Naturforschung
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im allgemeinen jede Beschäftigung, welche den Zweck hat, unser Wissen von der Natur zu vermehren, im höhern Sinn aber besonders die Erforschung der Gesetze, nach denen die Veränderungen in der Natur stattfinden, der Naturgesetze. Sind solche Gesetze vollständig bekannt, so verlangen sie einen mathematischen Ausdruck; man kann daher die Mathematik die Gesetzgeberin der Natur nennen. Die Naturwissenschaften sind aber noch keineswegs überall im stande, die mathematischen Naturgesetze aufzustellen. Am vollständigsten ist das der Fall in der Astronomie [* 2] seit den Entdeckungen von Kepler und Newton.
Auch die Mechanik gründet sich auf Mathematik, ebenso ein Teil der Physik, Chemie und Physiologie, und die Darwinschen Untersuchungen haben einen nachhaltigen Anstoß gegeben, um auch bei der Betrachtung des organischen Lebens mechanische Prinzipien in Anwendung zu bringen. Freilich liegen hier die Verhältnisse so verwickelt, daß ihre Ergründung und Zurückführung auf einfache Zahlenwerte ungleich schwieriger sein müssen. Während nämlich bei der Bewegung der Himmelskörper zunächst eine Naturkraft, die Schwerkraft oder Gravitation, so in den Vordergrund tritt, daß wir ohne wesentlichen Fehler von den übrigen Naturkräften absehen können, sind bei den tellurischen Vorgängen, wie z. B. im Leben der Organismen, der ganze Komplex der Naturkräfte, wie Wärme, [* 3] Licht, [* 4] Elektrizität, [* 5] Magnetismus, [* 6] die chemischen Affinitäten und physikalischen Molekularkräfte, zugleich thätig und zwar so, daß wir keine dieser Kräfte in ihrer Wirkung unbeachtet lassen dürfen.
Dazu kommt noch, daß wir die letztern, bei Berührung der Teilchen zur Wirkung kommenden Kräfte noch nicht mathematisch ableiten können. Alles, was sich nach mathematischen Formeln ableiten läßt, was also naturwissenschaftlich erklärbar ist, besteht in Raumveränderungen, d. h. Bewegungen. Einer der ersten und unabweislich notwendigen Grundsätze unsrer Vernunft, ohne den wir nicht den geringsten Gedanken zu fassen vermögen, ist der Grundsatz der Kausalität, d. h. die notwendige Voraussetzung, daß jede Veränderung ihre Ursache haben müsse.
Damit hängt innig zusammen der
Grundsatz der Beharrlichkeit von
Masse und
Kraft,
[* 7] d. h. die
Vorstellung, daß jedes
Ding so lange
genau in demselben Zustand der
Ruhe oder der
Bewegung verharrt, bis eine neue
Ursache hinzutritt, und daß von der vorhandenen
Masse und
Kraft nichts verloren geht, daß aber auch nichts hinzukommt.
Sehen
[* 8] wir also eine Veränderung
des Zustandes der
Körper, so kommen wir auf die
Vorstellung der
Ursache dieser Veränderung. Die nach mathematischen
Gesetzen
wirkenden
Ursachen nennen wir
Naturkräfte (s. d.). Wo die elementaren
Naturkräfte alsdann in psychische übergehen, also in der
Psychologie, hat man der Naturforschung
eine letzte
Grenze stecken und ein »ignorabimus!« aussprechen wollen, welches
jedoch auf lebhaften
Widerspruch gestoßen ist; ebenso ist die auf einer der letzten
Naturforscherversammlungen ausgesprochene
Forderung einer Selbstbeschränkung der Forschung, gegenüber gewissen kühnen Folgerungen der Neuzeit, mit einer energischen
Betonung
[* 9] der
Freiheit der Forschung und ihrer
Lehre
[* 10] beantwortet worden.
Vgl. Du Bois-Reymond, »Über die Grenzen [* 11] des Naturerkennens« und »Die sieben Welträtsel«, zwei Vorträge (neue Ausg., Leipz. 1884);
Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat (Berl. 1877);
Häckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre (Stuttg. 1878).