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Neubesetzung des erzbischöfl. Stuhles in Köln; [* 3] Melchers erhielt den Kardinalshut, [* 4] während Bischof Krementz von Ermland sein Nachfolger wurde. Anfang Febr. 1886 wurde sogar, nachdem Ledochowski resigniert hatte, auch das Erzbistum Posen [* 5] neu besetzt, und zwar zum großen Mißvergnügen der Polen mit einem Deutschen, dem Propst Dinder von Königsberg, [* 6] der 26. März die staatliche Bestätigung erhielt. Gleichzeitig ging im Febr. 1886 dem Herrenhause ein neues Kirchengesetz zu mit höchst umfassenden Konzessionen.
Hiernach sollte die wissenschaftliche Staatsprüfung der kath. Geistlichen definitiv wegfallen, der kirchliche Gerichtshof aufgehoben werden und eine Berufung an den Staat gegen die Entscheidung kirchlicher Behörden den Geistlichen nur noch im Falle der mit Minderung des Einkommens verbundenen Amtsentsetzung gestattet sein; die kath. Konvikte und Seminare sollten fortan nur einer allgemeinen staatlichen Aufsicht unterworfen sein. Dazu fügte der vom Kaiser ins Herrenhaus berufene Bischof Kopp von Fulda [* 7] weitere Forderungen, wonach in den Kommissionsanträgen der Satz, daß diejenigen Personen, die der Staat als minder genehm bezeichnet habe, nicht als Leiter und Lehrer sollten angestellt werden können, gestrichen und die Anrufung des Staates seitens derjenigen Geistlichen, die kirchlichen Disciplinarmaßregeln verfallen wären, als unstatthaft bezeichnet werden sollte.
Als darauf, auf Ansuchen Kopps beim Papste, der
Kardinal-Staatssekretär Jacobini in der
Note vom 4. April
die
rückhaltslose Bewilligung der
Anzeigepflicht für den Fall zusicherte, daß die Regierung eine weitere Revision der Maigesetzgebung
dem Landtag vorzuschlagen
sich verpflichte, genehmigte auch das Herrenhaus 13. April
die
Vorlage mit den Koppschen
Anträgen, und
nachdem die Regierung der Kurie ihre Bereitwilligkeit zu weiterer Revision der kirchlichen Gesetzgebung erklärt hatte,
erfolgten seitens derselben sofort die
Weisungen an die preuß.
Bischöfe zur dauernden
Erfüllung der
Anzeigepflicht.
Das Abgeordnetenbaus trat unter dem Eindruck dieser Vorgänge 10. Mai dem Votum des Herrenhauses bei, und der Kaiser bestätigte das Gesetz 21. Mai. Im Herbst des Jahres wurden auf Grund dieses Gesetzes die Priesterseminare in Fulda und Trier [* 8] wieder eröffnet. Auch über die weitere von der Regierung versprochene Revision der Maigesetze führten die Verhandlungen des preuß. Gesandten Schlözer in Rom [* 9] zu einem günstigen Resultat, und wurde dem Herrenhause eine letzte abschließende Kirchengesetznovelle vorgelegt.
Die bisherigen
Beschränkungen des Besuchs der Seminare wurden aufgehoben. In Fortfall kamen ferner der
staatliche Zwang zur dauernden
Besetzung der Pfarrämter, die Verpflichtung der geistlichen Obern zur Mitteilung kirchlicher
Disciplinarentscheidungen an den Oberpräsidenten und das Gesetz über die Grenzen
[* 10] des
Rechts zum Gebrauch kirchlicher
Straf-
und Zuchtmittel mit
Ausschluß der Bestimmung, daß diese Zuchtmittel aus das rein religiöse Gebiet beschränkt
sein sollten.
