Mnemōnik
(Mnemotechnik, Anamnestik, griech.), Gedächtniskunst. Die Psychologie unterscheidet ein dreifaches Gedächtnis: das mechanische oder äußerliche, welches Vorstellungsreihen oder -Gruppen, so wie sie sich natürlich darbieten, ohne Rücksicht auf ihre innere Zusammengehörigkeit einprägt;
das ingeniöse oder künstliche, welches die Vorstellungen durch künstliche Hilfen (Brücken), [* 2] und das judiziöse oder logische, verständige, welches die Vorstellungen durch Urteile verknüpft.
Für eine wahrhaft humane Ausbildung des Gedächtnisses muß die Pflege des ersten als unerläßliche Grundlage, die des letzten als das allein bestimmende Ziel angesehen werden. Aber auch zu der Einprägung von Vorstellungen mittels künstlicher Kombinationen haben die mannigfaltigen Ansprüche des Lebens immer gedrängt, und niemand wird sich ihrer ganz entschlagen (Knoten im Taschentuch, Gedächtniswörter und -Verse in der Grammatik, Logik etc.). In gewisser Weise kann man selbst die Bezeichnung der Lautsprache durch die an sich willkürlich gewählten Schriftzeichen hierher rechnen.
Gegen eine systematische Anwendung künstlicher Gedächtnishilfen haben sich aber wiederholt gewichtige Stimmen ausgesprochen. Kant z. B. nennt die Methode des ingeniösen Memorierens in seiner »Anthropologie« geradezu ungereimt und zweckwidrig, indem man nach ihr zwei oder mehr willkürlich zusammengesuchte Vorstellungsreihen statt einer einprägen müsse. Anderseits hat die Gedächtniskunst von jeher eifrige Pflege gefunden. Schon bei begabtern Naturvölkern, z. B. den alten Peruanern, hat man sie beobachtet.
Die alten Griechen und Römer [* 3] kannten sie als angebliche Erfindung des Dichters Simonides (s. d.), welche besonders bei den Rednern Verwendung fand (Cicero, »De oratore«, II, 84, 85). Diese merkten sich große Vorstellungsmassen dadurch, daß sie dieselben örtlich in einer Stadt oder in mehreren Städten und innerhalb dieser wieder in Häusern und Zimmern von bestimmter Anzahl verteilt dachten. Seit dem 15. Jahrh. wurde diese Methode, wenn auch hier und da verändert, wieder hervorgezogen und oft mit überraschendem Erfolg angewandt.
Konrad
Celtes,
Giordano
Bruno,
Picus von
Mirandola, die
Deutschen
Lambert
Schenkel und
Winckelmann, der
Engländer
Grey wußten die
Aufmerksamkeit
der gelehrten
Welt auf die Mnemonik
zu lenken.
Leibniz beschäftigte sich mit ihr im
Interesse der von ihm gesuchten
Pasigraphie, d. h.
einer für alle
Sprachen gemeinsam einzuführenden
Schrift.
Neu ist bei diesen modernen Vertretern der Mnemonik
wesentlich
nur das
Mittel der
Substitution, indem man sinnliche
Vorstellungen,
Begriffe,
Buchstaben durch
Zahlen oder
diese durch jene ersetzt. In unserm
Jahrhundert erregten nacheinander folgende Mnemoniker
durch ihre
Schriften größeres Aufsehen:
Kästner, ein sächsischer Landgeistlicher, um 1800 oder
System der
Gedächtniskunst der Alten«, 2. Aufl., Leipz. 1805),
Freiherr
v.
Aretin (»Systematische Anleitung zur
Theorie und
Praxis der Mnemonik«
, Sulzb. 1810);
die Franzosen Grégoire de Feinaigle (1805),
Aimé Paris [* 4] (»Principes et applications diverses de la mnémotechnie«, 7. Aufl., Par. 1833),
Feliciano und Alexandre da Castilho (»Traité de mnémotechnie«, 5. Aufl., Bordeaux [* 5] 1835, und »Dictionnaire mnémonique«),
A. Gratacap (»Analyse des faits de mémoire«, Par. 1867; »Théorie de la mémoire«, 1866);
ferner die
Polen Jazwinski und
General
Bem, der
Däne
Karl
Otto, genannt
Reventlow (»Lehrbuch der Mnemotechnik«, 2. Aufl.,
Stuttg. 1847, und
»Wörterbuch der Mnemonik«
, das. 1844);
endlich
Hermann
Kothe (»Lehrbuch der Mnemonik«
, 2. Aufl.,
Hamb. 1852;
»Katechismus der
Gedächtniskunst«, 6. Aufl., Leipz. 1887) und
Hugo
Weber-Rumpe (»Mnemonisches Zahlwörterbuch«,
das. 1880; »Mnemonische
Unterrichtsbriefe«, Bresl., seit 1882).
Mehrere der Genannten empfahlen als Reisende
ihre
Theorien durch praktische
Vorstellungen, bei denen teilweise außerordentliche Leistungen zu
Tage traten. In dieser Beziehung
ist als verwandte
Erscheinung der
Schnellrechner
Zacharias
Dase (s. d.) zu nennen. Die
Pädagogik, der man immer wieder die Mnemonik
angepriesen
hat, kann wohl von einigen mnemonischen Kunstgriffen, z. B. im Gebiet
der
Chronologie, fruchtbare Anwendung machen, wird aber, je mehr sie sich auf wissenschaftlich-psychologischer Grundlage
aufbaut und die innere Aneignung des Unterrichtsstoffs von seiten des
Schülers anstrebt, desto entschiedener das verständige
Gedächtnis bevorzugen und die systematische Verwendung der Mnemonik
den
Polyhistoren und Gedächtnisvirtuosen überlassen müssen.
Vgl. Drbal, Empirische Psychologie (4. Aufl., Wien [* 6] 1885).