Hemianopie
(grch.) oder Hemianopsie (weniger passend Hemiopie), Halbsehen, eine Störung des Sehvermögens, bei der auf beiden Augen innerhalb einer Hälfte des Gesichtsfeldes nicht gesehen wird, weil die der Lage nach korrespondierenden Netzhauthälften gelähmt sind. Sie ist begründet in der eigentümlichen Verteilung der Nervenfasern in den Netzhäuten. Bei allen Wirbeltieren nämlich vereinigen sich in jeder Gehirnhälfte die für die Netzhäute bestimmten Nervenfasern an der Schädelbasis zu einem Sehstrange (tractus opticus) und treten die beiden Traktus, nach vorn hin konvergierend, zu einer Kreuzung (chisma nervorum opticorum) zusammen, aus deren vorderm Teile die beiden Sehnerven entspringen.
Diese Kreuzung ist jedoch nicht bei allen Wirbeltieren eine vollständige, sondern beim
Menschen und denjenigen
Tieren,
die für beide
Augen ein gemeinschaftliches Sehfeld besitzen, eine partielle oder Halbkreuzung (semidecussatio), indem sich
innerhalb der Kreuzungsstelle jeder Traktus in ein gekreuztes und ein ungekreuztes
Bündel spaltet. Das ungekreuzte
Bündel
des linken Sehstrangs geht an der Außenseite des linken
Sehnerven zur linken Hälfte der linken Netzhaut, während sein gekreuztes
Bündel an der Innenseite des rechten
Sehnerven zur linken Hälfte der rechten Netzhaut verläuft, und in gleicher
Weise versorgt
das ungekreuzte
Bündel des rechten Traktus die rechte Hälfte der rechten, und sein gekreuztes
Bündel die rechte Hälfte
der linken Netzhaut. (S.Tafel:
Das
Auge
[* 3] des
Menschen,
[* 1]
Fig. 4
u. 6, Bd. 2, S. 104.) Trifft nun z. B.
eine
Störung
(Bluterguß, Geschwulstbildung u. s. w.) den linken Sehstrang oder die centralen Hirnteile,
von denen er seine Fasern bezieht, so erlischt auf beiden
Augen die Thätigkeit der linken Netzhauthälfte, d. h. das Sehvermögen
der rechten Gesichtsfeldhälfte, sodaß bei geradeaus gerichtetem
Blicke alle rechts vom Fixierpunkte gelegenen
Objekte nicht gesehen werden (rechtsseitige homonyme oder gleichnamige Hemianopie
), während bei Funktionsstörung
des rechten Traktus infolge der
Lähmung beider rechten Netzhauthälften beide linken Gesichtsfeldhälften erblinden (linksseitige
homonyme Hemianopie
). Liegt dagegen das Leitungshindernis hinter dem Chiasma, in dem Winkel
[* 4] zwischen beiden Sehsträngen,
oder vor dem Chiasma, zwischen den beiden
Sehnerven, so trifft die
Lähmung zunächst die beiden gekreuzten,
d. h. die innern Netzhauthälften beider
Augen versorgenden
Bündel, und dem entsprechend erblinden die schläfenwärts gelegenen
Hälften beider
Gesichtsfelder (temporale Hemianopie
). In seltenen Fällen und bei komplizierten Prozessen in den betreffenden
Hirn- oder Nervenpartien kommt es vor, daß die nasenwärts gelegenen oder obern oder untern Hälften
beider
Gesichtsfelder fehlen.
Ein nur vorübergehendes, d. h. einige Minuten bis eine halbe Stunde anhaltendes Halbsehen, aus einem oder beiden Augen, jedoch mehr in unregelmäßiger und wechselnder Gestalt, zeigt sich bei temporären Anomalien der Blutcirkulation in der Netzhaut und den centralen Teilen des Gesichtssinnes, also namentlich bei hysterischen Zuständen, besonders aber bei einer die Migräneanfälle häufig einleitenden oder begleitenden Sehstörung, die man wegen der dabei oft vorhandenen subjektiven Lichterscheinungen Flimmerskotom nennt.