerseits in der Psychologie, anderseits
in der Physiologie schlagenden Wissenschaft, der sogen. physiologischen Psychologie, gemacht worden, die sich die
Aufgabe stellt, die organischen und physiologischen Bedingungen der mentalen Vermögen und Fähigkeiten,
sei es am gesunden (»eigentliche«),
sei es am kranken Menschen (»pathologische, physiologische Psychologie«),
Die wichtigsten von ihr bisher in exakter, auf dem Weg des Experiments (experimentelle Psychologie) am lebenden
(tierischen) u. der pathologischen Sektion am toten Organismus erfolgreich durchgeführter Weise erforschten Thatsachen gehören
dem Gebiet der Sinnesfunktionen (»Lehre von den Tastempfindungen«: Weber; »Theorie des Sehens und Lehre von den Tonempfindungen«:
Helmholtz; »Tonpsychologie«: Stumpf), ferner der Theorie der cerebralen Lokalisation (d. h. der Verteilung
vereinbarer geistiger oder durch solche bedingter Fähigkeiten,
wie der des Sprechens, Schreibens, Lesens und Verstehens,
an gewisse Hirnpartien, so daß die Zerstörung oder der Mangel der letztern das Aufhören jener zur Folge hat: Aphasie, Agraphie,
Wortblindheit und -Taubheit), endlich des sogen. Muskelsinns (Bain), der Vererbung (vgl. Ribot, L'hérédité
psychologique, 2. Aufl., Par. 1882), der Suggestion, der Verdoppelung des Bewußtseins etc. an.
Vgl. zur Psychologie außer den Hauptwerken
fast aller Philosophen insbesondere die Schriften der Herbartschen und der neuern englischen (an Locke anknüpfenden) Psychologenschule
(A. Bain u. a.), zu welch ersterer trotz prinzipieller Abweichungen auch Lotzes, zu welch letzterer (in
Deutschland) auch BrentanosDarstellungen der Psychologie zu zählen sind.
Unter jenen sind Drobisch, Empirische Psychologie (Leipz. 1842), Volkmann,
Lehrbuch der Psychologie vom Standpunkt des Realismus (3. Aufl., Köth. 1884, 2 Bde.), Rob. Zimmermann, Empirische Psychologie (in dessen »Philosophischer
Propädeutik«, 3. Aufl., Wien
[* 13] 1867),
und Wundt, Grundzüge
der physiologischen Psychologie (3. Aufl., das. 1887, 2 Bde.),
sowie Lazarus, Das Leben der Seele (3. Aufl., Berl. 1883 ff., 3 Bde.),
und dessen »Zeitschrift für Völkerpsychologie«, unter diesen ist nebst J. Mill, Analysis of human mind (neue Ausg., Lond.
1878, 2 Bde.), und Alex.
Bain, Psychology (2. Aufl., das. 1872), insbesondere Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (Leipz. 1874, Bd.
1), und als bedeutendste Erscheinung der theosophischen und spiritualistischenHerm. v. Fichte,
[* 14] Psychologie (das. 1864-73, 2 Bde.),
zu nennen. Zur Geschichte der Psychologie ist außer dem (veralteten) Werk von F. A. Carus (Leipz. 1808) und den
reichhaltigen Notizen in Volkmannsoben genanntem »Lehrbuch der Psychologie« insbesondere Ribot, »La psychologie anglaise contemporaine«
(2. Aufl., Par. 1875),
u. dessen »La psychologie allemande« (deutsch,
Braunschw. 1881) anzuführen.
Der gewaltige Aufschwung, welchen die Naturwissenschaften etwa seit den 40er Jahren dieses Jahrhunderts
nahmen, bezeichnet in der Psychologie den Beginn einer neuen Epoche. Die genauere Kenntnis des Menschenkörpers im gesunden und kranken
Zustand, die ausgedehnte Erforschung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Vervollkommnung sowohl der exakt-naturwissenschaftlichen
als auch der historischen Methoden trugen von da ab reiche Früchte für das Studium des Seelenlebens.
