Mutterplage
,
s. v. w. Hysterie.
Mutterplage
8 Wörter, 74 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Mutterplage,
s. v. w. Hysterie.
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Mutterplage,
soviel wie Hysterie (s. d.). ^[= (vom grch. hystéra, Gebärmutter), Mutterplage, Mutterstaupe, eine eigentümliche, unter sehr ...]
(griech., v. hystera, »Gebärmutter«, [* 4] Mutterweh),
eine Seelenstörung, die, äußerst wechselvoll in ihren Erscheinungen, dadurch charakterisiert ist, daß eine krankhafte Erregbarkeit vom »himmelhoch Jauchzen zum Tode betrübt« durch geringe äußere Anlässe hervorgerufen wird, und daß die verschiedensten Stimmungen in raschem, unmotiviertem Wechsel einander ablösen. Die Krankheit hat sehr viel Dunkles; am wahrscheinlichsten ist die Annahme, daß der eine nicht näher zu bezeichnende Ernährungsstörung des gesamten Nervensystems, der zentralen wie der peripherischen Teile desselben, zu Grunde liege. Da die Hysterie im strengern Sinne nur beim weiblichen Geschlecht und zwar vorzugsweise von der Zeit der Pubertätsentwickelung an bis zum Erlöschen der Geschlechtsfunktionen beobachtet wird, und da in vielen Fällen Krankheiten der Geschlechtsorgane die Hysterie begleiten, so hat sich die Ansicht gebildet, daß die eine von den Nerven [* 5] der Geschlechtsorgane ausgehende Störung des gesamten Nervensystems sei.
Bei vielen Fällen von Hysterie trifft diese Ansicht allerdings vollkommen zu. Dagegen wäre es verfehlt, wenn man in allen Fällen, wo keine nachweisbaren Erkrankungen, namentlich chronische Entzündungen, der weiblichen Beckenorgane vorliegen, die Hysterie von widernatürlicher Aufregung und Befriedigung des Geschlechtstriebs herleiten wollte. Das häufige Vorkommen der Hysterie bei kinderlosen Frauen, jungen Witwen und alten Jungfern, zumal in den höhern Gesellschaftskreisen, ist weit mehr von psychischen als von körperlichen Einflüssen herzuleiten.
Ähnliches gilt von dem häufigen Fall, daß Frauen hysterisch werden, welche an impotente Männer verheiratet sind. Überhaupt beruht die Hysterie oft auf dem dunkeln Gefühl und dem niederschlagenden Bewußtsein eines verfehlten Lebens, wie es z. B. eintritt, wenn die Ehe nicht den gemütlichen Anforderungen entspricht, zu welchen die Frau berechtigt ist. Das häufige Vorkommen der Hysterie bei Blutarmut und Bleichsucht, ohne daß die bisher aufgezählten ursachlichen Momente vorhanden sind, ist ein Beweis dafür, daß die Hysterie auf abnorme Ernährung des ganzen Nervensystems zurückzuführen ist. Es besteht bei den einzelnen Individuen eine sehr verschiedene Disposition zur Hysterie; ja, es scheint sogar, als ob eine, sei es angeborne, sei es erworbene, Anlage zur Hysterie bei der Entstehung dieser Krankheit ebensosehr in die Wagschale fiele als die bisher erwähnten ursachlichen Einflüsse.
Vor dem 12.-15. Jahr zeigen sich nur selten deutliche Spuren der auch im Alter wird die Krankheit selten beobachtet; wohl aber dauert die auch nach dem Erlöschen der Geschlechtsfunktionen in mäßigerm Grad fort. Nicht selten ist die Anlage zur Hysterie ganz unverkennbar eine angeborne, und vom allergrößten Einfluß auf dieselbe ist die Lebensweise und die Erziehung. Dadurch, daß man die Kinder zum Fleiß und zur Selbstbeherrschung anleitet, daß man heranwachsende Mädchen nicht den ganzen Tag über stricken und nähen und ähnliche Arbeiten verrichten läßt, bei denen sie ihren Gedanken und Träumereien ungestört nachhängen können, daß man sie ferner vor schlechter Lektüre bewahrt, durch welche sie mit überspannten Ideen vertraut gemacht werden: dadurch wird man sie am besten vor der Gefahr schützen, später hysterisch zu werden.
Das Symptomenbild der Hysterie ist dem größten Wechsel unterworfen. Die häufigsten Erscheinungen der Hysterie, welche fast nie fehlen, sind Sensibilitätsstörungen. Unter ihnen tritt namentlich die allgemein gesteigerte Empfindlichkeit hervor, welche Laien gewöhnlich als Nervenschwäche bezeichnen. Zuweilen äußert sich diese als ganz ungewöhnliche Schärfe der Sinne, namentlich des Geruchs und des Geschmacks, welche auf Menschen von niederer Bildungsstufe leicht den Eindruck des Wunderbaren macht und deshalb vielfach zu Betrügereien benutzt wird.
