Hermes
,
[* 2] griechischer Gott, Sohn des Zeus [* 3] und der Maia, der Tochter des Atlas, [* 4] geboren auf dem arkadischen Gebirge Kyllene (daher der Kyllenier genannt), zeigte gleich nach seiner Geburt die Grundzüge seines Wesens: Erfindungsgabe, mit Anmut gepaarte Gewandtheit, List und Verschlagenheit. Wunderbar sich entwickelnd, springt er vier Stunden nach seiner Geburt aus der Wiege, erfindet, indem er über die Schale einer Schildkröte Saiten spannt, die Lyra [* 5] und singt auf derselben die Liebe des Zeus und der Maia.
Von einem
Gelüst nach Fleischkost ergriffen, eilt er in der
Dämmerung nach
Pierien und stiehlt 50
Rinder
[* 6] aus der
Herde des
Apollon,
[* 7] die er rückwärts vor sich her treibt, indem er sich selbst
Sandalen
[* 8] oder
Zweige unter die
Füße bindet,
und bei
Pylos in einer
Grotte verbirgt. Dann zu seiner
Mutter am
Kyllene zurückgekehrt, legt er sich in seine Wiege, als sei
nichts vorgefallen. Aber
Apollon entdeckt durch seine Seherkunst den
Dieb und bringt ihn vor
Zeus. Durch dessen
Ausspruch bekommt
Apollon seine
Rinder wieder, überläßt sie aber dem Hermes
willig gegen Abtretung der von jenem erfundenen
Lyra, worauf Hermes
zu
seinem eignen
Gebrauch die bescheidenere Hirtenflöte
(Syrinx) erfindet.
Aber auch diese tritt
er an
Apollon gegen den
»Heroldsstab« ab. So ward ein
Herden- und Weidengott, während sich
Apollon von
nun an mit
Eifer den musikalischen
Künsten zuwandte. Beide lebten seitdem durch die innigste
Freundschaft und
Liebe verbunden.
Apollon lehrte den jüngern
Bruder noch die
Kunst der
Weissagung,
Zeus aber machte ihn zum Götterherold. Von nun an greift Hermes
bedeutend
in die
Götter- und
Heroensage ein, am meisten als
Bote des
Zeus, aber auch als der pfiffige
Menschen- und
Heldenfreund, der überall kluge Ratschläge gibt. Er kämpft unter dem unsichtbar machenden
Helm des
Pluton
[* 9] mit gegen die
Giganten, befreit den
Ares
[* 10] aus den
Fesseln der
Aloiden, tötet den die
Io bewachenden
Argos, führt die
Persephone
[* 11] aus der
Unterwelt
zu
Demeter
[* 12] zurück, entführt den
Ganymedes,
[* 13] flicht in
Zeus' Auftrag den
Ixion aufs
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Rad, läßt den Prometheus an den Felsen schmieden, bringt dem Epimetheus die von ihm mit den verfänglichsten Gaben ausgestattete Pandora, führt den Priamos in das Zelt des Achilleus, hilft dem Odysseus gegen die Ränke der Kirke etc. Besonders häufig wird er zur Rettung und Unterbringung von Götterkindern benutzt, wie er beispielsweise den kleinen Dionysos [* 15] heimlich den Nymphen vom Berg Nysa zur Erziehung überbringt. Den Perseus [* 16] rüstet er mit seinen Waffen [* 17] zur kühnen Fahrt gegen die Medusa aus und schützt ihn auf derselben in Verbindung mit Athene; [* 18] den Herakles [* 19] geleitet er in die Unterwelt. Am liebsten verkehrt er mit den Nymphen des Waldes und des Feldes.
Pan,
[* 20] Priapos, Hermaphroditos, Daphnis von Sizilien
[* 21] u. v. a. werden als seine Söhne genannt. Ursprünglich war Hermes
wohl »der Stürmende,
Eilende«, der Gott des Windes, daher er beflügelt gedacht wurde, dann der Fahrten und Reisen, endlich des Verkehrs und der Geschäfte
überhaupt. Als Gott der Reisen geleitet er den Menschen auch auf dem letzten Gang,
[* 22] dem in die Unterwelt;
daher heißt er Seelengeleiter (Psychopompos). Die älteste Form der Verehrung des Hermes
ist die in Gestalt bloßer Steinhaufen.
In diesen Haufen ward ein Pfeiler aufgerichtet, und indem an diesem Pfeiler der Phallos angebracht und später auch
der Kopf des Gottes angesetzt wurde, entstanden die Hermen (s. d.), welche ursprünglich zugleich als Wegweiser dienten und
mit sinnreichen Sprüchen versehen waren.
