Orientalische
Philologie. Das Studium der Sprachen und Litteraturen der Kulturvölker des Orients, insbesondere Vorder- und Mittelasiens, verdankt seine Begründung der Ausbreitung des Christentums in Europa; [* 2] doch wurde während des ganzen Mittelalters das Hebräische, als die Sprache [* 3] des Urtextes der Bibel [* 4] und, wie man annahm, die Ursprache der Menschheit, zwar hoch verehrt, aber die Beschäftigung damit meist den Juden überlassen, welche, unterstützt durch die trefflichen Arbeiten arabischer Grammatiker über das nahe verwandte Arabische, den Grund zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Hebräischen gelegt haben.
Erst die
Reformation veranlaßte auch die
Christen, sich eingehender mit der
Sprache der
Bibel zu beschäftigen,
bald auch mit dem
Syrischen,
Chaldäischen,
Äthiopischen und dem
Arabischen, auf das schon früher die Berührung mit der arabischen
Kultur in
Spanien,
[* 5]
Sizilien
[* 6] und
Palästina
[* 7] und das dadurch erweckte
Interesse an der reichen Litteratur der Araber, besonders
an ihren Übersetzungen Aristotelischer
Schriften, hingeführt hatte. Ebenfalls in das 16. Jahrh. fällt
der großartige Aufschwung der Missionsthätigkeit, welche in die europäische
Wissenschaft einen noch viel weitern
Kreis
[* 8] von
orientalische
Sprachen einführte.
Papst
Gregor XIII. stiftete eine Missionsanstalt mit vier Kollegien für morgenländische
Nationen in
Rom,
[* 9]
Urban VIII. ebendaselbst 1627 das berühmte
Collegium de propaganda fide zur
Ausbildung von
Missionären und Anleitung derselben zum
Studium orientalische
Sprachen, das auch das
Verdienst hat, eine
Menge wichtiger orientalische
Werke
¶
mehr
veröffentlicht zu haben. Noch in der Gegenwart sind die Missionäre, besonders die englischen, an der Entwickelung der orientalische Philologie
in hervorragender Weise beteiligt. Weitere Forderung brachten ihr der rasch zunehmende Handelsverkehr mit dem Orient, die Eroberung
Ostindiens durch die Engländer, welche gegen Ende des 18. Jahrh. die reiche alte Sprache und Litteratur
Indiens der europäischen Wissenschaft erschloß, Napoleons I. Feldzug nach Ägypten
[* 11] und wissenschaftliche Reisen, besonders in der
neuesten Zeit die verschiedenen gelehrten Expeditionen nach Assyrien (s. Keilschrift).
Das Studium des Sanskrits und die Entdeckung seiner Verwandtschaft mit den Kultursprachen Europas sowie mit dem Persischen und
Zend führte im Anfang des 19. Jahrh. in Deutschland
[* 12] zur Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft
(s. d.), welche dann ihrerseits auf alle orientalischen
Studien erweiternd und vertiefend zurückwirkte. Bis in den Anfang
des 19. Jahrh. noch ein bloßes Anhängsel der Theologie, sind dieselben jetzt an allen Universitäten, wenigstens in Deutschland,
durch besondere Lehrstühle in den philosophischen Fakultäten vertreten; meistens tritt dabei noch eine
weitere Teilung der Fächer
[* 13] ein, in je eine Professur für Sanskrit und vergleichende Sprachwissenschaft und für die semitischen
Sprachen, wozu manchmal noch Lehrstühle für Ägyptologie und Sinologie kommen, während mehrfach (in Berlin,
[* 14] Leipzig,
[* 15] Straßburg,
[* 16] Göttingen
[* 17] etc.) auch für Sanskrit und vergleichende Sprachwissenschaft zwei getrennte Professuren bestehen.
Außerdem lehrt ein Mitglied der theologischen Fakultät Hebräisch und Exegese des Alten Testaments. Mit dem Studium der semitischen Sprachen: Hebräisch, Syrisch, Arabisch, Äthiopisch, Chaldäisch, Assyrisch wird gewöhnlich das des Neupersischen sowie des Türkischen verbunden wegen der vielfachen Beziehungen dieser beiden Sprachen zu der arabischen;
die Sanskritisten und Sprachvergleicher verbinden aus ähnlichen Gründen meistens mit ihrem eignen Studium das der ältern iranischen Sprachen, namentlich des Zend und Altpersischen.
