Norwegische
Litteratur
1885-90.
Die belletristische Litteratur
Norwegens hat auch in der letzten fünfjährigen
Periode
wesentlich dieselbe realistische
Richtung befolgt, die im Anfang des letzten Jahrzehnts die bisher überwiegende
romantische und historische
Dichtung ablöste. Unter den norwegischen
Dichtern nehmen Henrik
Ibsen und Björnstjerne
Björnson
immer noch unstreitig den ersten
Rang ein.
Ibsen, der sich fortwährend in
Deutschland
[* 2] aufhält, trat mit vier
Schauspielen:
»Vildanden« (»Wildente«),
»Rosmersholm«, »Fruen fra Havet«
(»Die
Frau vom
Meere«) und »Hedda
Gabler« hervor, die sämtlich dem sogen. Problemdrama angehören. Sie
zeichnen sich alle durch glänzende
Technik und vorzügliche
Komposition aus, während sie hinsichtlich der
Klarheit des
Inhalts
und der Prägnanz der Charakterzeichnung kaum auf der
Höhe seiner besten frühern Werke stehen.
Björnson hat außer einem
Lustspiel: »Geografi og Kærlighed«, in dessen
Hauptperson,
Professor
Turman, man ein humoristisches Selbstporträt des Dichters zu sehen geglaubt hat, die norwegische Litteratur 1885-90
mit
zwei größern
Romanen bereichert.
Der eine, »Det flager i Byen og paa Havnen« (ins Deutsche [* 3] u. d. T. »Das Haus Kurt« übersetzt), behandelt die Erziehungsfrage, und obgleich die von dem Verfasser aufgestellten Theorien von zweifelhaftem Gehalt sein dürften, nimmt doch die Erzählung mit ihrer ernsten Tendenz und vortrefflichen Charakteristik eine hervorragende Stelle unter den Arbeiten Björnsons ein. Ebendasselbe gilt auch von seinem letzten, die Glaubenstoleranz verherrlichenden Werk »Paa Guds Veie« (wo brave Leute gehen, da sind auch die Wege Gottes).
Jonas
Lie, der sich als liebenswürdig-humoristlscher Erzähler von optimistischer Lebensauffassung großes
Ansehen erworben hat, behauptet in den
Erzählungen »En Malström«, »Kommandörens
Döttre« und »Maisa Jons« seinen
Ruf als begabter und glaubhafter Schilderer des norwegischen
Familienlebens. Den
Gegensatz
zu ihm bildet
Alexander
Kielland, der, ebenso hervorragend als Erzähler, sich besonders als Satiriker und Pessimist geltend
macht. Von seinen neuesten Werken sind, außer den
Schauspielen
»Tre Par«, »Bettys Formynder« und
»Professoren«,
die allerdings von untergeordneter Bedeutung sind, vorzüglich die
Erzählungen
»Fortuna« und »Sanct
Hans-Fest« zu erwähnen,
letztere eine scharfe
Satire
gegen die religiös-politische
Partei der
Linken.
Unter die hervorragendern jüngern Schriftsteller Norwegens gehört auch Arne Garborg (s. d.) mit dem politisch satirischen Schauspiel »Uforsonlige« und zwei Erzählungen: »Manfolk« und »Hos Mama«, von denen die letztere den Preis der Freien Bühne erhielt. Ein gewisses Aufsehen erregte das Schauspiel Gunnar Heibergs: »Kong Midas«, dessen Hauptfigur, der selbstgefällig und gebieterische Redakteur Ramseth, auf den Dichter Björnstjerne Björnson abzielt, der sich vornehmlich durch seine Opposition gegen die sogen. Bohême-Litteratur einer Fraktion der litterarischen Linken mißliebig gemacht hat.
Unter den jüngern sind noch zu nennen Kristoffer Kristoffersen (die Erzählung »Dagligdags«);
John Paulsen (die Novellen: »En Digters Hustru« und »En Fremtidskvinde«);
Kristian Winterhjelm, von dessen novellistischen Arbeiten zwei Sammlungen von kleinern Erzählungen und Skizzen, »Intermezzoer« betitelt, besonders zu erwähnen sind;
Didrik
Grönvold (die
Erzählungen:
»Storstadgutterne« und »Af Kopistens
Papirer«) und Nordahl Rolfsen, dessen Märchenkomödie »Svein Uræd«
(mit
Motiven von norwegischen
Volksmärchen) in verhältnismäßig kurzer Zeit eine große Anzahl Ausführungen erlebte.
