(lat.
Gratia), im allgemeinen jedes Wohlwollen des
Höhern gegen den Niedern, insbesondere die
Machtvollkommenheit
des
Souveräns, insofern sie Vergünstigungen zu teil werden lassen kann, auf welche ein Rechtsanspruch nicht besteht. Namentlich
im
Strafrecht ist das
Recht derGnade von großer Wichtigkeit (s.
Begnadigung). Auf Gott
übertragen, ist Gnade nach
der Kirchenlehre diejenige
GüteGottes, nach welcher
er denMenschen auch noch als
Sünder liebt und ihm den Rückweg zur verscherzten
Seligkeit ermöglicht, daher die
Rede ist von GnadeGottes in
Christus als der alles zusammenfassenden Hauptwohlthat
Gottes.
Hierauf gründet sich der Sprachgebrauch der Kirchenlehre, wonach im engern
Sinn vornehmlich die zuvorkommende
und erneuernde Wirksamkeit des
HeiligenGeistes auf das innere
Leben der
MenschenGnadenwirkung, das von
Christus gegründete
und durch seinen
Geist regierte
ReichGnadenreich, die
Mittel, durch welche dieser
Geist den
Menschen das
Heil nahebringt und aneignet,
Gnadenmittel (s. d.), der Zustand des gerechtfertigten
ChristenGnadenstand, die in letzterm zu genießenden
geistlichen
GüterGnadengaben, die Lebenszeit des
Christen, sofern ihm die
Gnadenmittel zu
Gebote stehen, Gnadenzeit und die
im Jenseits verheißene
VergeltungGnadenlohn genannt werden.
In der
Kirche machte sich zuerst, solange die
Lehre
[* 2] hauptsächlich durch griechische
KirchenväterAusbildung fand, eine
Richtung
geltend, welche das
Heil des
Menschen vornehmlich auf dessen freie
Entscheidung für das
Gute gründete,
während die Gnade mehr auf die Bedeutung einer göttlichen
Beihilfe reduziert wurde.
StrengereBegriffe von der Wirksamkeit der
Gnade brachte in der lateinischen
KircheAugustin zur Geltung, indem er infolge seiner
Lehre von der
Erbsünde (s. d.) zu der Behauptung
fortschritt, daß
GottesGnade einen Teil der
an sich verlornen und verdammten
Menschen ohne alle Rücksicht
auf deren eignes Zuthun durch
Christus rette.
Die entgegenstehende
Theorie wurde zwar von der
Kirche als Pelagianismus verworfen; gleichwohl aber behauptete man selbst da,
wo sich
Augustins Ansehen fast unbedingte Geltung verschaffte, doch eine gewisse Allgemeinheit der Gnade, und
demgemäß wurde auf dem
Konzil zu
Arausio (529) trotz unbedingter
Notwendigkeit der Gnade eine durch die
Taufe gewirkte Wiederherstellung
der
Willensfreiheit angenommen. Auch die
Scholastiker haben ein
Interesse an der
Freiheit des
Willens und der Verdienstlichkeit
der frommen Werke, räumen aber je nach dem
Maß ihrer
Neigung zum Augustinismus dabei der Gnade einen größern
oder geringern Wirkungskreis ein. So entstand ein
Lehrbegriff, welcher den
Prozeß der Heilsaneignung in der Form einer Abwechselung
von
Wirkungen der Gnade, bei welcher immer die
Initiative liegt (gratia praeveniens), und des freien
Willens, endlich aber eines
Zusammenwirkens beider (gratia cooperans) beschreibt (s.
