Meerlinsigkeit
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Meerlinsigkeit,
des Rindes (Tuberkulosis des Rindes, Hirsesucht, Franzosenkrankheit, Meerlinsigkeit), chronischer, geschwulstbildender Krankheitsprozeß an den serösen Häuten der Brust- und Bauchhöhle, aber auch in der Substanz der Lungen, Leber, Nieren etc. des Rindes, dessen Wesen eine sehr verschiedene Deutung gefunden hat. Vor mehreren Jahrhunderten tauchte die Meinung auf, daß die sowohl vereinzelt als in größern und kleinern Gruppen zusammenhängenden, oft traubenförmig gestalteten Knoten etwas Unreines seien, und daß nicht bloß der zufällige oder absichtliche Genuß solcher Krankheitsprodukte, sondern auch schon die einfache Berührung derselben dem Menschen eine Gefahr bringen könne.
Als im 15. und 16. Jahrh. die Syphilis des Menschen in den westeuropäischen Staaten sich ausbreitete und mit allen möglichen ursachlichen Einflüssen, namentlich mit fehlerhafter Ernährung, in Verbindung gebracht wurde, kam man auf den Gedanken, daß die Perlsucht eine mit der Syphilis identische Krankheit sei, und daß Menschen von solchen Tieren sowohl durch den Fleischgenuß als durch die Berührung der innern Organe mit dem Keim der Syphilis behaftet werden könnten.
Aus diesem Irrtum erklärt sich der gleichbedeutend mit der Syphilis gebrauchte Ausdruck »Franzosenkrankheit«, mit welchem die Perlsucht bis zur Gegenwart oft bezeichnet ist. Die in Form von Knötchen und Knoten sich vollziehende Entwickelung der Perlgeschwülste war die nächste Veranlassung, die Krankheit als »Tuberkulose« zu deuten. Hiermit stimmte die Thatsache überein, daß die Perlsucht zwar viele Monate lang in einem Tier bestehen kann, ohne eine erhebliche Störung der Gesundheit und der wirtschaftlichen Ertragsfähigkeit desselben herbeizuführen, daß dieselbe aber auch recht häufig durch allmähliche Abmagerung (Schwindsucht) einen tödlichen Ausgang nimmt.
Diese Definition, die, ohne auf histologische Untersuchungen begründet zu sein, das Richtige getroffen hat, stieß auf Zweifel, nachdem Laënnec die Tuberkulose des Menschen begrifflich mit der Lungenschwindsucht (Phthisis) identifizierte. Hiernach betrachtete man in der Pathologie des Menschen alle krankhaften Prozesse, welche mit der Phthisis in Verbindung stehen, schlechtweg als »tuberkulöse«. Es erschien ausreichend, in der Entwickelung und im Verlauf der angeblich tuberkulösen Zustände zwei Formen, die Granulation und die Infiltration der Tuberkeln, zuzugestehen, um sich mit der theoretischen Erklärung der Krankheit abzufinden.
Nun werden beim Rind [* 3] in den Lungen und auch in andern Organen Tuberkeln und käsige Herde von ganz gleichen Eigenschaften wie beim Menschen gefunden. Aber daneben kommen besonders an der Brusthaut und am Bauchfell sowie in den Lymphdrüsen die mehr augenfälligen fest-weichen und verkalkten Neubildungen vor, die vorzugsweise als Perlsucht angesehen werden. In der Deutung dieser Verschiedenheiten trennten sich die tierärztlichen Autoren. Von einer Seite wurden nach Analogie der Laënnecschen Erklärung sämtliche Neubildungen und Herde als der Perlsucht angehörig betrachtet und letztere für die Tuberkulose des Rindes ausgegeben, während andre Autoren in der Perlsucht eine besondere Krankheit erblickten, die zwar verwandt, aber nicht identisch mit der Tuberkulose des Menschen sei.
Gurlt stellte die Perlgeschwülste des Rindes in die Reihe der sarkomatösen Neubildungen, und Virchow, der ihre nahe Verwandtschaft mit den Tuberkeln keineswegs leugnete, sprach sich dahin aus, daß sie mit den Lymphosarkomen des Menschen am meisten übereinstimmten. Dagegen verblieben die namhaftesten Tierärzte bei der Ansicht, daß die Perlsucht eine tuberkulöse Krankheit sei. Die Entwickelung des Leidens führte man seit dem 18. Jahrh. stets auf eine ererbte Anlage zurück, die man aber niemals durch andre Gründe als durch die Thatsache, daß die Perlsucht nach und nach eine größere Zahl von Rindern eines Viehbestandes befällt, hat beweisen können. ¶
Im J. 1866 trat Villemin zuerst für die Auffassung ein, daß die menschliche Tuberkulose eine infektiöse Krankheit sei. Bei der außerordentlichen Tragweite, welche die Schwindsucht des Menschen hat, unternahmen alsbald die namhaftesten Pathologen spezielle Untersuchungen zur Prüfung dieser Frage. Hierbei ergab sich zur Evidenz, daß von einem käsigen Herd, resp. von einem im Zerfall begriffenen Tuberkel in der Nachbarschaft eine Infektion gesetzt und die Entwickelung von Tuberkeln verursacht werden kann.
