Leben,
der Inbegriff der charakteristischen Erscheinungen, Thätigkeiten und Bewegungen, welche wir an denjenigen Naturkörpern wahrnehmen, die wir gewöhnlich als Organismen bezeichnen, nämlich an Tieren und Pflanzen, insbesondere derjenigen der Selbstregelung und Überkompensation, welche die Dauerfähigkeit derselben bedingen. Die lebenden Wesen unterscheiden sich von den anorganischen Körpern sowohl durch eine besondere chemische Zusammensetzung ihrer Körpermasse als durch einen eigentümlichen Aufbau.
Als den eigentlichen Träger des Lebens sieht man in neuerer Zeit das Protoplasma (s. d.) an, weil es nicht nur bei vielen niedern Urwesen oder Protisten den gesamten Leib des Lebewesens darstellt und alle Eigenschaften des Lebens, als Bewegung, Reizbarkeit, Ernährung und Fortpflanzung, äußert, sondern weil auch die höher stehenden Organismen im Keimzustand auf einen Tropfen dieser Substanz reduziert sind. Pflüger und andre Biologen haben das aus der großen Zersetzbarkeit des Protoplasmas oder einiger seiner Bestandteile zu erklären gesucht, Löw und Bokorny hierbei besonders auf die große Beweglichkeit und Spannkraft der im lebenden Eiweiß enthaltenen Aldehydgruppen hingewiesen.
Der Tod sei die Folge einer Molekularverschiebung dieser in chemischer Beziehung ausgezeichneten Gruppen. In der That konnten die Genannten zeigen, daß es ein chemisches Reagens gibt, durch welches lebendes Protoplasma vom toten sofort unterschieden werden kann, und dies Reagens besteht in einer alkalischen Silberlösung, welche nur lebendes Protoplasma durch mittels Aldehyd ausgeschiedenes Silber färbt, nicht aber das (wenn auch eben) abgestorbene Protoplasma.
Diese eiweißartige Substanz bildet, wie es scheint, erst aus sich heraus die andern Bestandteile des Körpers, sie umgibt sich auf einer etwas höhern Stufe mit einer Hülle und bildet die Zelle (s. d.), das Elementarorgan, durch dessen Vermehrung u. Aneinanderreihung sich der Leib der höhern Lebewesen aufbaut. Ein unbelebter Körper wächst dadurch, daß sich an seiner Oberfläche kleine Partikelchen einfach ansetzen; die Organismen aber wachsen dadurch, daß sie die sich ihnen darbietenden Nahrungsmittel in sich aufnehmen und zu solchen Stoffen umwandeln, aus welchen sie selbst bestehen.
Man nennt diese Umwandlung die Assimilation (umbildende Aneignung). Mit der Assimilation ist stets auch eine fortwährende Ausscheidung der unbrauchbar gewordenen Bestandteile verbunden. Beide Vorgänge, die Assimilation und die Ausscheidung, werden zusammen als Stoffwechsel bezeichnet, wobei die Atmung, welche nur im latenten auf ein unmerkliches Maß herabsinkt, sonst aber ununterbrochen im Gang ist, durch Sauerstoffaufnahme und Verbrennung der ausgeschiedenen Stoffe zur eigentlichen Quelle der Lebensenergie und Lebenswärme wird.
Diese Vorgänge sind die Grundbedingungen, ohne welche das Leben überhaupt nicht denkbar ist. Von den Organismen hat die eine Gruppe, nämlich die der Tiere, die Fähigkeit, sich infolge eines psychischen Antriebes willkürlich zu bewegen;
den Pflanzen geht diese Fähigkeit im allgemeinen ab, obwohl gewisse Wachstums- und Reizbewegungen bei ihnen allgemein vorkommen;
den unbelebten Körpern aber geht jedes Vermögen, sich aus innern Impulsen zu bewegen, fremde Nahrung aufzunehmen, sie zu gestalten und sich durch die Fortpflanzung zu verjüngen, völlig ab. An Anhaltspunkten für die Unterscheidung zwischen Belebtem und Unbelebtem fehlt es daher nicht;
aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß diese Anhaltspunkte einzeln oder in ihrer
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Gesamtheit zugleich das logische Merkmal jener Grenzlinie abgäben. Schon eine oberflächliche Kritik der oben angeführten Momente wird jeden Denkenden davon überzeugen, daß der Begriff des Lebens dadurch weder erschöpft, noch abgegrenzt ist. Man kann das Leben als Erscheinung einem Feuer vergleichen, welches sich nährt, halb erlischt und wieder aufflammt, und neuere Forscher haben deshalb auch im Feuer den Ursprung des Lebens gesucht. Da indessen die Nahrung und die andern dem Leben unentbehrlichen Bedingungen die Wärme, das Licht etc., von außen kommen, so ist das Leben keine ausschließlich innere Erscheinung, die durch eine spezifische Kraft, die sogen. Lebenskraft (s. d.), unterhalten wird, sondern beruht auf der Wechselwirkung mit den Außendingen.
Daher ist das Leben nichts unveränderlich Gegebenes, sondern zeigt eine Anpassungs- und Entwickelungsfähigkeit, welche uns die Mannigfaltigkeit seiner Formen erklärt. Das Leben des Individuums erscheint in folgenden drei Hauptformen: Das latente oder Keimleben läßt sich an den Samen und Eiern beobachten. Diese Körper behaupten, wenn nicht übermäßig zerstörende Einflüsse der Außenwelt (z. B. hohe Hitzgrade) sie treffen, ihre Gestalt, Beschaffenheit und Lebensfähigkeit viele Jahre lang.
Ähnliche Zustände beobachtet man beim Larven- oder Puppenzustand mancher Insekten, beim Winterschlaf vieler Pflanzen und Tiere, beim Scheintod. Das pflanzliche oder vegetative Leben besteht in Wachstum, Ernährung, Absonderung und Fortpflanzung, ohne willkürliche Bewegungen. Das animalische oder tierische Leben umfaßt die Vorgänge der Empfindung, der willkürlichen Bewegung, des Denkens etc. Den Pflanzen kommen nur die Prozesse des vegetativen Lebens, den Tieren außer diesen noch diejenigen des animalischen Lebens zu. Mit den genannten Formen des Lebens sind freilich nicht alle Äußerungen desselben erschöpft. Das Studium derselben ist Gegenstand der Pflanzen- und Tierkunde, der Anatomie und der Physiologie. Die Gesamtlehre von den Gesetzen und Erscheinungen des Lebens heißt Biologie. - Der Ausdruck Leben wird auch in übertragener Bedeutung vielfach gebraucht.
Man spricht von einem geistigen Leben, von Leben in der Geschichte, von Staats- und Völkerleben etc. Gegen diesen Gebrauch ist an sich nichts einzuwenden; nur soll man nicht glauben, daß er dazu dienen könne, den Begriff des Lebens selbst zu erläutern. Im Gegenteil kann die Übertragung des Begriffs auf ein Gebiet, dem er an sich fremd ist, nur zur Verdunkelung desselben beitragen.
Vgl. Treviranus, Biologie (Götting. 1802-22, 6 Bde.);
Reich, Lehrversuch der Lebenskunde (Berl. 1847, 2 Bde.);
Moleschott, Der Kreislauf des Lebens (5. Aufl., Mainz 1876-1886, 2 Bde.);
Preyer, Erforschung des Lebens (Jena 1873);
Derselbe, Naturwissenschaftliche Thatsachen und Probleme (Berl. 1880);
H. Spencer, Prinzipien der Biologie (deutsch, Stuttg. 1876, 2 Bde.).