Häufiger gibt sie sich durch das Unbehagen zu erkennen, welches schon durch schwache Reizungen der Sinnesnerven bei ihnen hervorgebracht wird. Manche Hysterische dulden keine Blume im Zimmer, weil sie ihnen zu stark riecht; sie können das Tageslicht nicht ertragen und schließen daher die Läden der Fenster; sie verlangen, daß man sich nur leise flüsternd mit ihnen unterhalte, denn lautes Sprechen ist ihnen unerträglich, etc. Zu dieser übergroßen Empfindlichkeit gesellen sich oft sogen. Idiosynkrasien.
Gewisse Reize nämlich, welche Gesunden im höchsten Grad widerwärtig sind, verursachen durch ihre Qualität den Hysterischen ein Gefühl von Behagen, und umgekehrt werden Hysterische durch solche Eindrücke schwer verletzt, welche Gesunden angenehm sind. Hysterische lieben z. B. den Geruch verbrannter Federn, nehmen Asa foetida ohne Widerstreben zu sich, finden aber den Geruch des Veilchens unausstehlich. Ferner kommen bei der Hysterie im Bereich der sensibeln Nerven auch Zustände wirklich krankhafter Erregung vor.
Hierher gehören die verschiedenen Neuralgien, der Gesichtsschmerz, die Migräne, die Ischias etc.; dann der heftige Schmerz, welcher an einer kleinen Stelle des Kopfes, gewöhnlich neben dem Scheitel, bei vielen Hysterischen vorkommt und unter dem Namen Clavus hystericus (der Nagel) bekannt ist; ferner der fast nie fehlende Rückenschmerz und endlich ein höchst eigentümliches Gelenkleiden (Arthropathia hysterica), welches in einer oft enormen Schmerzhaftigkeit des befallenen Gelenks besteht und wegen seiner Hartnäckigkeit leicht mit einer schweren Gelenkentzündung verwechselt werden kann.
Auch an den Sinnesnerven kommen krankhafte Erregungszustände vor: die Kranken klagen über einen bestimmten Geruch, einen bestimmten Geschmack, der sie nie verläßt, etc. Merkwürdigerweise kommt neben diesen Erscheinungen auch Anästhesie, also abgestumpfte Empfindlichkeit, an größern und kleinern Körperstellen vor. Indessen ist es sehr schwer, die Abstumpfung der Empfindlichkeit zu konstatieren, da viele Hysterische sich darauf kaprizieren, keine Schmerzempfindungen zu äußern, wenn man sie an bestimmten Stellen kneipt, brennt oder sticht.
Wichtige und häufige Symptome der Hysterie sind weiterhin gewisse krankhafte Schmerzempfindungen in den innern Organen. Die Hysterischen haben von dem jeweiligen Zustand ihrer Eingeweide [* 6] die mannigfachsten und wunderbarsten Empfindungen. Fast alle Hysterischen klagen über Herzklopfen, viele über lästiges Pulsieren ihrer Schlagadern, obschon Herzschlag und Puls sich normal verhalten. Ebenso ist es mit dem Atmungsbedürfnis. Die Kranken klagen über heftige Beklemmung, obschon nicht die geringste Störung auf der Brust nachweisbar ist. Fast alle Hysterischen klagen, auch wenn ihre Verdauung ganz gut von statten geht, über Druck und Völle in ¶
der Magengegend, über Magen- und Kolikschmerzen und geben die abenteuerlichsten Schilderungen ihrer Empfindungen im Bauch. [* 8] Dagegen sind abnorme Empfindungen der Geschlechtsteile seltener bei der als man erwarten möchte. Nicht minder zahlreich und mannigfach sind die Motilitätsstörungen bei der Hysterie. Am häufigsten stellen sie sich als hysterische Krämpfe dar. Das Bewußtsein ist während dieser Krämpfe niemals aufgehoben, doch erinnern sich die Kranken nur summarisch und nicht der einzelnen Vorgänge während des Anfalles.