Mit den Eigenschaften der Schlauheit und der List hängt aufs engste sein erfinderisches Talent zusammen. Die philosophierenden Mythologen nannten ihn den allgemeinen Hermeneus (»Dolmetsch«),
der die Sprache,
[* 23] die Buchstabenschrift
und damit die Möglichkeit des Gedankenausdrucks gegeben habe, was die Griechen sinnreich andeuteten, indem sie ihm von den
geschlachteten Tieren vorzugsweise die Zungen opferten. Auch die Palästra und die Gymnasien galten für seine Stiftungen, waren
ihm heilig und wurden nach ihm benannt. Eigentliche Feste dem Hermes
zu Ehren waren die Hermäen, die, vorzugsweise
zu Athen,
[* 24] in den Gymnasien und Palästren gefeiert wurden. Der seinem Wesen nach so vielseitige Gott galt hier besonders als
Gott der gymnastischen Gewandtheit.
Nach einer andern Richtung hin
(als Abwehrer der Seuchen) wurde er in Tanagra (Böotien) verehrt; wieder eine andre Bedeutung
hatte sein Kultus auf Kreta (nämlich eine ähnliche wie die des Saturnus in den Saturnalien zu Rom).
[* 25] Der
Hauptsitz seiner Verehrung war aber Arkadien, und zwar stand er hier (besonders in Pheneos) als Gott der alten ländlichen
Bevölkerung
[* 26] in hohen Ehren. Als Gott des Handels wurde er mit dem römischen Mercurius (s. d.) identifiziert.
Zu den Attributen des Hermes
gehört der Pilus, ein glockenartiger Hut,
[* 27] oder der Petasos,
[* 28] ein schattengebender, breitgekrempter
Reisehut. Schon bei Homer ist die Sohle des Hermes
geflügelt; später erhielt er Flügel nicht bloß an den Sohlen, sondern auch
am Hut, am Stab
[* 29] und an den Schultern. Weiter gehört zu den Attributen der Hermes-
od. Heroldsstab (s. Caduceus).
[* 30]
Die künstlerischen Darstellungen des Hermes
waren so mannigfaltig wie seine Bedeutung; bald erscheint er als Hirt, bald als Dieb,
bald als Kaufmann (mit dem Beutel),
[* 31] bald wieder mit der Lyra oder als Götterbote oder als Herold. Der den Widder tragende Hermes
der
alten Kunst ist auch in die christliche Symbolik als das herkömmliche Bild des guten Hirten übergegangen.
Die altertümliche Kunst stellte ihn bärtig, d. h. als kräftigen Mann, dar; frühzeitig aber machte sich
bei auch die jugendliche Bildung geltend. Er trägt kurzes, gelocktes Haar
[* 32] und hat forschenden, klugen Ausdruck des Gesichts.
Unter den erhaltenen Hermes
statuen sind vor allen das 1877 in Olympia ausgegrabene Meisterwerk des Praxiteles,
Hermes
mit dem Dionysosknaben auf dem Arm
[* 2]
(Fig. 1), und eine lebensgroße Bronzestatue des ruhenden Götterboten (in Herculaneum
gefunden, jetzt im Museum zu Neapel)
[* 33] zu erwähnen. Als Vorsteher der Ringschule stellt ihn eine prächtige Marmorstatue im
Belvedere des Vatikans dar (früher fälschlich als Antinoos
[* 34] bezeichnet); streng durchgebildete Darstellungen des Hermes
Logios,
d. h. des Vorstehers der rhetorischen Kunst, durch den Gestus der erhobenen rechten Hand
[* 35] charakterisiert, sind der »Hermes
Ludovisi«
in Rom (Fig. 2) und der berühmte sogen. Germanicus im Louvre zu Paris.
[* 36] Als Gott des Handels und Verkehrs (mit
gefülltem Beutel in der Hand) erscheint Hermes
in einer schö-
[* 2] ^[Abb.: Fig. 1. Hermes des Praxiteles (aus Olympia).]
[* 2] ^[Abb.: Fig. 2. Hermes Logios (Rom, Villa Ludovisi.)] ¶
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nen Statue im Kapitol zu Rom und in einer zierlichen Bronzestatuette des Britischen Museums. In römischen Bildwerken sind ihm häufig Hahn [* 38] und Widder beigegeben [* 37] (Fig. 3).
Vgl. Wehrmann, Das Wesen und Wirken des Hermes (Magdeb. 1849 u. 1852);
Kuhn in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 6, S. 125 ff.; Hermes D. Müller, Mythologie der griechischen Stämme, Bd. 2 (Götting. 1869);
Mehlis, Die Grundidee des Hermes vom Standpunkt der vergleichenden Mythologie (Erlang. 1875);
Roscher, Hermes, der Windgott (Leipz. 1878).
[* 37] ^[Abb.: Fig. 3. Mercurius (Relief einer Silbervase in Neuwied).]