Lassalle
,
Ferdinand, hervorragender deutscher Gelehrter und Begründer der
Sozialdemokratie in
Deutschland,
[* 2] wurde zu
Breslau
[* 3] geboren als Sohn eines reichen israelitischen Seidenhändlers, Lassal
(Ferdinand Lassalle
schrieb sich »Lassalle«
erst nach
einem
Pariser Aufenthalt im J. 1846), der ihn für den Handelsstand bestimmt hatte und deshalb auf die
Leipziger
Handelsschule schickte. Aber Lassalle
hatte keine
Neigung für den kaufmännischen
Beruf, er wollte sich der
Wissenschaft
widmen.
Nach zwei
Jahren verließ er im
Sommer 1841 heimlich
Leipzig,
[* 4] bereitete sich dann mit eisernem Fleiß in kurzer Zeit auf das
Abiturientenexamen vor, bestand dieses, überraschte damit seinen
Vater und studierte nun auf den
Universitäten
Breslau und
Berlin
[* 5]
Philosophie,
Philologie und
Archäologie. Seine hohe Begabung, seine ungewöhnlichen Kenntnisse, sein ernstes
wissenschaftliches
Streben erregten die
Aufmerksamkeit seiner akademischen
Lehrer; früh trat er in engere freundschaftliche
Beziehungen zu hervorragenden
Gelehrten, so namentlich in
Berlin zu A.
Böckh, A. v.
Humboldt u. a.
Heine,
den er in
Paris
[* 6] 1846 kennen lernte, entwarf eine glänzende Schilderung von den
Talenten, der
Energie und dem sichern, selbstbewußten
Auftreten des jungen Lassalle
wurde ein begeisterter Anhänger der Hegelschen
Philosophie.
Schon während seiner Universitätszeit arbeitete er an einem Werk über den griechischen Philosophen Heraklit, mit dem er seine wissenschaftliche Laufbahn beginnen wollte. Aber seine Studien wurden dadurch unterbrochen, daß er im Winter 1844/45 in Berlin die Gräfin Sophie Hatzfeldt kennen lernte. Die Gräfin, eine Tochter des Fürsten Hatzfeldt-Trachenberg, damals fast 40 Jahre alt, aber noch eine schöne und imposante Erscheinung, eine geistreiche Frau, war in einer traurigen Lage. Im Alter von 16 Jahren war sie zu einer Konvenienzheirat mit dem mißgestalteten reichen Grafen Edmund von Hatzfeldt-Weisweiler gezwungen worden.
Die
Ehe war eine sehr unglückliche. Die fortgesetzte schlechte Behandlung von seiten ihres Gemahls hatte die Gräfin veranlaßt,
sich von demselben zu trennen. Als Lassalle
sie kennen lernte, hatte ihr der
Graf, während er mit Mätressen
ein ungeheures
Vermögen verschwendete, jede Unterstützung versagt und wollte ihr auch das einzige
Kind, das man ihr gelassen
hatte, den jungen
Grafen
Paul (s. Hatzfeldt 4), entreißen. Das Unglück der schönen, von ihren Verwandten verlassenen
Frau ging dem jungen, ritterlich gesinnten Lassalle
zu
Herzen.
Sein Rechtsgefühl empörte sich, seine trotzige Kampflust erwachte. Er bot der Gräfin sein Vermögen und seine Dienste [* 7] an und begab sich nun mit ihr nach der Rheinprovinz, [* 8] um dort den Kampf gegen den Grafen aufzunehmen. Fast zehn Jahre lang hat er denselben geführt und schließlich siegreich durchgefochten. 1851 wurde die Ehe geschieden, der Graf für den schuldigen Teil erklärt. Aber auch nach der Ehescheidung waren noch viele Prozesse wegen der Vermögensauseinandersetzung zu führen.