Die Krämpfe erscheinen bald nur als vereinzelte Zuckungen, namentlich der Arme, bald erstrecken sie sich fast über den ganzen Körper und bieten ganz das Bild der epileptischen Krämpfe dar. Auch starrkrampfähnliche Zustände kommen bei Hysterie vor, und Lach-, Wein- und Gähnkrämpfe sind dabei etwas ganz Gewöhnliches. Ferner gehören hierher der hysterische Husten und die krampfhafte Zusammenziehung des Schlundes, welche bei den Kranken die Empfindung erweckt, als steige eine Kugel von der Magengrube gegen die Kehle hinauf (globus hystericus). Neben den Krämpfen kommen hysterische Lähmungen vor. Bald betreffen sie nur einen Arm, ein Bein, bald auch eine ganze Körperhälfte. Die hysterischen Lähmungen gehen oft schnell vorüber, wechseln ihren Sitz etc. Sie sind offenbar zentralen Ursprungs; die gelähmten Muskeln [* 9] reagieren prompt auf den Reiz des elektrischen Stroms. - Derartige Krämpfe und Lähmungen nennt man, auch wenn sie bei jungen Männern vorkommen, hysterische.
Auffallend ist an Hysterischen die ungleiche Blutverteilung im Körper: die meisten Kranken haben beständig kalte Hände und Füße, über das Antlitz aber ergießt sich oft eine brennende, schnell vorübergehende Röte. Bei der Hysterie kommt ferner eine periodische Steigerung der Harnabsonderung vor, der Harn ist dann dünn und blaß. Die letztern Erscheinungen sind Beweis dafür, daß auch die Gefäßnerven bei der Hysterie mit alteriert sind. Die eigentlichen Seelenstörungen sind ausgezeichnet durch die lebhafte Empfindung, die durch kleine Anlässe sich zu exzentrischen Äußerungen der Freude oder des Schmerzes steigert, und vor allem durch die Oberflächlichkeit aller Eindrücke, durch den raschen Wechsel der Stimmungen, der Gelüste, der Einbildungen. Es besteht ein Drang, sich wichtig und interessant zu machen, von körperlichen Leiden [* 10] übertriebene Schilderungen zu entwerfen, Ärzte und Umgebung zu täuschen (Verschlucken von Nadeln, [* 11] Stigmatisieren, Selbstverletzungen). Ferner leidet die Treue bei Wiedergabe erlebter oder gehörter Ereignisse, wobei die erregbare Phantasie und nicht selten Zwangsvorstellungen mitwirken, so daß die Kranken als Lügner erscheinen.
In schweren Fällen artet die Hysterie zu wirklicher Geisteskrankheit aus, die dann entweder ähnlich der Epilepsie mit Krämpfen oder vorwiegend mit religiösen Delirien, Visionen etc. verläuft, wie sie in Klöstern epidemisch beobachtet werden. Selten entstehen unheilbare Zustände von Verrücktheit (Hysteromanie, Hysteromelancholie). Verlauf und Dauer der Hysterie sind an keine bestimmte Regel gebunden, die Krankheit kann Jahrzehnte hindurch in wechselnder Stärke [* 12] bestehen; in den klimakterischen Jahren aber pflegt sie nachzulassen.
Die Hysterie ist heilbar, aber viele Fälle trotzen jeder Behandlung und werden kaum vorübergehend gebessert. Daß die Anlage zur Hysterie durch eine vernünftige Erziehung und Lebensweise fern gehalten werden kann, wurde bereits oben erwähnt. Ist die Krankheit aber ausgebrochen, so wird zunächst den etwanigen Veranlassungen der Hysterie nachzuforschen und auf Beseitigung derselben zu denken sein. Demnach werden Störungen an den Geschlechtsorganen örtlich zu behandeln, Blutarmut und Bleichsucht durch Eisen- und Chinapräparate zu bekämpfen, psychische Affekte schädlicher Art zu verhüten sein etc. In vielen Fällen ist eine durchgreifende Änderung der ganzen Lebensweise und der Ernährung gegen die Hysterie von Erfolg, und zwar eignen sich hierzu die Kaltwasserkuren, die Seebäder, die Brunnenkuren in Marienbad, Kissingen [* 13] u. dgl. Eine wichtige Rolle bei der Behandlung der Hysterie spielen die sogen. Nervina, Mittel, von welchen wir vermuten, daß sie auf die Ernährung und den Stoffwechsel, speziell des Nervensystems, einen Einfluß ausüben.
Die berühmtesten Nervenmittel dieser Art sind das Castoreum, der Baldrian (als Thee, Tinktur etc.), die Asa foetida. Das Bromkalium in großen Dosen, Bromäthyl-Einatmungen, Hyoscyamin und das Morphium sind bei Erregungszuständen im Klimakterium oft von vorzüglicher Wirkung. Von der allergrößten Bedeutung ist jedoch die psychische Behandlung der über welche sich keine allgemeinen Regeln aufstellen lassen. Über die Behandlung hysterischer Lähmungen vgl. Metalloskopie. Die Lähmungen werden auch durch innerliche Darreichung von Strychnin, die Krämpfe durch Krotonchloral gebessert.