Orientalis
tenkongreß.
Der achte internationale Orientalis
tenkongreß in
Stockholm
[* 2] und
Christiania
[* 3] (1.-14. Sept. 1889) hat nach allgemeinem
Urteil seine Vorgänger in
Paris,
[* 4]
London,
[* 5] St.
Petersburg,
[* 6]
Florenz,
[* 7]
Berlin,
[* 8]
Leiden
[* 9] und
Wien
[* 10] mindestens erreicht,
ja in den
Schatten
[* 11] gestellt. Zwei Umstände trugen vorzugsweise zu dem glänzenden Gelingen dieser gelehrten Vereinigung bei:
die persönliche Beteiligung und aufopfernde
Gastfreundschaft des
Königs
Oskar von
Schweden
[* 12] und der starke Zuzug zu dem
Kongreß,
selbst aus dem von
Skandinavien so weit entfernten Heimatland der orientalischen
Studien.
König Oskar, der gekrönte Poet und Historiker, der sich durch seine geschmackvolle Übersetzung von Goethes »Tasso« und Herders »Cid« auch um die Einbürgerung der deutschen Dichtung in Schweden besonders verdient gemacht hat, eröffnete den Kongreß mit einer französischen Rede und schloß ihn mit einer lateinischen Ansprache; er setzte goldene Medaillen aus für Bearbeitungen der Geschichte der semitischen Sprachen und der vormohammedanischen Epoche Arabiens und war bei den Verhandlungen der semitischen Sektion des Kongresses persönlich anwesend. Generalsekretär des Kongresses war der Freund des Königs, Graf Landberg, der als schwedischer Konsul in Beirut sich eine vorzügliche Vertrautheit mit der arabischen Sprache [* 13] und Litteratur erworben hat.
Die wissenschaftlichen Resultate des Kongresses werden in den im Druck befindlichen Vorträgen hervortreten, über die bei dem Kongreß selbst nur ganz kurze Bulletins veröffentlicht wurden, doch mögen hier einige Vorträge von allgemeinem Interesse hervorgehoben werden, die teils in den allgemeinen Sitzungen, teils in einer der fünf Sektionen des Kongresses (semitisch-biblische, arabische, arische, ägyptische und ostasiatische Sektion) gehalten wurden.
Professor Goldziher aus Budapest [* 14] sprach deutsch über die schriftliche Überlieferung der mohammedanischen Tradition (Sunna), der Scheich Hamza Fathallah arabisch über die Rechte der Frauen im Islam. Professor Haupt aus Baltimore [* 15] verbreitete sich über den gewaltsamen Tod Königs Sargon II. nach keilschriftlichen Quellen, Halévy aus Paris über den Zustand Palästinas vor der Einwanderung der Israeliten, ferner über das Reich und die Nationalität des Königs Cyrus von Persien, [* 16] den er nach den Keilinschriften für einen Elamiten erklärte, wie überhaupt die zahlreich anwesenden Keilschriftforscher: Oppert und Halévy aus Paris, Sayce aus Oxford, [* 17] Haupt aus Nordamerika, [* 18] Schrader aus Berlin, Hommel aus München [* 19] u. a., eine Menge neuer Resultate und Probleme aus dem Gebiete der Keilschriftforschung zur Erörterung brachten.
Über die auf ihren Forschungsreisen in
Arabien entdeckten nabatäischen und südarabischen
Inschriften sprachen
Euting und
Glaser.
Professor Ethé aus
Aberystwith gab Mitteilungen über ein von ihm entdecktes arabisches
Werk des berühmten Yakut.
Professor
Guidi aus
Rom
[* 20] erörterte die syrischen
Quellen für die Geschichte der
Sassaniden.
Professor Merx aus
Heidelberg
[* 21] sprach
über die Messiaslehre bei den
Samaritern, A. Ginsburg aus
London über eine projektierte
Ausgabe des masoretischen
Textes des Alten
Testaments und über die Herausgabe von Handschriftenproben auf alttestamentlichem Gebiet,
Professor
Chwolson
aus
Petersburg über Gräberinschriften der syrischen
Nestorianer an der chinesischen
Grenze, der schwedische Reichsantiquar
Hildebrand über die in
Schweden gefundenen orientalischen
Münzen
[* 22] und über die von schwedischen
Offizieren 1710 gemachten
Zeichnungen
der damals noch vollständiger als jetzt erhaltenen
Ruinen von
Palmyra,
Professor
D. H.
Müller aus
Wien über
seine
Ausgabe altarabischer
Inschriften,
Professor A.
Müller aus
Königsberg
[* 23] über die Werke des Arabers Elqifti,
Professor de
Goeje aus
Leiden über die orientalischen
, namentlich arabischen
Quellen der bekannten
Legende von der
Navigatio St. Brandani,
Professor Karabacek aus
Wien über alte mohammedanische Goldmünzen. Über das
Dschagataiisch-Türkische
in den letzten 500
Jahren sprach Amirchanjanz, über den türkischen
Lyriker Bâki und eine projektierte
Ausgabe desselben Dworak.
