Kriminalst
atistik
(lat.), derjenige
Zweig der
Statistik (s. d.), welcher sich mit der Zusammenstellung und wissenschaftlichen
Darstellung der Ergebnisse der Strafrechtspflege beschäftigt. Die Kriminalst
atistik ist ein wichtiges Hilfsmittel
der modernen Strafgesetzgebung, weil sie die nötigen Anhaltepunkte zur
Entscheidung der
Frage gibt, gegen welche
Verbrechen
sich die strafrechtliche Wirksamkeit besonders zu richten hat. Diese Bedeutung der Kriminalst
atistik ist zuerst in
Frankreich erkannt worden, woselbst man 1821 mit der regelmäßigen Veröffentlichung kriminalst
atistischer
Daten begann, die dann seit 1827 von Guerry-Champneuf fortgesetzt wurde.
Ebenso entwickelte sich die Kriminalst
atistik, namentlich unter dem Einfluß von
Ducpétiaux, in
Belgien,
[* 2] in
England vorzugsweise infolge der
Anregungen des großen Staatsmanns
Sir
Robert
Peel. In
Deutschland,
[* 3] wo von
Karl
Salomo
Zachariä und von
Mittermaier auf die
Bedeutung der Kriminalst
atistik hingewiesen wurde, hat man eigentlich erst seit 1848 der Kriminalstatistik
die
gehörige
Aufmerksamkeit geschenkt. Seitdem jedoch inzwischen in allen deutschen
Staaten statistische
Büreaus gegründet worden
sind, ist auch die Kriminalst
atistik von tüchtigen Statistikern, z. B. von E.
Engel (s. d.), bearbeitet worden.
Das nötige amtliche Material hierzu liefern die Justiz- und Polizeibehörden sowie die Direktionen der Gefängnisanstalten. Zu diesem Behuf werden von den Staatsanwalten und von den Gerichten besondere Tabellen (Kriminaltabellen, Straftabellen) geführt, in welche die einzelnen Untersuchungen und Verurteilungen mit Rücksicht auf die Art der verbrecherischen Handlungen, auf Zahl, Stand, Alter, Geschlecht und Rückfälligkeit der Verbrecher und auf die Strafarten eingetragen werden, und auf Grund deren dann die jährlichen Zusammenstellungen zu machen sind.
Zunächst kommt es darauf an, den Prozentsatz der verurteilten Verbrecher von der Gesamtbevölkerung (die sogen.
Kriminalität eines
Landes oder nach
Quételet in nicht zulässiger
Weise als
Maßstab
[* 4] für den »verbrecherischen Hang der
Bevölkerung«
[* 5] bezeichnet) statistisch festzustellen, wobei dann wiederum zwischen den einzelnen Landesteilen unterschieden,
auch der statistische
Vergleich mit andern
Staaten gezogen wird. Hieran reiht sich dann die
Statistik der einzelnen Verbrechensarten
an, indem dabei gewöhnlich eine
Einteilung der letztern in größere
Gruppen, z. B.
Verbrechen gegen das
Eigentum und
Verbrechen
gegen die
Person, stattfindet und besonders das alljährliche Vorkommen gewisser
Verbrechen nach den verschiedenen
Rubriken durch vergleichende Zusammenstellung der kriminalst
atistischen Ergebnisse eines längern Zeitraums konstatiert
wird.
Dabei gilt es aber, auch die Einflüsse äußerer Umstände auf die Kriminalität zu beachten, so namentlich die geographischen Verhältnisse, indem z. B. die Verbrechen gegen das Eigentum in den großen Städten besonders häufig sind, während die Forstentwendungen naturgemäß vorzugsweise in Waldgegenden vorkommen. Dahin gehört auch der Einfluß der Jahreszeiten. [* 6] Verbrechen gegen die Sittlichkeit kommen z. B. in der heißen Jahreszeit, wo der Geschlechtstrieb stärker ist, häufiger vor als im Winter, umgekehrt Verbrechen gegen das Eigentum häufiger im Winter als im Sommer, wo es mehr Verdienst gibt.
