Lebenskraft.
Wie man in der Gegenwart noch nicht im stande ist, alle Lebensvorgänge durch die auch in der unbelebten Natur herrschenden chemischen und physikalischen Gesetze zu erklären (vgl. Leben), so war dies vor Jahrhunderten noch weit weniger möglich. Man sah sich deshalb nach andern Erklärungsgründen für die Erscheinungen der organischen Natur um, da man doch auch auf diesem Gebiet eine strenge Gesetzmäßigkeit nicht verkennen konnte. In frühern Jahrhunderten nahm man sogen. Lebensgeister (spiritus vitales s. animales) an, welche die Aufgabe haben sollten, die Verrichtungen des Lebens zu besorgen.
Später wurde der wachsende Organismus für das Werk einer unbewußt bildenden Keimseele ausgegeben, welcher man einen eignen Bildungstrieb (nisus formativus, s. d.) zuschrieb. Als diese Erklärung nicht mehr Stich halten wollte, nahm man Lebenskräfte oder auch nur eine Lebenskraft an. Autenrieth hielt die Lebenskraft sogar für eine von der Materie ablösbare, selbständige Kraft. Letztere Ansicht bricht schon deshalb in sich zusammen, weil sie auf einer gänzlichen Verkennung des metaphysischen Wesens der Kraft beruht.
Die neuere Physiologie hat den Begriff der Lebenskraft als einer solchen, welche von den übrigen, auch in der unbelebten Natur herrschenden Kräften verschieden sei, ganz aufgegeben. Sie betrachtet das Leben nicht als Ursache, sondern als das Produkt eines Systems von Bedingungen und Mitteln, welche nach denselben mechanischen, physikalischen und chemischen Gesetzen wirken, die in der übrigen Natur gelten, so daß die eigentümliche Gesamtwirkung, wegen deren wir Belebtes von Unbelebtem unterscheiden, nicht von einer Verschiedenheit der Kräfte und Gesetze, sondern von einer Verschiedenheit der in den organischen Keimen dargebotenen Angriffspunkte für diese Kräfte abhängt.
Diese Auffassung der Lebenserscheinungen nennt man die mechanische, im Gegensatz zu der früher herrschenden dynamischen. Sie macht den Versuch, die Gesetze des Lebens mit den sonst bekannten Naturgesetzen in Übereinstimmung zu bringen. Die mechanische Ansicht vom organischen Leben ist allerdings erst dann bewiesen, wenn alle Bewegungen im Organismus wirklich als Wirkungen der den Atomen auch sonst innewohnenden Kräfte nachgewiesen sind, was vorläufig noch nicht entfernt geschehen ist.
Sie empfiehlt sich aber nicht bloß von vornherein durch ihre größere Wahrscheinlichkeit und Einfachheit, sondern sie wird auch durch den ganzen Entwickelungsgang fast zur Gewißheit erhoben. Dieser zeigt nämlich auf das unzweideutigste, daß ganz proportional der Vertiefung der Forschung die Lebenskraft an Boden verloren hat.
Vgl. Lotze, Über Leben und Lebenskraft, in Wagners »Handwörterbuch der Physiologie«, Bd. 1 (Braunschw. 1842);
Preyer, Erforschung des Lebens (Jena 1873).