Impfung
,
[* 2] im weitern Sinn die künstliche Übertragung eines Krankheits- oder Ansteckungsstoffs auf eine von der Oberhaut befreite Stelle durch einen Riß, einen feinen Schnitt, eine Exkoriation auf ein bisher gesundes Individuum. Die I. ist also eine eigentümliche Form der Ansteckung, wobei der Ansteckungsstoff in Form einer Flüssigkeit durch die äußere Haut [* 3] in die Säftemasse aufgenommen wird. Auf dem Weg der I. können verschiedene Ansteckungsstoffe und demnach auch verschiedene Krankheiten, sei es zufällig, sei es absichtlich, übertragen werden, z. B. die Syphilis. Im engern Sinn bedeutet I. die absichtliche Übertragung eines schwach wirkenden Krankheitsstoffs, um dadurch für ein stärkeres Krankheitsgift verwandter Art Schutz zu erzielen (vgl. Immunität, Tollwut).
Diese I. heißt auch prophylaktische I. In der Regel denkt man bei dem Wort I. an die künstliche Übertragung des Kuhpockengifts auf den Menschen (Vaccination) in der Absicht, ihn dadurch gegen den Ansteckungsstoff der Menschenpocken unempfänglich zu machen. Die Kuhpocken (vaccina, variola vaccina) sind ein pustulöser Ausschlag am Euter der Kühe, der in Form der wahren und der falschen Kuhpocken (s. Mauke) auftritt, jedoch nur in der erstern Form eine Schutzkraft gewährt.
Die Lymphe dieser Pocken, deren Aussehen ganz dem der Menschenpocken (s. Pocken) entspricht, enthält in Form kleinster Spaltpilze den Ansteckungsstoff, der am achten Tag zur I. am geeignetsten ist. Man verwendet die Lymphe am besten frisch, da sie, in Glycerin aufbewahrt, schon nach 2-3 Monaten zweifelhafte oder unbrauchbare Resultate liefert, selbst wenn sie in kleinen Glasröhrchen fest zugeschmolzen ist. Der Akt der I. selbst besteht darin, daß am Oberarm die Haut mit einer Lanzette [* 4] geritzt oder schräg eingestochen wird, so daß höchstens ein Tröpfchen Blut hervorquillt, und daß in diese kleine Wunde die Lymphe mittels derselben Lanzette hineingemischt und verstrichen wird. Am 1. und 2. Tag ist nichts zu bemerken, am 3. erscheint ein roter Fleck, der am 4. zunimmt, an welchem man auch ein kleines Knötchen fühlt;
am 5. erhebt sich dasselbe, wird pustelförmig und mit einem schmalen, roten Hof [* 5] umgeben. Am 6. Tag bekommt die Pustel eine Delle, füllt sich mit klarer Flüssigkeit, der Hof tritt mehr hervor;
am 7. nehmen die Erscheinungen zu, am 8. ist die Pustel völlig ausgebildet, 4-8 mm im Durchmesser stark, mit heller Lymphe gefüllt, der Entzündungsrand ziemlich ausgebreitet;
am 9. dehnt er sich noch weiter aus, wird röter, die Lymphe wird dicklich eiterig. Am 10. ist die Delle verschwunden, die Pustel in völliger Eiterung, die Röte bis über den ganzen Arm verbreitet, dabei Fieber vorhanden.
Vom 12.
Tag an fängt die
Pustel an abzutrocknen, und der Entzündungsrand verschwindet.
Hat die entstandene
Pustel nicht alle Zeichen der echten
Kuhpocke, so trage der
Arzt Sorge für die später anzustellende Wiederimpfung
(Revaccination).
Eine unentwickelte, rudimentäre
Kuhpocke, eine sogen. Vaccinelle, wird entstehen oder auch die I. ganz
erfolglos bleiben, wenn man sich eines unwirksamen Impfstoffs bediente, bei der I. selbst Fehler beging, oder wenn das geimpfte
Individuum gegen das Kuhpockenkontagium zufällig unempfänglich ist.
Der Impfstoff trägt die Schuld des Mißlingens der I., wenn man ihn einer Vaccinelle entnahm, oder wenn man eine echte Pocke zur unrechten Zeit, zu früh oder zu spät, öffnete. Nur am siebenten oder achten Tag nach der I., wo die Kuhpocke in ihrer Blüte [* 6] und die Lymphe wasserhell ist, ist die letztere zum Weiterimpfen brauchbar. Unbrauchbar sind daher auch echte Kuhpocken, deren Ausbildung durch Quetschen und Auskratzen gestört worden ist, sowie auch jene Pocken es werden, denen man wiederholt zu viel Lymphe entnimmt.