Die älteste und hervorragendste der norwegischen
Dichterinnen, Camilla Collett, die
Schwester Henrik
Wergelands, hat
in den letzten
Jahren nichts geschrieben.
Magdalene
Thoresen, ebenfalls zu den
Veteranen der norwegischen Litteratur
gehörend,
trat mit Naturschilderungen aus den nördlichsten Gegenden
Norwegens unter dem Gesamttitel:
»Fra Midnatssolens Land« hervor.
Von jüngern Schriftstellerinnen, deren Werke ein größeres litterarisches
Interesse darbieten, sind zu nennen: Amalie Skram,
die vor etlichen
Jahren mit dem sozialen
Roman »Constance
Ring« debütierte und später unter anderm zwei
Erzählungen: »Sjur
Gabriel« und »To
Venner«, folgen ließ, von welchen die erstere eine derbe, auf genauer Kenntnis gegründete
Schilderung des
Lebens der armen
Fischer auf der Westküste
Norwegens gibt, und Alvilde Prydz, deren
Erzählungen: »I
Moll« und
»Underveis« gute novellistische
Anlagen verraten.
Die lyrische
Dichtung weist gegenwärtig nur wenige Vertreter auf: Kristoffer
Randers mit dem
Cyklus
»Unge Sange«,
Theodor
Caspari
mit der Sammlung
»Lyrik og
Satire« und
Nils Collett
Vogt mit einem
Bande Gedichte. Auch
Jonas
Lie hat seine zerstreuten
Lieder und
Gedichte gesammelt herausgegeben.
Endlich ist in unsrer Übersicht auch eines besondern Vertreters des
modernen
Naturalismus, der sogen.
Bohême-Litteratur, zu gedenken, wenn auch diese
Richtung bisher keine tiefen
Wurzeln in der
norwegischen Litteratur
zu schlagen vermochte.
Ihren Namen verdankt diese Gattung einem Roman Hans Jägers: »Fra Kristianiabohêmen«, einer krassen Schilderung von dem Leben und Treiben einer Jugend, deren extravagante Ideen vorzüglich auf die Beseitigung aller bestehenden sozialen und sittlichen Schranken gerichtet sind. Vertreter dieser Richtung sind besonders der schon erwähnte Arne Garborg (s. oben), Knut Hamsun (»Sult«) und der Genremaler Christian Krohg (»Albertine«). Während die Erzählungen Garborgs und Hamsuns nach Inhalt und Darstellung ein gewisses Interesse bieten, sind die genannten Werke von Jäger und Krogh mangelhafte u. unkünstlerische Arbeiten, die das Aufsehen, das sie trotzdem bei ihrem Erscheinen hervorriefen, wohl dem Umstand mit zu verdanken hatten, daß sie beide mit Beschlag belegt wurden und ihren Verfassern ¶
mehr
gerichtliche Verfolgung und Strafe einbrachten. Schließlich verdienen auch zwei kritisch-biographische Litteratur
werke genannt
zu werden: das von Henrik Jäger verfaßte, zum 60jährigen Geburtstag des Dichters herausgegebene litterarische Lebensbild
»Henrik Ibsen« (ins Deutsche übersetzt von Zschalig, Dresd. 1890
) und das von Vetle Vislie dem aus dem Bauernstand stammenden,
im J. 1872 gestorbenen Dichter Aasmund Olavsson Vinje, dessen Schriften seit 1882 in neuer Ausgabe erschienen,
gewidmete biographische Buch.
Norwegens einzige schöngeistig-populärwissenschaftliche Zeitschrift, die Monatsschrift »Nyt Tidsskrift«, welche seit 1882 von den Professoren J. E. ^[Johan Ernst] Sars und Olaf Skavlan in Christiania [* 5] herausgegeben wurde, ist Ende 1888 eingegangen. Im allgemeinen hat sie ein charakteristisches Bild der litterarischen Leistungen und Bestrebungen Norwegens dargeboten, und es ist immerhin seltsam, daß Norwegen, [* 6] welches doch dermalen die bedeutendsten Dichter des skandinavischen Nordens aufzuweisen hat, für das Gedeihen eines derartigen litterarischen Unternehmens keinen guten Boden abgibt. Auch die Vorgänger von »Nyt Tidsskrift«: K. A. Winter-Hjelms »Norsk Tidsskrift for Literatur« und Sars-Liebleins »Nyt norsk Tidsskrift«, haben nur ein kurzes Dasein geführt. Die von L. Daae und Yngvar Nielsen redigierte Monatsschrift »Vidar« bietet nur geringen Ersatz für »Nyt Tidsskrift«, da sie fast ausschließlich wissenschaftliche Aufsätze enthält.