Ferner sollten von den durch das Gesetz vom ausgeschlossenen Orden [* 11] und ordensähnlichen Kongregationen diejenigen wieder zugelassen werden, die sich der Aushilfe in der Seelsorge oder der Übung der christl. Nächstenliebe widmen oder deren Mitglieder ein beschauliches Leben führen. In dieser Fassung wurde die Novelle von der Kommission des Herrenhauses angenommen, nebst zwei Anträgen des Bischofs Kopp, wonach die weiblichen Orden zur Leitung höherer Töchterschulen und Erziehungsanstalten berechtigt sein und den mit Korporationsrechten ausgestatteten Orden, die wieder zugelassen wurden, ihr Vermögen zurückerstattet werden sollte.
Von den Nationalliberalen konnte sich der größte
Teil nicht entschließen, für eine solche
Vorlage zu
stimmen, die Mitglieder des Centrums aber waren mit diesen Zugeständnissen noch nicht zufrieden, obgleich der Papst selbst 3. April
die
kath. Mitglieder des Abgeordnetenhauses ermahnen ließ, für die
Vorlage zu stimmen, und nun wurde sie durch Zusammenwirken
der Konservativen und des Centrums auch im Abgeordnetenhause 27. April
mit 243 gegen 99
Stimmen angenommen.
Am 29. April
erfolgte die
Bestätigung des
Kaisers.
Die Hoffnung Bismarcks, daß nun auch das Centrum ein Mitarbeiter auf dem Gebiete der nationalen polit. Arbeit werden würde, ist im wesentlichen nicht unerfüllt geblieben. An einzelnen Reibungen fehlte es aber auch später nicht. Windthorst brachte seine Schulanträge, die den Religionsunterricht in den Volksschulen völlig unter Leitung der Kirche bringen wollten und das Einspruchsrecht der Kirche bei Anstellung der Volksschullehrer verlangten, fast Jahr für Jahr unverdrossen ein. Auch über die Verwendung der Gelder, die sich durch die Ausführung des Sperrgesetzes vom angesammelt hatten, konnte zunächst noch kein Einverständnis erzielt werden, da das Centrum die Rückgabe des Kapitals forderte, während die Regierung nur die Zinsen für Zwecke der kath. Kirche zur Verfügung stellen wollte. Aber Kolonialpolitik, Socialreform und Stärkung der Heeresmacht verdankten dem Centrum seit 1888 wesentliche Förderung.
Die Lockerung des staatlichen Einflusses auf die kath. Kirche erweckte auch in der evang. Kirche den Wunsch, sich der Vormundschaft des Staates zu entziehen, und Mitglieder der äußersten Rechten der konservativen Partei brachten 1886 und 1887 im Abgeordneten- und Herrenhause Anträge dieser Tendenz ein. Die landeskirchliche Versammlung in Berlin [* 12] forderte vor allem eine stärkere Mitwirkung der kirchlichen Instanzen bei Besetzung kirchenregimentlicher Ämter und theol. Professuren und Zurückdrängung des Einflusses des Landtags auf die evang. Kirche.