Indessen hat die Psychologie noch schwer an ihrer vornehmlich philosophischen Vergangenheit zu leiden und mit dem
Umstand zu kämpfen, daß man von den verschiedensten Seiten her ihre Probleme in Angriff nimmt, ohne sie
als das zu verstehen und zu behandeln, was sie in der That jetzt geworden ist: als eine selbständige Wissenschaft. Will man
sich über den gegenwärtig arg zersplitterten Betrieb einen Überblick verschaffen, so dürfte eine Einteilung nach den jetzt
üblichen Methoden einerseits, nach den Forschungsgebieten anderseits sich als zweckmäßig empfehlen.
Unter dem Vorbehalt, daß die nachfolgende Aufzählung verschiedener Verfahrungsweisen nicht als gleichbedeutend mit einer
Isolierung derselben voneinander aufzufassen ist, lassen sich acht Methoden nennen.
1) Die spekulative Methode. Sie benutzt die Ergebnisse der Metaphysik für deduktive Betrachtungen über
die höchsten Probleme einer Seele; aber
¶
mehr
Metaphysik als Wissenschaft besteht nicht, und Deduktion führt niemals zu einer Thatsachenkenntnis und Gesetzeserkenntnis.
So hat denn diese Methode und mit ihr die ganze sogen. rationale Psychologie allmählich viel von ihrem
einstigen Ansehen eingebüßt.
2) Die introspektive Methode. Sie sucht die psychischen Thatsachen in der innern Wahrnehmung aufzufassen und ist
zuerst von Maine de Biran, nicht von Locke, der auch ethnographische Daten verwertet, angewendet worden. Auf sie haben dann
Cousin und Jouffroy eine völlig subjektive Psychologie aufzubauen versucht. Ihre Mängel ruhen darin, daß a) das Gebiet der eignen
Beobachtung mit dem Bewußtseinsumkreis zusammenfällt, also sehr eng ist; b) der Ablauf innerer Zustände
durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit gestört und getrübt wird.
Comte hat sogar die Unmöglichkeit dieser Methode behauptet, weil es unmöglich sei, sich in ein Beobachtendes und Beobachtetes
zu zerspalten; in Wirklichkeit jedoch lassen sich gewisse Vorgänge, z. B. Schmerzen, ohne Beeinträchtigung ihrer Stärke
[* 16] und Beschaffenheit auffassen, und in der Erinnerung besitzen wir ein zweites, ganz brauchbares Hilfsmittel.
Die innere Erfahrung überhaupt, nicht als besondere Methode, sondern als allgemeine Thatsache verstanden, bildet die Voraussetzung
der gesamten Psychologie.
3) Die beobachtende Methode, unter welcher wir die Beobachtung andrer mit Ausschluß der Selbstbeobachtung verstehen. Sie gründet
sich auf den Analogieschluß, daß die bei mir mit bestimmten innern Vorgängen verknüpften Äußerungen,
wenn sie bei andern auftreten, ähnliche psychische Zustande bei jenen zur Grundlage haben werden. Sie ist demnach abhängig
a) von der Beschaffenheit des eignen Seelenlebens, b) von der richtigen Auffassung der bei andern auftretenden Zeichen, c)
von der Größe der Verwandtschaft des andern (erwachsener normaler Mensch, Geisteskranker, Naturmensch,
Kind, Tier) mit uns. Indirekt wird sie angewendet, wenn an Stelle der eignen Wahrnehmung das Zeugnis von Mittelspersonen tritt,
und so ermöglicht sie die höhere historische Kritik und die Biographie.