Mit den Forschungen über das alte Ägyptische geht das Studium des Koptischen und andrer neuern
Sprachen Afrikas Hand
[* 18] in Hand. Ein viertes Zentrum bildet die Sinologie, die gegenwärtig besonders in Frankreich
und England blüht; erst in neuester Zeit ist man im Anschluß daran auch der von China
[* 19] aus stark beeinflußten Sprache und
Litteratur Japans näher getreten. Die finnisch-tatarischen, die malaiisch-polynesischen, die drawidischen Sprachen (im Dekhan),
das Siamesische und Birmanische, das Tibetische und andre asiatische Sprachen ohne hervorragende Litteratur und Kultur
sind noch am wenigsten untersucht. Am meisten und in der systematischten Weise werden seit Beginn des 19. Jahrh. die orientalischen
Studien von deutschen Gelehrten getrieben; außerdem sind in der neuesten Zeit glänzend vertreten: Italien
[* 20] durch Amari, Ascoli,
Gorresio u. a., Frankreich und England durch Lenormant, Ménant, Garcin de Tassy, Saint-Martin, Regnier, Maspero,
Stanislas Julien, Palmer, Childers, R. P. Smith, Rawlinson, G. Smith, Sayce, Legge u. a., Holland durch Kern und de Goeje, Belgien
[* 21] durch
de Harlez, Dänemark
[* 22] durch Westergaard, Ungarn
[* 23] durch Vambéry, Nordamerika
[* 24] durch Whitney etc. An der Erforschung des indischen
Altertums nehmen jetzt auch geborne Hindu, wie Rajendralal Mitra,
[* 25] Bhandarkar, Swamy u. a., lebhaften Anteil.
England besitzt die reichsten Sammlungen an Handschriften des Orients, namentlich diejenige des India Office in London
[* 26] und der
Bodleiana in Oxford;
[* 27] das Britische Museum in
London, welches ebenfalls reich an indischen, persischen etc. Handschriften ist,
besitzt zugleich die größte Sammlung assyrischer Kunstwerke, die meist mit Keilschriften bedeckt sind.
Die Pariser Bibliothek ist besonders reich an chinesischen, die Madrider des Escorial an arabischen Handschriften; in Deutschland
sind die Bibliotheken von Berlin, München,
[* 28] Dresden,
[* 29] Gotha,
[* 30] Leipzig, Tübingen,
[* 31] in Österreich
[* 32] ist Wien
[* 33] reich an orientalischen
Manuskripten.
Höchst förderlich als Sammelpunkte dieser Studien wirken seit lange ^[richtig: langem] die Asiatischen Gesellschaften (s. d.),
namentlich die Royal Asiatic Society in London, die Asiatic Society of Bengal in Kalkutta
[* 34] und die Deutsche Morgenländische Gesellschaft,
[* 35] deren höchst bedeutsame »Zeitschrift« bereits bis zum 42. Band
[* 36] vorgerückt ist. Nicht minder wichtig ist das »Journal Asiatique«,
das in Paris
[* 37] herauskommt, sowie die Veröffentlichungen der Asiatischen Gesellschaften in London, Kalkutta
und Bombay.
[* 38] Besondere Lehranstalten für orientalische
Sprachen gibt es in Rom, Paris, Wien (orientalische
Akademie), Petersburg
[* 39] und Berlin (orientalische
Seminar, seit 1887).
Abgesehen von der Begründung der Sprachwissenschaft im Beginn des 19. Jahrh., ist das Aufblühen
der orientalischen
Studien von besonderer Bedeutung für die vergleichende Religionswissenschaft geworden. Bei allen
Litteraturen des Orients steht das religiöse Interesse im Vordergrund, und das Studium der heiligen Schriften des Morgenlandes,
das von alters her der Schoß aller großen religiösen Bewegungen gewesen ist, namentlich die erst neuerdings angebahnte Kenntnis
der Wedas, des Zendavesta, der buddhistischen und der chinesischen Religionsbücher, ermöglicht jetzt eine wahrhaft unbefangene,
universalhistorische Auffassung vom Wesen der Religion.
Auch für die Urgeschichte der Menschheit bildet die orientalische
Litteratur die Hauptquelle, und die Leistungen der Völker
des Ostens auf dem Gebiet der Philosophie, des Rechts, der Grammatik, der Dichtkunst sind nicht minder vom höchsten geschichtlichen
Interesse. Die Methode, nach welcher das Studium der orientalischen
Litteratur betrieben wird, ist die nämliche
wie bei den ältern Zweigen der Philologie; namentlich wird die Aufgabe, kritisch sichere Texte der wichtigern Originalwerke
herzustellen, mit derselben Genauigkeit gelöst wie bei den römischen und griechischen Autoren und durch Übersetzungen in
europäische Sprachen (besonders ins Deutsche) ihr Verständnis den weitesten Kreisen erschlossen sowie
durch gründliche grammatische und lexikalische Bearbeitung der Sprachen der Zugang zu den Quellen erleichtert.
Weniger entwickelt ist bis jetzt die orientalische
Altertumskunde.
Vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen
Philologie in Deutschland (Münch. 1869);
E. Kuhn und A. Socin, Wissenschaftlicher Jahresbericht über die morgenländischen Studien vom Oktober 1876 bis Dezember 1877 (Leipz. 1879).
Eine Sammlung von englischen Übersetzungen der wichtigsten Religionsbücher des Orients enthält das von Max Müller herausgegebene große Sammelwerk »Sacred books of the East« (Oxf. 1879 ff., 48 Bde.).