Auch die Getreidepreise [* 7] in wohlfeilen Zeiten und in Teurungsjahren stehen zu der Kriminalität in einem relativen Verhältnis: die Verbrechen gegen das Eigentum mehren sich in den Zeiten der Not, umgekehrt die Verbrechen gegen die Person, namentlich Körperverletzungen, bei günstigen Ernteverhältnissen, namentlich in guten Weinjahren;
die Vergehen gegen die öffentliche Autorität mehren sich naturgemäß in Zeiten politischer Erregung etc. Besonders wichtig ist ferner die Personalstatistik der Verbrecher, wobei namentlich die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Verbrechern, die statistischen Beobachtungen über die Rückfälligkeit, welche bei dem weiblichen Geschlecht mehr hervortritt als bei dem männlichen, die verschiedenen Altersstufen, namentlich mit Rücksicht auf die jugendlichen Verbrecher, die Berufsklassen, die konfessionellen Verhältnisse, eheliche und uneheliche Geburt, die Bildungsverhältnisse, die Nationalität in Betracht kommen.
Aber auch die
statistischen
Erhebungen über die Handhabung des Strafkodex, über Untersuchungen,
Rechtsmittel,
Freisprechungen,
Verurteilungen,
sind von Wichtigkeit. In sozial-ethischer Hinsicht ist die Kriminalstatistik
von großer Bedeutung,
indem sie einen wichtigen
Bestandteil der
Moralstatistik (s. d.) überhaupt bildet.
In den 80er
Jahren wurden von je 100,000
Einwohnern wegen der unten bezeichneten strafbaren
Handlungen angeklagt (a.), bez. verurteilt
(v.):
in | Mord und Totschlag | Körperverletzung | Sittlichkeitsverbrechen | Diebstahl jeder Art, Raub und Erpressung |
---|---|---|---|---|
Deutschland | a. 1.29 | 165.29 | 17.17 | 259.38 |
v. 1.07 | 134.08 | 14.06 | 222.77 | |
Österreich | a.? | ? | ? | ? |
v. 2.44 | 230.96 | 9.33 | ? | |
Ungarn | a. 9.60 | 45.10 | 14.18 | 82.76 |
v. 6.73 | 30.01 | 6.89 | 58.56 | |
Italien | a. 13.05 | 207.97 | 5.40 | 221.13 |
v. 9.53 | 155.30 | 4.01 | 165.89 | |
Spanien | a. 10.86 | 54.01 | 1.69 | 74.75 |
v. 8.25 | 43.18 | 1.03 | 59.64 | |
Frankreich | a. 2.19 | 68.46 | 11.57 | 121.93 |
v. 1.54 | 63.41 | 10.26 | 110.96 | |
Belgien | a. 2.11 | 212.95 | 16.81 | 143.08 |
v. 1.44 | 175.40 | 13.83 | 110.44 | |
Großbritannien u. Irland | a. 1.36 | 8.93 | 1.81 | 206.56 |
v. 0.72 | 6.84 | 1.31 | 166.62 |
Aus vorstehender Übersicht lassen sich keine Schlüsse auf Charakter, Rechtssinn und Sinn für Sittlichkeit eines Volkes ziehen, mit Ausnahme der Verbrechen wider das Leben. Diese Gruppe hat sich im Deutschen Reich wie folgt gestaltet:
(1882) | (1883) | (1884) | ||||
a. | v. | a. | v. | a. | v. | |
Mord | 192 | 151 | 198 | 153 | 177 | 139 |
Totschlag | 181 | 169 | 185 | 164 | 147 | 131 |
Tötung auf Verlangen des Getöteten | 5 | 3 | - | - | 2 | 2 |
Kindesmord | 196 | 171 | 217 | 175 | 198 | 161 |
Vergiftung | 16 | 13 | 14 | 11 | 18 | 15 |
Zusammen: | 590 | 507 | 614 | 503 | 542 | 448 |
¶
mehr
Vgl. A. v. Öttingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Moralethik (3. Aufl., Erlang. 1882).