4) Die genetische Methode. Da die psychischen Prozesse, soweit sie sich in uns und unsersgleichen abspielen,
das zusammengesetzte Produkt einer sehr langen Entwickelung darstellen, entsteht die Aufgabe, diese Entwickelung in ihren einzelnen
Stadien anzuzeigen. Anfangend von dem ersten Auftreten des Psychischen auf der Erde, muß die genetische Methode die Steigerung
der Seelenthätigkeit durch die gesamte Tier- (Pflanzen-?) und Menschenwelt hindurch verfolgen, oder anderseits
für die Individualpsychologie die analytisch gefundenen einfachen Elemente als solche herausstellen und synthetisch so lange
zusammensetzen, bis wiederum die unmittelbar gegebene Komplikation vorliegt. Die genetische Methode ist auch in der Psychologie ebenso
wie in vielen Naturwissenschaften die am wenigsten durchgebildete, dem Darwinismus zum Trotz. Mit ihr unlöslich verbunden
ist
5) die vergleichende Methode. Nur durch ausgedehnte Vergleichung wird ein Überblick über die Gesamtheit
des Seelenlebens ermöglicht und ein Verständnis für die Stellung der einzelnen psychischen Funktionen zu einander angebahnt.
Ganz zweckmäßig bedient man sich daher neuerdings auch
6) der statistischen Methode. Die Frage z. B. nach dem Umfang, in welchem diese oder jene Charaktereigentümlichkeiten
sich vererben, oder die Frage nach der Häufigkeit, mit der bestimmte Halluzinationen auftreten, läßt sich nur auf Grund einer
Statistik
annähernd beantworten. Von verhältnismäßig geringer Brauchbarkeit ist
7) die mathematische Methode. Unter der Voraussetzung, daß die psychischen Phänomene wie alles in der Welt denNaturgesetzen
unterliegen und daher auch mathematisch ausgedrückt (nicht bloß gemessen) werden können, spricht die
Herbartsche Schule von einer Statik und Mechanik der seelischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik
der in Wechselwirkung stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) in modifizierter Gestalt auf die in Wechselwirkung
befindlichen elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhaltes (Empfindungen) an. Unter den Jetztlebenden
versuchen namentlich Steinthal und Glogau
[* 17] in der Psychologie, ähnlich wie in der Algebra, mathematische Gesetzmäßigkeiten, losgelöst
von jedem individuellen Inhalt und dadurch zugleich in allgemeiner Gültigkeit darzustellen, wobei sie die apperzeptive Freithätigkeit
des Geistes teilweise ausscheiden. (Vgl. Glogau, Steinthals psychologische Formeln, Berl. 1876.)
8) Die experimentelle Methode macht es sich zur Aufgabe, den Kreis des Gegebenen dadurch zu erweitern,
daß sie künstlich gewisse Bedingungen wandelt und die abweichende Wirkung beobachtet. Sie registriert nicht bloß, was die
Natur uns gerade bietet, sondern sie greift selbständig ein. Ihre höchsten Triumphe feiert diese Methode in der Psychophysik
(s. d.); indessen umspannt sie ein viel weiteres Gebiet, denn schon der einfachste
Versuch mit sich selbst oder irgend einem andern gehört ihr an. Man kann nun zwei Unterarten innerhalb der experimentellen
Methode unterscheiden: a) die rein experimentelle.
Sie beschränkt sich auf die planmäßige Abänderung der Bedingungen, unter denen ein psychischer Akt
sich vollzieht, indem sie beispielsweise einen und denselben Schmerz zu Zeiten der Ermüdung, Erregtheit etc. hervorruft und
seine Abhängigkeit von den genannten und andern Faktoren feststellt. IhreGrenze liegt in der Schwierigkeit, einen einzelnen
Empfindungskomplex beim Wechsel aller übrigen unverändert fortbestehen zu lassen, oder umgekehrt ein einzelnes Aggregat aus
dem lebendigen Seelenzusammenhang herauszulösen, zu variieren und in die gleiche Umgebung zurückzusetzen.
Immerhin vermag sie, besonders mittels der in der Hypnose gegebenen Dissociation des Bewußtseins, in ähnlicher WeiseVersuche
einer, man möchte sagen seelischen Vivisektion vorzunehmen, wie sie der Physiolog am lebendigen Körper anstellt. Das Wesen
positiver und negativer Halluzinationen, das Erwirken großer psychischer Komplexe durch eine eingepflanzte
(suggerierte) Vorstellung, das Ineinandergreifen verschiedener Bewußtseinssphären, das schwierige Problem der Persönlichkeit
u. dgl. ist solcherart experimentell untersucht
worden. b) Die numerische Experimentalmethode.