Klar vorgezeichnet war der Weg für die Fortführung der innern Verwaltungsreform. Dem Minister des Innern, Grafen Botho zu Eulenburg, gelang es zunächst in den Verhandlungen mit dem Landtag, wo nur die Fortschrittspartei und der größte Teil des Centrums ihre Zustimmung versagten, das Gesetz vom über die Organisation der allgemeinen Landesverwaltung zu stande zu bringen, das den Zusammenhang der neuen Institution mit der allgemeinen Verwaltung herstellte. Um die Schlagfertigkeit derselben zu erhalten und dem Regierungspräsidenten gegenüber den mit Rechten reichlich ausgestatteten Selbstverwaltungskörpern ein stärkeres Gegengewicht zu geben, wurde die Kollegialität der Bezirksregierungen in den Regierungsabteilungen des Innern beseitigt. Fortan sollte der Regierungspräsident nicht mehr an die Beschlüsse eines Regierungskollegiums gebunden sein, sondern selbständig entscheiden. Erfolgten dann 1880 und 1881 Revisionen des Verwaltungsgerichtsgesetzes, der Kreis- und Provinzialordnung. Bei Beratung eines neuen Zuständigkeitsgesetzes, das die Mängel des ¶
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Kompetenzgesetzes von 1876 heben sollte, führte 1881 ein Zwischenfall zum Rücktritt des Grafen Eulenburg (27. Febr.). Sein Nachfolger als Minister des Innern wurde der Kultusminister von Puttkamer, der im Oktober auch zum Vicepräsidenten des Staatsministeriums ernannt wurde. Ein neues Landesverwaltungsgesetz (vom verschmolz in der mittlern Instanz der Regierungsbezirke den Bezirksrat mit dem Bezirksverwaltungsgericht zu einer Behörde, dem Bezirksausschuß, der somit, ebenso wie der Kreisausschuß, zugleich richterliche und verwaltende Behörde wurde. Es folgte nun die Ausdehnung [* 14] der Kreis- und Provinzialordnung auf Hannover [* 15] (1884), Hessen-Nassau [* 16] (1885), Westfalen [* 17] (1886), die Rheinprovinz [* 18] (1887), Schleswig-Holstein [* 19] (1888) und schließlich selbst auf Posen (1889). Das Charakteristische der hierbei nötigen Modifikationen war, daß die unterste Staffel der Kreisverwaltung einen mehr bureaukratischen Anstrich bekam oder vielmehr behielt. In Posen wurden die Rechte der Selbstverwaltungskörper stark beschnitten; vor allem sollten die Wahlen zu denselben der staatlichen Bestätigung bedürfen.
Das Ziel, das sich die preuß. Finanzverwaltung seit 1878, zuerst unter Hobrecht, dann von 1879 an unter Bitter, und von 1882 bis 1890 unter von Scholz steckte, war die Ausbildung des auf Zölle und Verbrauchssteuern angewiesenen Reichsfinanzsystems dahin zu führen, daß die Matrikularbeiträge der Einzelstaaten herabgesetzt und die daraus sich ergebenden Überschüsse teils zur Entlastung der Kommunen, teils zur Herabminderung der Klassen- und Einkommensteuer verwendet werden könnten.
Bereits im Febr. 1881 konnte ein dauernder Steuererlaß von 14 Mill. M. für die Klassen- und die fünf untersten Stufen der Einkommensteuer bewilligt werden. Die Regierung betrieb gleichzeitig den Erlaß eines Verwendungsgesetzes für die aus den steigenden Reichseinnahmen zu erwartenden Auszahlungen; doch fanden die im Dez. 1880 und im März 1882 vorgelegten Gesetzentwürfe damals noch nicht den Beifall des Landtags. Dem im Okt. 1882 neu gewählten Abgeordnetenhause wurde eine neue Vorlage über sofortige Aufhebung der vier untersten Klassensteuerstufen unterbreitet; zur Deckung sollte, da das Tabakmonopol vom Reichstage abgelehnt war, eine provisorisch in P. zunächst einzuführende Licenzsteuer auf geistige Getränke und Tabak [* 20] dienen.
Das Abgeordnetenhaus nahm im Febr. 1883 nur die Befreiung der zwei untersten Stufen an und wies die Regierung auf den Weg der Reform der Einkommensteuer. Der von ihr darauf vorgelegte Entwurf einer Kapitalrentensteuer wurde 1884 in der Kommission des Abgeordnetenhauses begraben. Um die Unterstützung des Centrums bei der Zolltarifnovelle im Reichstage sich zu sichern, mußte die Regierung 1885 auch der sog. Lex Huene (s. Huene) zustimmen. Erst drei Jahre später ermöglichten die Überschüsse, die P. aus der 1887 im Reiche eingeführten Branntweinsteuer zu gute kamen, ein Gesetz vorzulegen (Jan. 1888), das den zur Unterhaltung der Volksschulen Verpflichteten erhebliche Zuschüsse (jährlich 20 Mill. M.) aus der Staatskasse überwies und das Schulgeld, wo es noch bestand, abschaffte.