Sie endeten damit, daß die Gräfin ein großes Vermögen erhielt. und die Gräfin lebten dann bis zu seinem Tod fortwährend an denselben Orten und in dem engsten freundschaftlichen Verkehr. In jenem Kampf wurde auch in einen Kriminalprozeß, der seiner Zeit viel Aufsehen machte, verwickelt. Zwei Freunde von und der Gräfin, Doktor Mendelssohn und Assessor Oppenheim, hatten im August 1846, um in den Besitz eines Kontrakts zu gelangen, durch welchen der Graf Hatzfeldt seiner Mätresse, der Baronin von Meyendorff, eine jährliche Rente von 25,000 Frank ausgesetzt hatte, im Mainzer Hof [* 9] zu Köln [* 10] sich einer Kassette der Baronin bemächtigt.
Oppenheim hatte die Kassette von dem Reisegepäck der Baronin genommen und Mendelssohn übergeben, der sie in seinem Koffer unterbrachte. Gleich darauf mußten sie ihre Beute, die das gesuchte Aktenstück nicht enthielt, im Stiche lassen und flüchten. Zuerst wurde Oppenheim 1846 wegen Diebstahls angeklagt, aber freigesprochen. Darauf wurde noch im J. 1846 Mendelssohn wegen Teilnahme am Diebstahl angeklagt und nach langen Verhandlungen im Februar 1848 verurteilt.
Auf
Grund der Aussage eines bestochenen
Zeugen wurde nun auch Lassalle
als »intellektueller
Urheber des
Diebstahls«
im März 1848, nachdem er schon 1847 deshalb kurze Zeit inhaftiert gewesen, in
Untersuchungshaft genommen, in den
Anklagestand
versetzt, aber nach einer glänzenden Verteidigungsrede freigesprochen (»Der
Kriminalprozeß wider mich wegen Verleitung zum Kassettendiebstahl etc.«,
Köln 1848;
»Meine Verteidigungsrede
wider die
Anklage der Verleitung zum Kassettendiebstahl etc.«, das.
1848). Aus dem Gefängnis entlassen, stürzte sich Lassalle
in die politische
Agitation.
Seine
Anschauungen waren die der radikalen
Demokratie. Unter den
Führern derselben nahm er sofort neben
Marx,
Freiligrath,
Becker
etc. einen hervorragenden Platz ein, durch den
Verkehr mit
Marx wurde er auch zum Sozialisten. Wegen einer
zu
Neuß
[* 11] gehaltenen
Rede verhaftet und angeklagt, die
Bürger zur
Bewaffnung gegen die königliche
Gewalt aufgereizt
zu haben, wurde er nach sechsmonatlicher
Untersuchungshaft von den
Geschwornen zu
Düsseldorf
[* 12] freigesprochen. Die
»berühmte« Assisenrede
(»Meine Assisenrede etc.«, Düsseld. 1849)
ist von Lassalle
nicht gehalten worden.
Die
Rede war schon vorher gedruckt worden. Als auf Anfrage des
Präsidenten bejahte, daß er diese
Rede zu halten beabsichtige,
wurde, weil man
Unruhen befürchtete, die
Öffentlichkeit ausgeschlossen; infolgedessen erklärte Lassalle
nach einem glänzenden
und wirkungsvollen Plaidoyer über diese Maßregel, daß er es unter seiner
Würde halte, sich vor diesem
Gerichtshof zu verteidigen, und richtete nur an die
Geschwornen die Bitte, ihn freizusprechen. Trotz der
Freisprechung wurde
aber Lassalle
nicht aus dem Gefängnis entlassen, sondern jetzt wegen derselben
Rede eines geringern
Vergehens die
Bürgerwehr zur
Widersetzlichkeit gegen die Beamten aufgefordert zu haben, angeklagt und vom Korrektionstribunal zu
sechs
Monaten Gefängnis verurteilt.