Sie fügt zu dem reinen Experiment ein ursprünglich und notwendigerweise nicht in ihm liegendes Moment, nämlich die zahlenmäßige
Messung, hinzu, erhebt aber durch diese mathematische Legitimation den Versuch zu einem exakt fixierbaren.
Die öfters geltend gemachten Bedenken: daß es kein festes Maß für psychische Vorgänge (z. B. eine Schmerzeinheit) in
demselben Sinne gebe, wie das Meter ein Maß für Längen sei, daß man ein etwa gefundenes Maß nicht anlegen, und daß
man seelische Zuständlichkeiten nicht deponieren könne, um sie später mit andern numerisch zu vergleichen, diese Bedenken
beziehen sich bloß auf ein Messen des Seelischen am Seelischen. Jedoch unterliegt es keinem
¶
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Zweifel, daß auch ein Messen innerer Akte an den parallel gehenden äußern Ereignissen dem Psychologen erlaubt und wertvoll
ist. Ebenso wie der Physiker mit dem Thermometer
[* 19] Wärmegrade an Längenverschiedenheiten und mit dem Galvanometer
[* 20] Stromstärken
an Winkelgrößen mißt, ebenso mißt der Psycholog Zeit oder Stärke psychischer Prozesse an dem äußern und
andersartigen Phänomen des Zwischenraums zwischen zwei Bewegungen oder der objektiven Intensität von Helligkeiten.
Ein solches Verfahren wird wesentlich durch zwei Grundeigenschaften der Seele ermöglicht, nämlich durch die eine, daß innere
Geschehnisse sich in Bewegungen äußern, und durch die andre, daß wir unmittelbar zwischen Gleich und Ungleich unterscheiden.
Auf jene führen die Reaktionsversuche zurück, auf diese sämtliche Messungen in der Sphäre der Sinnesempfindungen.
Ergänzend treten seelische Eigenschaften hinzu, welche nur einem besondern Komplex (z. B. dem Gedächtnis) angehören, und
die gedeihliche Fortentwickelung der numerischen Methode dürfte von der Auffindung weiterer solcher Sondereigenschaften abhängen.
So oft die Methode nicht bloß geistige Geschehnisse in Zahlen einfängt, sondern direkt mißt, darf sie denNamenPsychometrie beanspruchen. Zu den aufgezählten Untersuchungsweisen treten namentlich noch viele Hilfsmethoden, z. B.
die speziell anatomische oder die sprachwissenschaftliche.
Forschungsgebiete der Psychologie.
Die folgende Übersicht beansprucht nicht den Wert einer systematischen oder gar erschöpfenden Darstellung. Sie wünscht
nur diejenigen Felder zu umgrenzen, auf denen augenblicklich mit Erfolg gearbeitet wird. Daß darunter
die sogen. physiologische Psychologie fehlt, hat seinen Grund. Die von ihr versuchte Vermischung zweier gänzlich heterogener Reihen
ist schlechterdings unmöglich; was in ihrem Bereich geleistet worden ist, gehört entweder der Psychologie oder der
Physiologie oder der Psychophysik an oder beschränkt sich endlich auf eine Förderung der Methodik.
2) Individualpsychologie. Ihr Gegenstand ist ein normaler, erwachsener Kulturmensch und zwar sowohl
seine Funktionen (z. B. Stumpf, »Tonpsychologie«, Leipz. 1883-90,2
Bde.) als seine Arten (Simmel, »Die Psychologie der Frau« in der »Zeitschrift für Völkerpsychologie«, 1889; Dilthey, »DichterischeEinbildungskraft«,
Leipz. 1886). Eins ihrer wesentlichsten Hilfsmittel liegt in Selbstzeugnissen und Biographien abgeschlossener Individualitäten,
ja sogar in poetischen Darstellungen (die »psychologische Schule« unter den französischen Romanschriftstellern).