Das Centrum versuchte durch ein Kompromiß mit den Konservativen dies Princip der schulgeldfreien Volksschule, das zugleich ja auch eine Erweiterung des staatlichen Einflusses auf die Volksschule bedeutete, zu durchkreuzen durch den Antrag, Volksschulen mit und ohne Schulgeld nebeneinander bestehen zu lassen und das ganze Gesetz als eine Verfassungsänderung zu erklären. Aber der von den beiden Parteien im Abgeordnetenhause durchgesetzte Beschluß wurde vom Herrenhause verworfen, und bei der erneuten Verhandlung im Abgeordnetenhause siegte die vom Herrenhause angenommene Fassung, wonach Schulgeld nur dann erhoben werden sollte, wenn der Staatsbeitrag zur Deckung nicht ausreichte und andernfalls eine erhebliche Vermehrung der Kommunal- oder Schulabgaben erforderlich sein würde. In dieser Fassung wurde das Gesetz vollzogen. 1889 erfolgte bereits eine weitere Erleichterung der Volksschullasten. Die Aufhebung der Reliktenbeiträge der Staatsbeamten (1888), die 1889 auf die Volksschullehrer ausgedehnt wurde, die Verbesserung der Gehälter der Geistlichen (1889) und der untern und mittlern Staatsbeamten (1890) waren weitere Schritte auf diesem Wege, denen alle Parteien zustimmten.
Der Ruf nach billigern Verkehrsstraßen im industriereichen Westen der Monarchie veranlaßte 1883 die Regierung zur Vorlage eines Projekts für den Bau eines Kanals von Dortmund [* 21] nach den Emshäfen. Es scheiterte damals an dem Widerspruch des Herrenhauses, das statt einer einseitigen Begünstigung des Westens ein allgemeines Kanalnetz verlangte. Ein Schritt dazu war die auch vom Landtage angenommene Vorlage von 1886, die noch eine neue Wasserverbindung zwischen der mittlern Oder und der Oberspree zur gleichmäßigen Begünstigung des westfäl. und des schles. Industrie- und Kohlengebietes in Aussicht nahm. Noch großartiger war das gleichzeitig eingeleitete Werk des der Küstenverteidigung und den Operationen der Kriegsflotte dienenden Nordostseekanals (s. d.).
Gegenüber der auffälligen Zunahme der poln. Agitation und der Beteiligung des Klerus an derselben sowie der zunehmenden Einwanderung aus Russisch-Polen und Galizien schritt die preuß. Regierung zunächst mit Ausweisungsmaßregeln vor, die an 30000 Personen betrafen, und brachte 1886 im Landtage eine Reihe von Gesetzentwürfen zur Bekämpfung der poln. Agitation ein, deren wichtigster das Ansiedelungsgesetz (s. Ansiedelung) war. Die andern Vorlagen übertrugen dem Staate die Anstellung der Lehrer und Lehrerinnen in den Volksschulen der beiden Provinzen und forderten die Mittel zur Errichtung deutscher Fortbildungsschulen. In beiden Häusern wurden die Vorlagen gegen die Stimmen des Centrums, der Freisinnigen und der Polen angenommen. Im selben Jahre begann die auf Grund des Ansiedelungsgesetzes eingesetzte Ansiedelungskommission ihre Thätigkeit, die zwar im weitern Verlauf die ursprünglichen nationalen Erwartungen nur teilweise erfüllte, aber allgemein wirtschaftlich wertvolle Erfahrungen zeitigte. Eine Neueinteilung der Kreise [* 22] in Posen und Westpreußen, [* 23] die der Landtag 1887 genehmigte, hatte ebenfalls den polit. Zweck, das Deutschtum zu schützen. Höchst durchgreifend war die verfügte Aufhebung des poln. Sprachunterrichts in den Volksschulen. Der Erzbischof Dinder zog sich den Zorn der Polen zu, als er auch für die Gymnasien seiner Diöcese deutschen Religionsunterricht verordnete.