Meritum), und an diesen scholastischen
Lehrbegriff
schließt sich wesentlich auch das
Konzil von Trident an. Die
Reformatoren dagegen wandten sich in ihrem
Interesse, den
Menschen
von der priesterlichen Vermittelung zu emanzipieren und lediglich auf Gott zu stellen, der strengen Gnadenlehre
Augustins
zu und mußten daher eine Mitwirkung des natürlichen freien
Willens zurückweisen. Am konsequentesten
verkündigte
Calvin eine Gnade, welche nicht an alle gelange (particularis), aber unwiderstehlich (irresistibilis) und nicht
wieder zu verlieren (inamissibilis) sei. In die lutherische
Dogmatik dagegen ging der übrigens auch im
Sinn der Ausschließlichkeit
der
Wirkung der Gnade gemeinte Vermittelungsversuch der
Konkordienformel über, wonach die Gnade zurückgewiesen
und verloren werden kann.
Alles religiöse und wahrhaft sittliche
Leben aber wurde aus übernatürlichen Gnadenwirkungen hergeleitet
und in die Tragweite des natürlichen freien
Willens nur die Erlangung einer bürgerlichen
Gerechtigkeit (justitia civilis)
gestellt. Vgl.
Prädestination.
(lat. gratia; grch. charis), im allgemeinen jedes
unverdiente Wohlwollen des Höhern gegen den Niedern; insbesondere das Recht desSouveräns, Vergünstigungen zu erteilen, auf
die ein Rechtsanspruch nicht besteht. (S. Begnadigung.) In der religiösen Sprache
[* 3] ist Gnade die göttliche Güte, sofern sie
an dem Menschen ohne dessen Verdienst sich wirksam erweist, sodaß für die fromme Anschauung alles Gute auf göttlicher Mitteilung
beruht und jede Förderung des leiblichen wie des geistigen Lebens unter den Gesichtspunkt der freien göttlichen Gnade tritt.
Im engern Sinne heißt Gnade diejenige göttliche Ursächlichkeit, die den Menschen in das rechte religiöse
Verhältnis zu Gott einsetzt, d. h. ihn durch Befreiung von Sünde und Schuld mit Gott versöhnt, und zur religiös-sittlichen
Lebensvollendung führt. Sofern nämlich der zur Erkenntnis der sittlichen Ordnungen Gottes oder des göttlichen Gesetzes
herangereifte Mensch seine Sündhaftigkeit einräumen muß, sich selbst aber durchaus unfähig findet, derselben zu entgehen,
so führt er alle Versöhnung des Herzensmit Gott und alle dieser Versöhnung entquellenden sittlichen Kräfte
¶
mehr
allein auf die unverdiente göttliche Gnade zurück. Dieser Gegensatz von Sünde und Gnade beherrscht daher für die christl. Frömmigkeit
das Leben des Einzelnen wie der Menschheit und bedingt das Hervortreten der Gesetzesreligion, welche die Sünde vergeblich
bekämpft, und der Erlösungsreligion, welche allein sie wirklich aufhebt. Der auf allen seinen Stufen
in göttlicher Ursächlichkeit begründete Fortschritt von der Knechtschaft des endlichen Subjekts unter dem Gesetz und der
Sünde zu freier, gottversöhnter und gotterfüllter Geistigkeit (Gotteskindschaft), an sich ein rein geistig-innerlicher Vorgang,
erscheint nach altkirchlicher Lehre als Resultat von äußern, übernatürlichen Einwirkungen des göttlichen Geistes (operationes
gratiae), die an äußere göttliche Veranstaltungen zum Heile der Menschen sich anknüpfen.