3) Psychophysik (s. d.). Eigentlich eine ebenso selbständige Wissenschaft wie Psychologie und wie Physik, dadurch indessen, daß die
durch den Wechsel der äußern Einflüsse herbeigeführten Veränderungen im innern Geschehen eben über dieses innere Geschehen
selbst Aufschlüsse enthalten, von besonderer Bedeutung für den Psychologen. Die Psychophysik untersucht
mittels exakter Wertzeichen: a) die Empfindung, eine psychologische Thatsache, welche unmittelbar von gewissen äußern Grundbedingungen
abhängt, und b) die Bewegung aus innerm Antrieb, einen physiologischen Vorgang, dessen Ursachen sich im allgemeinen nur in der
Selbstbeobachtung zu erkennen geben.
4)-6) Sozialpsychologie, die
Wissenschaft vom seelischen Menschen als von einem gesellschaftlichen Wesen.
4) Ethnologische Psychologie, besonders durch AdolfBastian vertreten. Ihre Hauptgedanken sind die folgenden: a) Das Individuum, für
sich als etwas Selbständiges betrachtet, existiert in der sozialen Wirklichkeit nicht, ist eine Abstraktion. Die Menschheit,
ein Begriff, der kein Höheres neben sich kennt, ist für die umfassende Psychologie zum Ausgangspunkt zu nehmen,
als das einheitliche Ganze, innerhalb dessen der Einzelmensch (das »politische
Tier«) nur als integrierender Bruchteil figuriert. b) Diese seelische Menschheit findet sich gewissermaßen
niedergeschlagen in den Völkergedanken, d. h. in den ursprünglichsten und eigentümlichsten menschheitlichen
Gedanken; in ihnen, nicht in den subjektiv individuellen Empfindungen, offenbart sich das Wesen des Psychischen.
c) So entsteht die Aufgabe einer Gedankenstatistik, die Aufgabe, ein Inventar über die Machtsphäre des innern Lebens aufzunehmen.
AlleZeiten und alle Völker müssen berücksichtigt werden, nicht bloß, wie üblich, die Kulturvölker, denn das wäre ebenso,
als ob man die Botanik auf die Kulturpflanzen beschränken sollte. Es gilt demnach, alles zu sammeln, zu
vergleichen, nach höhern Einheiten zusammenzuordnen und in einer Entwickelung darzustellen; denn es wird vorausgesetzt, daß
im Bereich der Ideen der Völker oder des menschheitlichen Geisteslebens nicht minder ein organisches Wachstum statthat wie
auf dem Gebiete des körperlichen Lebens. d) Die Buntheit der Lokaldifferenzen stört diese Arbeit nicht,
im Gegenteil, sie läßt sich nützlich verwerten, da, den abgeschlossenen Kreisen einer bestimmten Fauna oder Flora entsprechend,
eine geographische Provinz auch für den psychischen Menschen existiert und als solche beschrieben werden kann. Dagegen fehlt
der Völkerkunde ebenso wie etwa der Zoologie zunächst jede Berührung mit der Chronologie.
5) Völkerpsychologie, von Lazarus und Steinthal begründet und in der von beiden seit 1860 herausgegebenen
»Zeitschrift für Völkerpsychologie« gepflegt. Sie sucht aus den einfachsten Erzeugnissen der menschlichen Geselligkeit den
umfassenden Organismus des Volksgeistes zu erklären, so daß wir allmählich alle wesentlichen Formen und Erzeugnisse des
Zusammenlebens der Menschheit, wie Familie, Staat, Stände, Religion, Litteratur etc. nach- und nebeneinander
entstehen, sich gegenseitig fördern und hemmen sehen. Es soll eine neue Beziehung geschaffen werden zwischen der Geschichte
als einer Art beschreibender Naturgeschichte des Geistes und der Völkerpsychologie als einer Art erklärender Physiologie des
geschichtlichen Lebens der Menschheit. Gegen dieses Programm haben Einwände erhoben E. v. Hartmann, H.