Die dän. Agitation in Nordschleswig hatte sich immer auf den Art. V des Prager Friedens ¶
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gestützt, wonach die nördl. Distrikte Schleswigs, falls die Bevölkerung durch freie Abstimmung ihren Wunsch auf Wiedervereinigung mit Dänemark [* 25] ausspräche, zurückgegeben werden sollten. Zunächst hatte nur Österreich [* 26] allein ein Recht, die Aufführung dieses Artikels von P. zu verlangen, und dieses Rechtes begab sich Österreich durch den Vertrag mit P. vom der die Aufhebung jenes Artikels aussprach. Entsprechend dem Vorgehen in Posen wurde auch für Schleswig [* 27] im Dez. 1889 die Durchführung der deutschen Unterrichtssprache in den Volksschulen verfügt. Bereits Herzog Friedrich von Schleswig-Holstein-Augustenburg hatte vor seinem Tode seinen völligen Frieden mit dem preuß. Königshause gemacht; sein Sohn Herzog Ernst Günther bekräftigte 1884, sobald er mündig geworden war, den Verzicht auf alle Rechte seines Hauses, und auf Grund desselben wurde mit ihm 1885 ein Abfindungsvertrag geschlossen.
5) Vom Tode König Wilhelms I. bis zur Gegenwart. Am starb Kaiser Wilhelm I. im 91. Lebensjahre. In der Idee des preuß. Staates hatten seine polit. Überzeugungen gewurzelt, von ihr ausgehend wurde er der Einiger Deutschlands. [* 28] Dem Sohne, der jetzt als Kaiser und König Friedrich III. ihm folgte, war umgekehrt der Gedanke des Deutschen Kaisertums der Leitstern gewesen, und ohne Frage hatten ihn die liberalen und konstitutionellen Anschauungen des Zeitalters stärker erfaßt wie den Vater.
Aber auch von diesen Ausgangspunkten aus kam er zu der Überzeugung, der er in dem Erlaß an den Reichskanzler vom Ausdruck gab, daß die festen Grundlagen des preuß. Staates unberührt gelassen werden müßten durch die Förderung der Aufgaben der Reichsregierung. Was ihm, nach jenem Erlasse zu schließen, in P. etwa verbesserungsbedürftig erschien, das ausgedehnte Besteuerungsrecht der Selbstverwaltungsverbände und die komplizierte Gliederung der Behörden, beirrte ihn nicht in der Überzeugung, daß die Grundlagen des öffentlichen Lebens durchaus gesund seien.
Wohl erfüllte ihn noch der Wunsch nach einer Thätigkeit, die in das gesamte Kulturleben der Nation eingreifen, Bildung und Erziehung, Kunst und Wissenschaft nicht minder fördern sollte wie das wirtschaftliche Gedeihen der verschiedenen Gesellschaftsklassen; aber von einem jähen Hinüberlenken in ein anderes Fahrwasser lassen die wenigen Regierungshandlungen, die er, schon vor der Thronbesteigung mit tödlicher Krankheit ringend, ausführen konnte, nichts spüren.
Seine Krankheit verbot es ihm, persönlich den Eid auf die Verfassung abzulegen, aber es drängte ihn, durch eine Botschaft an den Landtag vom 17. März seinen Willen zu beteuern, streng verfassungstreu zu regieren. Auf Antrag des Abgeordnetenhauses selbst hatte die Regierung noch zu Lebzeiten Wilhelms I. die Gesetzesvorlage über Verlängerung [* 29] der dreijährigen Legislaturperioden in fünfjährige eingebracht. Kaiser Friedrich unterzeichnete das von beiden Häusern genehmigte Gesetz 27. Mai, richtete aber gleichzeitig aus Anlaß einer Debatte im Abgeordnetenhause 26. Mai über amtliche Beeinflussungen bei der Wahl in Elbing-Marienburg an den Minister des Innern, von Puttkamer, ein Schreiben, in dem er die Erwartung aussprach, daß in Zukunft seitens der Beamten die Freiheit der Wahlen nicht angetastet werden würde. Puttkamer rechtfertigte sich, das Gesetz über die Verlängerung der Legislaturperioden wurde 7. Juni publiziert, aber kurz darauf erhielt er ein weiteres, in seiner Entstehungsgeschichte nicht aufgeklärtes Handschreiben des Kaisers, das ihn veranlaßte, seinen Abschied zu nehmen. Am erlag Kaiser Friedrich seinen furchtbaren Leiden [* 30] an Kehlkopfkrebs.