Ist die I. von einer guten Pockenbildung gefolgt, so kann man darauf rechnen, daß innerhalb der nächsten 6-8, höchstens 9 Jahre eine Ansteckung mit Pockenkranken entweder ganz unschädlich bleiben, oder nur eine sehr schwache Erkrankung zur Folge haben wird. Diese Erfahrung ist eine der wichtigsten und für das menschliche Geschlecht segensreichsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Heilkunde. Es war eine längst bekannte Thatsache, daß die künstlich hervorgebrachten Menschenpocken gewöhnlich milder verliefen als die auf dem gewöhnlichen Weg der ¶
mehr
Ansteckung unabsichtlich entstandenen Pocken. Die Inder kannten diese Thatsache schon früh, und auch in China,
[* 8] Arabien, Georgien,
Persien
[* 9] und andern Ländern ward die Einimpfung
der Menschenblattern auf verschiedene Art ausgeübt. Zu Anfang des 18. Jahrh.
wandte sich in Europa
[* 10] die Aufmerksamkeit der Laien und Ärzte bestimmter der I. der Menschenpocken zu. Lady
Montague, deren Gemahl Gesandter in Konstantinopel
[* 11] war, ward in Griechenland
[* 12] darauf aufmerksam, ließ 1717 ihren Sohn impfen
und wußte nach ihrer Rückkehr nach England dieser Schutzmaßregel allgemeinen Eingang zu verschaffen.
Indessen traten viele Gegner dieser prophylaktischen Methode auf, und sie kam im Lauf des Jahrhunderts so ziemlich in Vergessenheit. Im J. 1791 impfte der Schullehrer Plett im Holsteinischen, in der Nähe von Kiel, [* 13] drei Kinder mit günstigem Erfolg, ohne seine Entdeckung weiter zu verfolgen. Dagegen benutzte Eduard Jenner (s. d.), Arzt zu Berkeley in Gloucestershire, die bisherigen Erfahrungen zu zahlreichen und fortgesetzten Versuchen, die zur Feststellung der Thatsache von der Schutzkraft der Kuhpocken gegen die Menschenpocken führten. 1799 ward in London [* 14] eine öffentliche Impfanstalt errichtet, in der noch in demselben Jahr 6000 Menschen geimpft wurden. 1799 impften de Carro zu Wien, [* 15] Junker zu Halle, [* 16] Ballhorn und Stromeyer zu Hannover, [* 17] bald danach Heim, Hufeland u. a. In Frankreich verbreitete Aubert, in Italien [* 18] Sacco die I.; 1800 schickte de Carro Lymphe nach Konstantinopel, von wo sie nach dem Orient gelangte. Nach Amerika [* 19] sandte Jenner selbst die erste Kuhpockenlymphe.
Im Lauf der Zeit hat sich die Überzeugung von der Schutzkraft der Kuhpockenimpfung
gegen die mit Recht so gefürchteten Menschenpocken
an der Hand
[* 20] zahlloser Erfahrungen und auf Grund eines überreichen statistischen Materials bei Ärzten und
Laien eingebürgert, und bei sorgfältiger Ausführung ist sie auch völlig gefahrlos. Sofern man die I. mit reiner Kuhlymphe
vornimmt, ist ein übles Ereignis niemals zu gewärtigen; impft man dagegen mit humanisierter, d. h.
auf menschlicher Haut entstandener, Lymphe, so ist die Gefahr der gleichzeitigen Übertragung andrer schädlicher
Stoffe nicht ganz ausgeschlossen. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diesem Weg nicht nur die Wundrose oder eiterige Hautentzündungen,
sondern auch die Tuberkulose und Syphilis unter Umständen übertragen werden können, und daß z. B. die Syphilis in vereinzelten
Fällen wirklich übertragen worden ist. Da sich aber bei gehöriger Umsicht von seiten des Arztes diese
Gefahr vermeiden läßt, so kann daraus kein Einwand gegen die Vornahme der Schutzpockenimpfung
als einer allgemeinen
Maßregel der öffentlichen Gesundheitspflege hergeleitet werden.