Paul und W. Wundt; letzterer begrenzt ihre Aufgabe auf Sprache,
[* 21] Mythus und Sitte.
6) Sprachpsychologie. Sie untersucht die psychologische Entstehung und Wirkung der Sprache. Die Entwickelung des Gefühls und
das Verhältnis zwischen Fühlen und Denken läßt sich an den Sprachen sehr schön verfolgen, denn sie entstehen aus
Gefühlen, werden zum Ausdruck des Wissens und kehren gelegentlich wieder zu ihrem Ursprung zurück. Dabei zeigt sich die Bedeutung
des Prinzips des kleinsten Kraftmaßes: eine zweckmäßig arbeitende Organisation löst eine ihr obliegende Aufgabe mit den
relativ geringsten Mitteln. Das kraftersparende Mittel der Seele ist aber die Gewohnheit, wie sie sich z. B.
in der Analogiebildung aller Sprachen äußert, also etwa darin, daß wir von dem Alter als von dem
¶
(grch., d. i. Seelenlehre), die Wissenschaft von den Gesetzen des seelischen (psychischen) Lebens.
Ihr Objekt sind die Thatsachen der innern Erfahrung, unsere Gedanken, Gefühle, Entschlüsse u. s. w. Als Erfahrungswissenschaft
(empirische Psychologie) hat die Psychologie in Vergleich mit andern Gebieten der Forschung mit eigentümlichen Schwierigkeiten
zu kämpfen. Ihre einzige unmittelbare Quelle
[* 22] ist die Selbstbeobachtung; was die Beobachtung anderer lehrt, bedarf schon einer
Deutung mit Hilfe dessen, was der Beobachtende in sich selbst wahrgenommen hat, und dasselbe gilt von allen geschichtlichen
Überlieferungen sowie auch vom seelischen Leben der Tiere.
Die geistigen Regungen bleiben niemals für den Beobachtenden vollkommen gleich, denn sie sind fortwährend in Umwandlungen
begriffen. Jede absichtliche Selbstbeobachtung unterbricht und stört die Gemütslage, die beobachtet werden soll. Nimmt
man dazu, daß die innern Beobachtungen nicht in der Weise wie die äußern zu kontrollieren sind, da jeder
unmittelbar nur sein eigenes Innenleben erfahren kann, so ist
es nicht zu verwundern, wenn die Psychologie länger
als andere Erfahrungswissenschaften sich mit allgemeinen Abstraktionen und Klassifikationen beholfen und von jeher eine Neigung
gehabt hat, den psychischen Thatbestand zu vernachlässigen und auf metaphysische Theorien hinzueilen. Was die Methode der
Psychologie anbelangt, so kann man neben der gewöhnlichen, auf Erinnerung und zufällige Beobachtung gegründeten
Methode eine physiologische, die nervösen Begleiterscheinungen der Bewußtseinserscheinungen erforschende, eine pathologische,
auf die Beobachtung der krankhaften Veränderungen des Bewußtseins durch äußere oder innere Ursachen gerichtete, und die experimentelle
Methode unterscheiden.
In den Anfängen der psychol. Wissenschaft bei den Griechen wurde das geistige Wesen dem körperlichen
noch nicht entgegengesetzt, sondern selbst als ein Stoff von ätherischer Natur angenommen, den man zugleich als die Lebenskraft
des Leibes betrachtete. Mit Sokrates und Plato begann die Erkenntnis der völligen Unvergleichlichkeit physischer und psychischer
Thatsachen und die Einsicht, daß es gegenüber dem Erfahrungsfelde der äußern Sinne noch ein Feld der
Beobachtung innerer Erscheinungen gebe. Aristoteles nahm drei verschiedene Teile der Seele an, einen vegetativen, einen empfindenden
und einen denkenden. Während der letzte dem Menschen eigentümlich sei, komme der zweite auch schon den Tieren, der erste
den Tieren nebst den Pflanzen zu. Die Vernunft sah Aristoteles als etwas vom leiblichen Leben Unabhängiges
an. (Vgl. Brentano, Die Psychologie des Aristoteles, Mainz
[* 23] 1867; Chaignet, Histoire de la psychologie des Grecs, 5 Bde.,
Par. 1888-93.)