Eulenburg, Klebs u. a. impften die Tuberkelmassen bei gesunden Tieren, vorzugsweise Kaninchen [* 5] und Meerschweinchen, und erzeugten bei den letztern die echte Tuberkulose (Impftuberkulose). Die Beobachtung, daß auch die in Geschwüren entstehenden eiterigen Entzündungsprodukte nach der Impfung [* 6] die Ausbildung von Tuberkeln in den innern Organen der Versuchstiere zur Folge hatten, mußte die Erklärung der gefundenen Thatsache zwar erschweren, konnte aber die Bedeutung der Versuche nicht beeinträchtigen.
Klebs gelang auch die Einimpfung der bei der Perlsucht sich bildenden krankhaften Produkte, womit die Deutung der Krankheit als Tuberkulose einen neuen Untergrund erhielt. Bei dieser Sachlage stellte sich Gerlach die Frage, ob nicht durch die Verfütterung der bei der Perlsucht sich bildenden Knoten und Herde eine Übertragung der Krankheit bewirkt werden könne, und ob nicht vielleicht die tuberkulöse Schwindsucht des Menschen zum Teil in der Aufnahme eines spezifischen Virus durch die Nahrung ihre Entstehung finde. Die Versuche Gerlachs, die vorzugsweise bei jungen Schweinen angestellt wurden, ergaben, daß eine große Zahl der Versuchstiere in die Tuberkulose verfiel.
Neben Klebs und Gerlach haben Roloff, Bollinger, Orth u. a. die Resultate ihrer methodisch durchgeführten Fütterungsversuche mit den krankhaften Produkten der Perlsucht veröffentlicht. Sie hatten gefunden, daß empfängliche Tiere nach der Fütterung von Perlknoten an der Tuberkulose (»Fütterungstuberkulose«) erkranken. Es ist nicht zu leugnen, daß die Vorstellung von der Wirksamkeit eines spezifischen Tuberkelvirus hierdurch eine erhebliche Unterstützung erhalten mußte.
Gegenüber dieser Ansicht hat sich Virchow sehr reserviert ausgesprochen. Er nimmt auf Grund seiner vier Jahre hindurch fortgesetzten Versuche an, daß zwar die nach der Fütterung beobachteten zahlreichen Krankheitsfälle den Verdacht der Schädlichkeit perlsüchtiger Tiere für Menschen begründen können, daß aber der Verdacht nicht so groß sei, um ein allgemeines Verbot des Genusses von Fleisch solcher Tiere zu rechtfertigen. Durch R. Koch wurde 1882 der Nachweis erbracht, daß die Perlsucht und die menschliche Schwindsucht (Skrofulose und Tuberkulose) durch einen spezifischen Pilz, [* 7] eine besondere Art des Bacillus, verursacht wird. Mit dieser Entdeckung scheint die vielumstrittene Frage, ob die Perlsucht und die menschliche Tuberkulose identische Krankheiten seien, definitiv entschieden. Wenn beide Krankheiten, wie Koch behauptet, auf eine ursachliche Einheit (die Bakterien) zurückgeführt werden müssen, so sind ihre Formverschiedenheiten unwesentlich.
Bei allgemeiner Verbreitung der Perlknoten im Körper sowie beim Vorkommen tuberkulöser Herde im Muskelfleisch und bei erheblicher Abmagerung der betreffenden Tiere darf das Fleisch nach dem Nahrungsmittelgesetz nicht in den Verkehr gebracht werden. Auch in jedem andern Fall müssen die Perlknoten und die mit Tuberkeln behafteten Organe als gesundheitsgefährlich angesehen werden und der Vernichtung anheimfallen. Wie vom Fleisch, so ist auch von der Milch perlsüchtiger Kühe behauptet worden, daß Menschen, namentlich Kinder, durch den Genuß derselben mit der Schwindsucht behaftet werden sollen.
Da aber der Milch überhaupt nicht angesehen werden kann, ob sie von perlsüchtigen Kühen stammt, und da überdies die Perlsucht an lebenden Tieren nur sehr schwer und selten mit völliger Sicherheit zu diagnostizieren ist, so wird die hier in Betracht kommende Frage wohl niemals durch den Erlaß polizeilicher Beschränkungsmaßregeln bezüglich des Milchverkaufs zu lösen sein. In großen Städten haben die Besitzer der Milchwirtschaften die tierärztliche Überwachung des Gesundheitszustandes der Milchkühe in geschäftlichem Interesse angeordnet. Da die Heilung der Perlsucht nicht möglich ist, so bleibt die Bekämpfung derselben ausschließlich auf die möglichst frühzeitige Abschlachtung der betreffenden Tiere und auf die Prophylaxis beschränkt. In letzterm Betracht empfiehlt sich die Benutzung notorisch gesunder und kräftig gebauter Viehschläge zur Zucht und die Ausmerzung aller schwächlich gebauten Tiere.