Nach Beendigung der Hatzfeldtschen
Prozesse (1854) widmete sich Lassalle
, zuerst in
Düsseldorf, dann in
Berlin, wohin er 1857 übersiedelte,
wissenschaftlichen
Studien. Die
Frucht derselben waren zwei größere Werke, welche durch die Originalität der Auffassung
und scharfsinnige
Kritik bisheriger Lehrmeinungen dem Verfasser in der Gelehrtenwelt einen geachteten
Namen verschafften. Das eine: »Die
Philosophie
Herakleitos' des Dunklen von
Ephesos«
[* 13] (Berl. 1858, 2 Bde.),
gehört dem Gebiet der Geschichte der Philosophie an, das andre: »Das System der erworbenen Rechte, eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie« (Leipz. 1860, 2 Bde.; 2. Aufl. 1880),
ist rechtsphilosophischer Art, aber zugleich eine wissenschaftliche
Verteidigung der radikalen politischen
Grundanschauungen
Lassalles.
Zwischendurch erschien auch sein historisches
Trauerspiel
»Franz von
Sickingen«
¶
mehr
(Berl. 1859), ein Werk voll kühner, genialer Gedanken trotz aller Schwächen in ästhetischer und formaler Beziehung und von
hohem Interesse durch die deutschnationale Gesinnung des Dichters, eines begeisterten Anhängers des deutschen Einheitsstaats.
Diese Gesinnung tritt noch stärker hervor in der während des italienischen Kriegs erschienenen Broschüre »Der italienische
Krieg und die Aufgabe Preußens«
[* 15] (Berl. 1859), in welcher er die preußische Neutralität Frankreich gegenüber
billigte, aber riet, Preußen
[* 16] solle den günstigen Augenblick der Beschäftigung seiner Gegner benutzen, gegen Dänemark
[* 17] vorgehen,
um Schleswig-Holstein
[* 18] zu erobern, den Dualismus in Deutschland beseitigen und die deutschen Stämme mit Ausschluß Österreichs
unter einer nationalen demokratischen Regierung einigen, ebenso in der Abhandlung »Fichtes politisches
Vermächtnis und die neueste Gegenwart« (in Walesrodes »Demokratischen
Studien«, Hamb. 1860) und in seiner Festrede auf Fichte
[* 19] »Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen
Volksgeistes« (Berl. 1862), in denen er als die höchste und wichtigste Aufgabe der Gegenwart
die Herstellung eines deutschen Einheitsstaats unter Preußens Führung bezeichnete und die Frage der Freiheit
hinter die der Einheit stellte. Im März 1862 erschien als eignes Buch eine Kritik der Julian Schmidtschen Litteraturgeschichte,
zu dem auch der Lassalle
nahe befreundete Lothar Bucher als »Das Setzerweib« Beiträge geliefert hat (»Herr Julian Schmidt, der
Litterarhistoriker«, Berl. 1862). In der Konfliktszeit versuchte Lassalle
die Fortschrittspartei zum passiven Widerstand, zur Niederlegung
des Mandats in Masse, zu bewegen und hielt auch in diesem Sinn öffentliche Vorträge: »Über Verfassungswesen« (Berl. 1862),
»Was nun?« (das. 1862). Da die Fortschrittspartei diese Politik verwarf, glaubte Lassalle
die Zeit gekommen, eine eigne
demokratische Partei bilden zu können. Er versprach sich einen Erfolg aber nur bei einem Programm, das zugleich Vorschläge
über die Lösung der sozialen Frage enthielte. Zu diesem Zweck hielt er in einer großen Arbeiterversammlung einen
Vortrag: »Über den besondern Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode
mit der Idee des Arbeiterstandes« (gedruckt u. d. T.: »Arbeiterprogramm«,
Berl. 1862). Auf Grund dieses Vortrags wurde Lassalle
wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffentliche Anreizung der
Angehörigen des Staats zum Haß gegeneinander angeklagt und zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber in zweiter
Instanz freigesprochen.