Von andern Krankheiten aber als der Syphilis ist die Übertragbarkeit durch die Schutzpockenimpfung
nicht zu erweisen gewesen.
Um aber auch dieser Möglichkeit einer Übertragung der Syphilis vorzubeugen, sind in neuerer Zeit in großem Umfang Impfungen
nicht vom Menschen auf den Menschen (d. h. mit humanisierter Lymphe), sondern vom Kalb auf den Menschen (animalische Lymphe) angestellt
worden, welche die von den Impfgegnern so stark übertriebenen Gefahren absolut ausschließen.
Nach einer Statistik (1882) von Pissin (Berlin),
[* 21] welcher sich große Verdienste um die Einführung der animalischen
I. erworben hat, wurde mit frischer wie konservierter Lymphe vom Kalb (die Dauer der Konservierung währte bis acht Wochen)
bei 98,1 Proz. der zuerst Beimpften und bei 91,3
Proz. der Wiedergeimpften ein
günstiger Erfolg erzielt, so daß die Impfpocken
aufgingen. Bei der ungeheueren Anzahl derer, welche in frühern Zeiten, vor Einführung der Schutzpockenimpfung
, an Menschenpocken
gestorben oder dauernd an ihrer Gesundheit geschädigt worden sind, ist es begreiflich, daß der Staat sich der Schutzpockenimpfung
annahm und sie zu einem stehenden Institut der öffentlichen Gesundheitspflege machte.
Der ganze hohe Wert dieser Schutzmaßregel kann sich aber nur dann ergeben, wenn die Schutzpockenimpfung
eine allgemeine, sämtliche Individuen umfassende ist, und wenn sie an jedermann in entsprechenden Zeitabschnitten wiederholt
wird. Bei der lebhaften Agitation, welche von verschiedenen Seiten gegen die I. ins Werk gesetzt worden ist, und bei der Gleichgültigkeit
vieler, namentlich ungebildeter Menschen gegen alles, was mit der öffentlichen Gesundheit zusammenhängt, kann die I. nur
durch staatlichen Zwang zu einer allgemeinen Einrichtung werden.
Die ganze Angelegenheit der I. und des Impfzwanges hat für das Deutsche Reich
[* 22] ihre definitive Regelung durch das Impfgesetz
vom gefunden. Dieses Gesetz beruht auf dem Prinzip der allgemeinen zwangsweisen I. und Wiederimpfung.
Im allgemeinen ist die erste I. bis spätestens zum Schluß des zweiten Lebensjahrs, die Revaccination aber im zwölften Lebensjahr
vorzunehmen (weil man in diesem Alter durch Vermittelung des Schulbesuchs einen Überblick über sämtliche Impfpflichtige
hat).
Weiterhin wird in der deutschen Armee jeder neu eingestellte Soldat der Revaccination unterworfen.
Vgl.
Kußmaul, Zwanzig Briefe über Menschenpocken- und Kuhpockenimpfung
(Freiburg
[* 23] 1870);
Jacobi, Das Reichsimpfgesetz vom etc. (Berl. 1875);
Bohn, Handbuch der Vaccination (Leipz. 1875);
Bollinger, Über animale Vaccination (das. 1879);
Lotz, Pocken und Vaccination (2. Aufl., Basel [* 24] 1880);
Warlomont, Traité de la vaccine et de la vaccination humaine et animale (Par. 1883);
Wernher, Zur Impffrage, Resultate der Vaccination und Revaccination (Mainz [* 25] 1883);
Pfeiffer, Die Vaccination, ihre experimentellen und erfahrungsmäßigen Grundlagen und ihre Technik (Tübing. 1884).
Bei den Haustieren wird die I. als Schutzmittel gegenüber der Schafpockenseuche, der Maul- und Klauenseuche, der Lungenseuche und dem Rauschbrand der Rinder [* 26] mit Erfolg angewandt. Sie ist beim Ausbruch der Schafpocken gesetzlich vorgeschrieben, um die schnelle Durchseuchung der erkrankten und bedrohten Herden künstlich herbeizuführen. Die Rinderpest wurde im vorigen Jahrhundert vergeblich mit der I. zu bekämpfen versucht. Auch beim Milzbrand und bei der Rotlaufseuche der Schweine [* 27] ist die I. für die Tiere gefährlich und deshalb nicht allgemein zur Anwendung gekommen.
Vgl. Kitt, Über Wert und
Unwert der Schutzimpfungen
gegen Tierseuchen (Berl. 1886).