Das ganze Mittelalter hielt, obwohl nicht konsequent, an der Auffassung des Aristoteles fest und prägte namentlich den Gegensatz
zwischen Seele und leiblichem Leben, teilweise aus religiösen Motiven, zu einer principiellen Sonderung
aus. (Vgl. Karl Werner, Der Entwicklungsgang der mittelalterlichen Psychologie, Wien 1876.) Ein neuer Eifer für die Psychologie erwachte mit
dem Beginn der neuern Philosophie. Bei der scharfen Sonderung zwischen Materie und Geist in der Cartesianischen Philosophie
beschäftigte die Denker des 17. Jahrh. hauptsächlich die Frage nach dem ursächlichen
Zusammenhange zwischen Leib und Seele (s. Occasionalismus) und die Streitigkeiten über die Freiheit oder Nichtfreiheit des
menschlichen Willens. (S. Determination und Freiheit.) Aber auch für eine genauere Analyse der psychischen Erscheinungen geschahen
bedeutende Schritte. Descartes' Schrift über die Leidenschaften («Les passions de l'âme»,
Amsterd. 1650) und die Behandlung desselben Themas durch Spinoza im dritten Buche seiner Ethik waren bahnbrechend.
Dann stellte Locke in seiner empirischen Erkenntnistheorie die innere Erfahrung der äußern gegenüber. Daraus erst erwuchs
der wirkliche Anfang einer voraussetzungslosen Psychologie. Während jedoch die schott.
Philosophen diesen Standpunkt der innern Beobachtung einseitig annahmen, wurde die erklärende Theorie durch
Hartley, Priestley und Hume gefördert, die die Gesetze der Vorstellungsassociation festzustellen suchten, dabei jedoch hauptsächlich
auf die Abhängigkeit der seelischen Thätigkeiten von den Gehirnfunktionen aufmerksam machten. Dasselbe Bestreben führte
in Frankreich teils zu dem Sensualismus eines Condillac und Helvétius, teils zu dem Materialismus Lamettries und
dem Système de la nature.
¶
mehr
Durch seine Monadologie wurde Leibniz zur Entdeckung der dunkeln oder unbewußten Vorstellungen geführt, wobei er das Bewußtsein
als eine Thätigkeit der Verdeutlichung der Vorstellungen erkannte. Die Wolfsche Schule legte der Seele zwei Grundvermögen
bei, ein theoretisches oder Erkenntnisvermögen und ein praktisches oder Begehrungsvermögen. Jedes derselben wurde in ein
höheres, ausschließlich dem Menschen eigenes, und ein niederes, auch den Tieren zukommendes, eingeteilt.
Andere Wolfianer, namentlich Mendelssohn und Tetens, schoben zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen noch ein Gefühlsvermögen
als drittes Glied
[* 25] ein. So entstand im 18. Jahrh. auch in Deutschland eine Schule empirischer Psychologie, aus der manche schätzbare
Arbeiten hervorgingen, wie die von Reimarus, Tetens, Platner, Tiedemann, Maaß, Moritz u. a. (Vgl. R. Sommer,
Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik, Würzb. 1892; M. Dessoir, Geschichte der neuern deutschen Psychologie, Bd.
1, Berl. 1894.) Kants Erkenntnistheorie wurde für die Psychologie dadurch folgenreich,
daß sie die Unmöglichkeit einer metaphysisch begründeten, sog. rationalen Psychologie zu
erweisen suchte.