Mit jugendlicher Kraft [* 31] ergriff sein Sohn, Kaiser und König Wilhelm II., die Zügel der Regierung. Eigenartig mischten sich in ihm die altpreuß. Traditionen monarchischer und soldatischer Natur, die er von seinem Großvater eingesogen hatte, mit der lebhaft ergriffenen Idee einer kühnen Initiative auf socialem Gebiete und mit dem Streben, die alten polit. Parteien, denen gegenüber er sich ganz selbständig und vorurteilslos fühlte, mit sich fortzureißen und in seinen Dienst zu stellen.
Die Ernennung Bennigsens, des nationalliberalen Parteiführers und Landesdirektors von Hannover, zum Oberpräsidenten dieser Provinz (29. Aug.) und die gegen das Votum des Oberkirchenrats erfolgende Berufung des liberalen Theologen Harnack nach Berlin zeigten bald, daß von einem vorher vielfach prophezeiten extrem konservativen Regime nicht die Rede war. Die Abgeordnetenwahlen vom 6. Nov. ergaben eine merkliche Verstärkung [* 32] der Mittelparteien und ein Abbröckeln der Konservativen und Freisinnigen um je etwa 10 Mandate (Konservative 130, Freikonservative 68, Nationalliberale 87, Freisinnige 29, Centrum wie zuvor 97).
Minder klar und durchsichtig verlief die Entwicklung der neuen Regierung im folgenden Jahre. Es war das wichtigste Korrelat der Socialreform, daß die untern Stufen der Einkommensteuer entlastet und die Wohlhabenden stärker herangezogen würden. Höchst populär war der Ruf nach Einführung der Deklarationspflicht (s. Deklaration); doch scheiterte ein darauf bezüglicher Gesetzentwurf innerhalb des Staatsministeriums an dem Widersprüche Bismarcks, und der Landtag, der zur Beratung des Gesetzes wieder zusammenberufen war, wurde kurzerhand sofort wieder geschlossen.
Selbst bei den regierungsfreundlichen Parteien erregte das nicht geringe Verstimmung, und seitens der
Regierung blieb das Ereignis unerklärt. Das Vorgehen gegen den Hofprediger Stöcker, der im April
1889 veranlaßt wurde,
von der christlich-socialen Agitation zurückzutreten, und die Erklärung des «Reichsanzeiger» gegen
die konservative «Kreuzzeitung» und ihre Befehdung der Mittelparteien schienen
noch aus Übereinstimmung der Ansichten zwischen Kaiser und Reichskanzler zu entspringen; aber trotzdem
bereitete sich nach und nach eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit zwischen beiden vor.
Der Bergarbeiterstreik in Rheinland, Westfalen und Schlesien [* 33] im Frühjahr 1889, an dem sich über 100000 Bergleute beteiligten, war der Anstoß zu einer neuen Epoche socialer Politik, die den Anschauungen Bismarcks nicht mehr entsprach. Anfang Febr. 1890 räumte er seine Stellung als preuß. Handelsminister dem rhein. Oberpräsidenten Freiherrn von Berlepsch, der bei der Schlichtung des Bergarbeiterstreiks hervorragend beteiligt gewesen war. Das Ressort desselben wurde erweitert durch die von dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten abgezweigte Bergwerks- und Hüttenabteilung. Dann eröffneten die kaiserl. Erlasse an den Reichskanzler und den Handelsminister vom die Aussicht auf eine umfassende, womöglich internationale Regelung des Arbeiterschutzes und ¶