Lehrgedicht
(didaktische Poesie), angeblich eine besondere
Gattung der
Poesie, deren
Berechtigung als solche mit
Recht
bestritten wird. Der wahre
Zweck der
Poesie kann nur diese selbst sein; soll das
Wesen eines Gedichts und seine eigentliche
Absicht in Belehrung liegen, so wird das Werk zu einem Erzeugnis der bloßen
Reflexion,
[* 2] das von der
Poesie
nur die äußern
Formen leiht. Das ist zu unterscheiden von dem lehrreichen Gedicht, welches didaktisch
heißt, aber lyrisch
ist, weil es aus
Stimmung, nicht aus
Reflexion entspringt und daher zwar lehrt, aber ohne es zu wollen. Das Lehrgedicht
gehört daher
nicht zur schönen, sondern, sofern es das Wahre sinnlich darstellt, zur symbolischen, sofern es das
Gute versinnlicht, zur moralischen, sofern es ein lediglich Nützliches in schöne Form einkleidet, zur verschönernden
Kunst. Der ersten Art gehört der
Natur- und Geschichtsmythus,
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der zweiten die (Äsopische) Fabel, der dritten das belehrende Gedicht (Vergils »Georgica«, Horaz' »Brief über die Dichtkunst«
u. a.) an. Das Lehrgedicht
entspricht einer Stufe der Entwickelung der Völker, wo die Wissenschaft ihre selbständige Form noch nicht
gefunden hat (die Sutras des Kapila bei den Indern, die philosophischen Lehrgedichte
des Xenophanes, Parmenides,
Empedokles u. a., die »Theogonie« des Hesiod bei den Griechen, die Fabeln des Bidpai und des Äsop, das Gedicht »Werke und Tage«
des Hesiod).
Die Beibehaltung desselben neben der Wissenschaft kündigt den Verfall der Poesie oder wenigstens deren Mangel bei den »Poeten«
an, den auch die prunkvollste Rhetorik nicht zu verhüllen vermag. Dies zeigen in der Geschichte der römischen
Poesie des Lukrez übrigens höchst geistvolle poetische Darstellung des Epikureischen Systems in dem Gedicht »De rerum natura«,
die »Georgica« des Vergil, die fast allen spätern didaktischen
Dichtern zum Muster gedient haben, Ovids »Ars amandi« und des
Horaz »Ars poetica«.
Unter den neuern Völkern ward das Lehrgedicht
besonders bei den Franzosen gepflegt von Racine, Boileau, Dorat, Lacombe,
Delille. Die namhaftesten englischen hierher gehörigen Dichter sind: Davies, Dyer, Akenside, Dryden, Pope, Young, Erasmus Darwin.
Auch in Deutschland
[* 4] fand die didaktische Poesie schon früh eine günstige Aufnahme, da sie dem ernsten, kontemplativen Charakter
der Nation besonders zusagte. Bereits zu Ende des 12. Jahrh. und namentlich im 13. kommen
mehrere Gedichte mit bestimmter didaktischer
Tendenz, wenngleich keine eigentlichen Lehrgedichte
im engern Sinn, vor, unter
welchen sich besonders Freidanks »Bescheidenheit« vorteilhaft auszeichnet.
Auch die Zeit der Meistersänger war dieser Gattung günstig, noch mehr aber das 15. Jahrh., in welchem
Sebastian Brant und Thomas Murner die didaktische
Satire mit Talent und Erfolg behandelten. Noch mehr beschäftigte man sich mit
der didaktischen
Poesie im folgenden Jahrhundert, wo auch das eigentliche Lehrgedicht
, obwohl nur in unbedeutenden Versuchen, unter welchen
die des Bartholomäus Ringwald als die gelungensten zu betrachten sind, zuerst auf deutschem Boden aufsproßte.
In den Zeiten der schlesischen Schule bildeten es Opitz, Brockes u. a. nach antiken und französischen Mustern, späterhin Haller,
Dusch, Gleim, Zachariä, Bodmer, Cronegk, Giseke, Lichtwer u. a. aus. Die bedeutendste Richtung erhielt die didaktische Poesie jedoch
durch Lessing, Wieland, Tiedge, dessen »Urania« lange Zeit beim Publikum in hoher Gunst gestanden hat, Neubeck,
dessen »Gesundbrunnen«
A. W. Schlegel empfahl, und Schelling, welcher im L. die vollendete Ineinsbildung von Poesie und Philosophie
und in seiner Naturphilosophie das wahre »Naturepos« sah. Seit der romantischen Schule nahm das Interesse an dem eigentlichen
Lehrgedicht
wieder ab, und erst in neuester Zeit gelang es Leopold Schefer mit seinem »Laienbrevier«, Fr. v. Sallet
mit seinem »Laienevangelium« und besonders Rückert mit seiner »Weisheit des Brahmanen«, die allgemeine Aufmerksamkeit wieder
zu fesseln.