Ganz von dem vorderasiatischen Kulturgebiet getrennt verläuft die Entwickelung der indischen Litteratur und Geschichte. Von den ebenfalls in großer Anzahl erschienenen Sanskritisten sprachen unter andern Max Müller aus Oxford über seine neue Ausgabe des Rigveda mit Sayanas indischem Kommentar und über die Einwirkung des Christentums auf die religiöse Bewegung in Indien, Professor Peterson aus Bombay [* 24] über ein altes buddhistisches Werk über Logik, der Inder Dhruva aus Baroda über eine alte Übersetzung des Euklid in das Sanskrit und über die Geschichte der Gudscheratisprache, Professor Bühler aus Wien über eine kürzlich entdeckte Inschrift des indischen Königs Asoka, Professor A. Hillebrandt aus Breslau [* 25] über den Ursprung des Samaveda, Direktor Burgeß aus Kalkutta [* 26] über die archäologischen Forschungen in Indien, die von der englischen Regierung seiner Leitung unterstellt sind, Professor Oldenberg aus Kiel [* 27] über die älteste Form der unter dem Namen Upanischad bekannten philosophischen Werke, Professor Leumann aus Straßburg [* 28] über Parabeln der indischen Dschainasekte, Professor Kielhorn aus Göttingen [* 29] über den Stammbaum einer indischen Dynastie auf Grund der Inschriften, Professor Jolly aus Würzburg [* 30] über das Gesetzbuch des Harita, der Schwede Johansson über den Dialekt der Asoka-Inschriften, Professor de Gubernatis aus Florenz über ein Problem der indischen Mythologie, Professor Vasconcellos aus Lissabon [* 31] über eine Sanskritinschrift in Cintra. Im Anschluß an den Vortrag von Burgeß wurde ein Antrag von Professor Bühler angenommen, dahin gehend, der englischen Regierung in Indien die Wichtigkeit einer regelmäßigen Fortsetzung der begonnenen Ausgrabungen und andrer archäologischer Nachforschungen vorzustellen.
Auf das Gebiet der iranischen Sprach- und Altertumskunde bezogen sich namentlich die Vorträge von W. Geiger aus München über die Beludschisprache, woran sich ein von Professor Kuhn aus München begründeter und von der arischen Sektion angenommener Antrag schloß, die an den Nordwestgrenzen Indiens lebenden Europäer zur Erforschung der dortigen Sprachen aufzufordern, und ¶
mehr
des Parsenpriesters Modi aus Bombay über die Geschichte der Parsen, über die monotheistische Richtung der Parsenreligion und über den Gott Haoma im Zendavesta. Über die Frage nach der Urheimat der Indogermanen sprach, an die Spuren einer duodezimalen Zählmethode in einigen indogermanischen Sprachen anknüpfend, Professor Johannes Schmidt aus Berlin; andre Probleme der vergleichenden Sprachwissenschaft behandelten der Schwede Professor Tegnér, ein Enkel des Dichters, Professor Esoff aus Petersburg, Professor Bugge aus Christiania, Professor Karolidis aus Athen, [* 33] Dr. Schnorr von Carolsfeld aus München und Cust aus London.
Professor Orientalis
tenkongreß Donner aus Helsingfors sprach über die alten Grabinschriften am obern Jenissei, deren Charaktere an
die alten kleinasiatischen Alphabete erinnern. Professor Kern aus Leiden erörterte die malaiische Fabel vom Affen
[* 34] und der Schildkröte.
In der ägyptologischen Sektion sprachen unter andern Orientalis
tenkongreß Beauregard über die Aussprache des Altägyptischen, Piehl über die
beste Anordnung eines Hieroglyphenlexikons, Schiaparelli über eine unedierte Inschrift aus der Zeit des Königs Amenophis
I., Amélineau über koptische Dichtungen, Marucchi aus Rom über die beabsichtigte Veröffentlichung der im Vatikan
[* 35] befindlichen
Monumente durch Papst Leo XIII. Auch machte in den allgemeinen Sitzungen Brugsch-Pascha, der bekannte Ägyptolog, interessante
Mitteilungen über neue Funde, und Cust las einen Brief der Ägyptologin Miß Edwards vor über die von Petrie
in Fayûm entdeckten alphabetischen Inschriften angeblich aus der Zeit des Auszugs der Israeliten aus Ägypten.
[* 36]
Die rasch aufblühende Sinologie war durch verschiedene Vorträge vertreten, z. B. von Leland über das sogen. Pidgin-English, eine merkwürdige Mischsprache in China, [* 37] von Inouyé über die verschiedenen Ansichten der chinesischen Philosophen über die Natur des Menschen, von Daae über die Grundsteuer in China und von Boell über die Transliteration chinesischer Wörter. In den äußersten Ostens Asiens führte ein Vortrag von Stolpe über die auf der Osterinsel entdeckte Bilderschrift, und selbst das Gebiet der amerikanischen Indianersprachen wurde gestreift in einer Ansprache von Dr. Seybold aus Rio de Janeiro, [* 38] den der damals noch regierende Kaiser von Brasilien [* 39] zu dem Kongreß delegiert hatte. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, oft von großem Umfang, wurden von den Verfassern mit kurzen Ansprachen dem König oder dem Kongreß überreicht.
Einen schwungvollen poetischen Ausdruck des Dankes verlieh schließlich der Inder Dhruv in einer Sanskrit-Ode, die er in der Schlußsitzung dem Kongreß vorsang, wie auch der Parsenpriester Modi einen feierlichen Segensspruch in der Sprache des Zendavesta recitierte.