Isländische
Verskunst.
Allen Erzeugnissen der altisländischen
(und altnorwegischen)
Dichtung sind strophische
Gliederung
und
Stabreim gemeinsam. Zeitlich lassen sich zwei Kunstformen unterscheiden, die allerdings nicht ganz
unvermittelt aufeinander folgen: eine ältere, volksmäßige (das sogen. Fornyrðislag), welche
die
Verse lediglich durch die
Allitteration band, und eine jüngere, die den
Reim (Binnenreim oder
Endreim) einführte. A. Das
Fornyrðislag (metrum antiquum), welches in der alten Volksdichtung, der die
Lieder der
Edda (s. d.) angehören,
ausschließlich angewandt, aber auch von den Kunstdichtern (den
Skalden) hin und wieder noch gebraucht ward, zerfällt in
den Kviðuhattr (oder das Starkaðarlag), den Ljóðaháttr und den Málaháttr.
Der erstere entspricht (abgesehen von dem nie übertretenen
Gesetz der
Einteilung in
Strophen) im allgemeinen dem Versmaß,
dessen sich die Westgermanen (Deutsche
[* 2] und
Angelsachsen) in ihren allitterierenden
Dichtungen bedienten.
Die
Strophe
(Visa) enthält nach der Angabe der altisländischen
Metriker acht
Zeilen (richtiger wohl vier Langzeilen, von denen
jede durch eine
Cäsur in zwei Halbzeilen geteilt wird), von diesen
Zeilen bilden je zwei das Strophenviertel (Vísufjorðungr),
je vier die Strophenhälfte (Vísuhelmingr).
Jede Zeile hat zwei, gewöhnlich zweisilbige, Füße, deren jeder eine Hebung [* 3] enthält; doch ist es auch gestattet, daß ein Fuß aus drei Silben besteht (von denen dann die zweite oder dritte einen Nebeniktus tragen muß): in diesem Fall muß jedoch der andre Fuß einsilbig sein. Die Hebungen erfordern gewöhnlich eine lange Silbe (an deren Stelle jedoch auch ein iambischer oder pyrrhichischer Zweisilber treten darf); nur unter gewissen Einschränkungen kann auch eine einzelne kurze Silbe die Hebung tragen. Auftakte und mehrsilbige Senkungen sind nur in beschränktem Maß und in bestimmten Fällen gestattet. Von den vier Hebungen des Vísufjórðungr sind 2-3 durch den Stabreim gebunden. Im ersten Vers des Verspaars stehen der Regel nach zwei Reimstäbe (Stollen), oft auch nur einer;
im zweiten Vers steht einer, der Hauptstab. - Im Ljoðaháttr, der höchst wahrscheinlich erst aus dem Kviðuháttr sich entwickelt hat, hat die Strophe der Regel nach sechs Zeilen (die Strophen von mehr Zeilen scheinen sämtlich interpoliert);
die Zeilen 1 und 2, 4 und 5 sind in derselben Weise wie im Kviðuháttr durch den Stabreim gebunden;
dagegen allitterieren Zeile 3 und 6 jede für sich, indem jede zwei Reimstäbe enthält.
Der Bau des Ljódaháttr scheint weniger an feste Regeln gebunden, doch fehlt es noch an eingehendern Untersuchungen. - Der Málaháttr ist eigentlich nur eine Abart des Kviduhàttr, indem jede der acht Zeilen um eine Silbe vermehrt ist. Kviðuháttr und Málaháttr fanden mehr in erzählenden, der Ljóðaháttr mehr in didaktischen Gedichten Anwendung. B. Der Kunstdichtung der Skalden gehören an das Dróttkvætt (Dróttkvædr Háttr) und die Runhenda (Runhendr Hâttr).
Das seit dem 9. Jahrh. bezeugte Dróttkvætt (der »Hofton«) hat diesen Namen erhalten, weil es vorzugsweise in Lobliedern auf Fürsten Verwendung fand (vgl. Drâpa). Auch in ihm ist die Strophe achtzeilig und hat den Stabreim wie der Kviðuháttr, nur daß hier stets alle drei Reimstäbe vorhanden sein müssen. Der wesentliche Unterschied dieses Versmaßes vom Kviðuháttr besteht in einem außer dem Stabreim angewandten Binnenreim, der entweder Vokal und folgende Konsonanz betrifft (Aðalhending) oder nur die Konsonanz (Skothending). In jeder Viertelstrophe hat je der erste Vers Skothending, der zweite Aðalhending.
Jede Verszeile des regelmäßigen Dróttkvætt besteht aus drei zweisilbigen Füßen, in welchen stets die erste Silbe als Hebung gilt. Im ersten und dritten Takt muß die erste Silbe lang sein (es sind also hier nur Spondeen und Trochäen gestattet), während im zweiten Takt auch Iamben und Pyrrhichien zulässig sind. Nur im ersten und zweiten Takt kann je eine der beiden Silben in zwei verschleifbare Silben aufgelöst werden, von denen die erste immer kurz, die zweite unbetont sein muß. Eine spätere Abart des Dróttkvætt ist die Hrynhenda, auch Liljulag genannt, weil in der Lilja (s. Drâpa) gebraucht; sie hat acht Silben in der Zeile. Eine weitere Abart mit kurzen Versen (vier Silben) ist das Toglag. - Die Runhenda (Runhendr Háttr) unterscheidet sich vom Kviðuháttr durch Hinzukommen des Endreims, dagegen fehlt ihr der Binnenreim.
Die
Strophe ist ebenfalls achtzeilig. In der eigentlichen Runhenda geht der
Reim durch alle acht
Verse hindurch; in der kleinern
Runhenda hat jede Halbstrophe, in der kleinsten jede Viertelstrophe ihren eignen
Reim. Regelmäßig stehen
außerdem alle drei Reimstäbe des
Stabreims. Die Zahl der
Silben schwankt zwischen 3 und 7, ist aber in derselben
Strophe die
gleiche. Aus der Runhenda entwickelten sich später (seit dem 14. Jahrh.) die Rímur, entsprechend
unsern gereimten Gedichten. Sie bestehen gewöhnlich aus vierzeiligen
Strophen mit gekreuzten
Endreimen,
neben welchen sie in der
Regel auch noch den
Schmuck der
Allitteration bewahrt
haben. - Die älteste
Darstellung der isländischen
Verskunst findet sich in der sogen. jüngern
Edda.
Vgl. J. ^[John] Olafsen, Om Nordens gamle Digtekonst etc. (Kopenh. 1786).
Von neuern Arbeiten sind besonders zu nennen: Ed. Sievers, Beiträge zur Skaldenmetrik (in Paul und Braunes »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache [* 4] und Litteratur«, Bd. 5, 6 u. 8, Halle [* 5] 1878 bis 1882);
Derselbe, Zur Rhythmik des germanischen Allitterationsverses (ebenda, Bd. 10, das. 1885);
Derselbe, Proben einer metrischen Herstellung der Eddalieder (das. 1885);
A. Edzardi, Die skaldischen Versmaße und ihr Verhältnis zur keltischen Verskunst (in Paul und Braunes »Beiträgen«, Bd. 5, das. 1878),
und die ausführlichen Erörterungen von Th. Möbius in seiner Ausgabe von Snorris »Háttatal« (das. 1879-81).
Eine kurze, aber recht empfehlenswerte Darstellung der altnordischen Metrik gab Erik Brate (»Fornnordisk metrik«, Upsala [* 6] 1884).