Anläßlich dieses Prozesses veröffentlichte Lassalle
folgende Schriften: seine Verteidigungsrede »Die Wissenschaft
und die Arbeiter« (Zürich
[* 20] 1863),
»Der Lassallesche
Kriminalprozeß« (das. 1863),
»Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen« (das. 1863). Sein Auftreten für die Arbeiterklasse veranlaßte ein Arbeiterkomitee in Leipzig, welches damals einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß berufen wollte, sich an Lassalle zu wenden und seine Ansicht über den Kongreß und über die Arbeiterfrage zu erbitten. Lassalle antwortete nach 14 Tagen in einer Broschüre: »Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee etc.« (Zürich 1863), in welcher er sein sozialistisches Programm entwickelte. Er riet dem Komitee, dies Programm, dessen Hauptpunkt die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe des Staatskredits war, anzunehmen, den Kongreß nicht zu halten, aber einen allgemeinen deutschen Arbeiterverein zu gründen, der sich zunächst nur die eine Aufgabe stelle, für das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung zu agitieren, um, wenn dies erreicht sei, mit Hilfe des Stimmrechts die Macht im Staat für den Arbeiterstand zu erlangen und dann das sozialistische Programm durchzuführen.
Das Komitee folgte dem Rat, Lassalle wurde von ihm veranlaßt, in Leipzig 16. April (Lassalles Rede »Zur Arbeiterfrage«),
in Frankfurt [* 21] 17. und 19. Mai (»Arbeiterlesebuch«, Frankf. a. M.) und andern Orten zu sprechen, am wurde der Allgemeine Deutsche [* 22] Arbeiterverein in Leipzig mit etwa 600 Mitgliedern gegründet und Lassalle zum Präsidenten gewählt. In dieser Stellung entfaltete er eine umfassende agitatorische Thätigkeit, aber seine Erfolge waren sehr gering. Kaum einige tausend Arbeiter gelang es ihm zu gewinnen. Sein Hauptkampf war gegen Bourgeoisie und Liberalismus gerichtet.
Dieser Kampf verwickelte. Lassalle in eine Reihe von Kriminalprozessen, schließlich sogar in einen Hochverratsprozeß auf Grund einer gedruckten Ansprache: »An die Arbeiter Berlins« (Berl. 1863), in welcher er ausführte, daß die oktroyierte preußische Verfassung nicht zu Recht bestehe, und die Arbeiter aufforderte, in den Verein zu treten, um diese Verfassung zu stürzen. Er wurde in diesem Prozeß freigesprochen, aber in andern verurteilt. Die Agitation hatte Lassalles Gesundheit zerrüttet.
Zur Stärkung derselben ging er, nachdem er noch im Mai 1864 am Rhein in den ihm ergebenen Arbeiterdistrikten einen Triumphzug gehalten, im Juni 1864 nach der Schweiz. [* 23] Lassalle traf dort mit Helene v. Dönniges, der Tochter eines bayrischen Diplomaten, zusammen, welche, ihm selbst schon von früher her bekannt, damals mit einem Walachen, Janko von Rakowitz, verlobt war. Sein Verhältnis zu dieser Dame führte zu einem Pistolenduell zwischen und Rakowitz in Genf [* 24] in welchem Lassalle tödlich verwundet wurde. Er starb - Außer den erwähnten Agitationsschriften erschienen noch: »Macht und Recht« (Zürich 1863);
»Die Feste, die Presse [* 25] und der Frankfurter Abgeordnetentag« (Düsseld. 1863);
»Der Hochverratsprozeß wider Ferdinand Lassalle etc.« (Berl. 1864);
»Die Agitation des allgemeinen deutschen Arbeitervereins« etc.;
Lassalles letzte Rede (das. 1864) und Lassalles letztes wissenschaftliches Werk: »Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, [* 26] der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit« (das. 1864), eine Polemik gegen die manchesterlichen Anschauungen über die soziale Frage und der Versuch, seinen sozialistischen Standpunkt wissenschaftlich zu begründen.
Vgl. B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation F. Lassalles (Braunschw. 1874);
G. Brandes, Ferdinand Lassalle (Berl. 1877);
A. Aaberg, Ferdinand Lassalle (Leipz. 1883);
E. v. Plener, Lassalle (das. 1884).