Zugleich aber warf er der empirischen Psychologie vor, daß sie niemals zu einer Erkenntnis von der Evidenz der Naturwissenschaft
gelangen könne, weil sie der Anwendung der Mathematik und des Experiments unfähig sei. Diesem Mangel suchte Herbart abzuhelfen,
indem er alle Vorgänge in der Seele aus Kraftäußerungen der Vorstellungen ableitete, so daß alles,
was wir Seelenleben nennen, als ein mechanisch zu stande gekommenes geistiges Gebilde anzusehen ist. Auf diese Weise hat Herbart
die sog. Ideenassociation (s. d.), die Reproduktion der Vorstellungen, die Entstehung der Begierden u. s. w. zu erklären gesucht.
Dabei hat er, um einen exakten Ausdruck für die psychischen Gesetze zu finden, die Hilfsmittel der Rechnung
benutzt und so denEntwurf einer mathematischen Psychologie begründet. Ein großes Verdienst erwarb er sich durch die scharfsinnige
Analyse des Ichbegriffs und die endgültige Beseitigung der für eine Theorie des geistigen Lebens unbrauchbaren Seelenvermögen.
Außer ihm hat F. E. Beneke eine psychol. Theorie auf Grundlage des Verhältnisses von Reizen und Anlagen
aufgestellt, ohne jedoch seiner Absicht einer rein empirischen, von jeder metaphysischen Betrachtung freien Wiedergabe des
innerlich Erfahrenen ganz gerecht zu werden. In einem starken Gegensatze zu diesen Bestrebungen steht die spekulative Psychologie der
naturphilos. und der Hegelschen Schule.
Diese bestimmen das Wesen der Seele aus dem Verhältnis des Geistes oder der Ideenwelt zur Materie als
der Erfahrungswelt überhaupt, wobei sie von dem Grundsatz ausgehen, daß alles Sein, auch das materielle, wesentlich geistiger
Natur ist. Nach diesem Grundsatz gestaltet sich die Seele zum Übergangsglied zwischen Materie und Geist, und die Psychologie zu einer
«Geschichte der Seele», d. h.
zur Geschichte einer allmählichen Selbstbefreiung der geistigen Substanz aus den Fesseln, von denen sie in der unorganischen
Natur umschlossen ist, zunächst zu organischen Trieben, hernach zu Empfindungen und Begehrungen, zuletzt zu intellektuellen
Thätigkeiten.
In neuester Zeit hat sich in Anlehnung an die Physiologie der Sinnesorgane eine experimentelle Psychologie herausgebildet,
die bemüht ist, die elementaren Thatsachen des Bewußtseins und deren gesetzmäßige Verknüpfung zu Komplexen oder Reihen
mit Hilfe äußerer Bedingungen
festzustellen. Dieser Bemühung ist zunächst die von Fechner begründete Psychophysik (s. d.)
zu verdanken; mit ausgedehntern Hilfsmitteln hat Wundt die experimentelle Psychologie ausgebaut. Unabhängig von den
Bestrebungen der Psychophysiker und gestützt auf die Beobachtung der sprachlichen Entwicklung des Kindes
hat Steinthal die psychische Mechanik Herbarts neu begründet und zu einer umfassenden psychol.
Apperceptionslehre erweitert (s. Apperception). Derselbe Forscher hat, in Übereinstimmung mit Lazarus, der Individualpsychologie
als der Wissenschaft von den an das Individuum gebundenen Bewußtseinsthatsachen die Völkerpsychologie (s. d.) oder
psychische Anthropologie als die Wissenschaft von den durch die Gemeinschaft von Individuen hervorgebrachten geistigen Erzeugnissen
(Sprache, Sitte, Religion, Kunst u. s. w.) gegenübergestellt.
Litteratur. Auf der Grundlage der Seelenvermögenslehre ruhen: Tiedemann, Handbuch der Psychologie (hg. von Wachler, Lpz. 1804);
Balduin und Cattell, The Psychological Review (1894 fg.).
Zur Geschichte der
Psychologie vgl. außer den im Artikel genannten Werken noch Siebeck, Geschichte der Psychologie (Tl. 1 in 2 Abteil., Gotha
[* 32] 1880 u.
1884).
Über die gerichtliche oder forensische Psychologie s. Gerichtliche Psychologie.