Schon der ApostelPaulus lehrt, daß bei der gleichen Sündhaftigkeit von Juden und Heiden und bei der allgemeinen Unmöglichkeit
für die Menschen, durch Werke des Gesetzes gerecht zu werden, die Rechtfertigung und sittliche Erneuerung des Sünders allein
durch die Gnade, näher auf dem mittels Christi Tod und Auferstehung durch freie göttliche Gnade dem Glauben
angebotenen Heilswege erfolgen könne. (S. Rechtfertigung.) Die ältern Kirchenlehrer knüpften die Wirksamkeit der göttlichen
Gnade noch bestimmter an die Wunderkraft der Taufe, der von seiten des Menschen die gläubige Aufnahme der kirchlichen Lehrüberlieferung
entsprechen müsse, behaupteten dagegen eine Mitwirkung der auch durch den Sündenfall nicht völlig verloren
gegangenen natürlichen Kräfte des Menschen zum Werke der Bekehrung. (S. Synergismus.) Erst Augustinus stellte im Streite mit
Pelagius (s. Pelagianer) die Lehre auf, daß der durch Adams Fall völlig verderbte und aller Freiheit zum Guten verlustig gegangene
Mensch allein durch die unwiderstehlich wirkende Gnade (gratia irresistibilis) bekehrt werde,
sodaß der göttliche Geist ohne alle Mitwirkung von seiten des Menschen das Werk der Wiedergeburt in der Seele anfange, fortführe
und vollende.
Auch der Glaube (s.d.) erschien auf diesem Standpunkte ausschließlich als ein Werk der göttlichen Gnade Da aber nach der Erfahrung
nur der kleinere Teil des Menschengeschlechts bekehrt wurde, so behauptete Augustinus weiter, daß Gott
nach seinem freien Willen die Menschen, die er zur Seligkeit vorherbestimmt habe, auswähle und sie durch die Gnade bekehre. Dieses
Auswählen nannte man die Gnadenwahl. (S. Prädestination.) Trotz des großen Ansehens des Augustinus blieb doch in der röm.
Kirche der Synergismus die herrschende Vorstellung. Doch war man darüber, wie viel die Gnade thun müsse und
der Mensch mitwirken könne, nicht einerlei Meinung. Besonders über die Frage, ob derMensch die Kraft
[* 5] besitze, sich zum Empfang
der Gnade vorzubereiten, entstand zwischen den Dominikanern als Anhängern des Thomas von Aquino (s.d.), der
es leugnete, und den Franziskanern als Anhängern des Duns Scotus (s.d.) ein langer und heftiger Streit.
Die Konkordienformel (s.d.) setzte jedoch fest, daß der natürliche Mensch, solange ihn die Gnade nicht
bekehrt habe, derselben nur widerstreben könne, in der Bekehrung selbst aber sich schlechthin passiv verhalte. Nur eine sog.
«bürgerliche Gerechtigkeit» (justitia civilis) gestand sie ihm zu, d. h.
die Fähigkeit, grobe, durch das Gesetz verbotene Sünden zu meiden, jedoch nicht aus Liebe zu Gott und MM
Guten. Diese Lehre blieb innerhalb der luth. Kirche die herrschende.
Der Widerspruch, daß der Mensch aus eigener Kraft die Gnade nicht annehmen, wohl aber durch eigene Schuld ablehnen könne, sodaß
dieselbe also gleichwohl nicht unwiderstehlich wirke, wurde von der luth. Dogmatik nur künstlich durch die Behauptung verdeckt,
daß wenigstens dem natürlichen Menschen zunächst freistehe, die Predigt des göttlichen Wortes äußerlich
zu hören und die kirchlichen Sakramente zu gebrauchen, durch welche Mittel (Gnadenmittel) der HeiligeGeist dann insoweit unfehlbar
wirke, daß der Mensch die Freiheit zurückerhalte, die Gnade anzunehmen oder abzulehnen.
Namentlich wurde die Wirksamkeit der Taufe als eine magische Wiederherstellung der Freiheit zum Guten beschrieben.
Die reform. Kirche dagegen hielt an dem konsequenten Augustinismus, namentlich auch an dem Satze von der Unwiderstehlichkeit
der Gnadenwirksamkeit und an der strengen Lehre von der Gnadenwahl fest. (S.Prädestination.) In der röm.kath. Kirche wurde
durch das Tridentinische Konzil (s.d.) festgesetzt, der Mensch müsse durch die Gnade zur Bekehrung geneigt
gemacht werden, könne aber dann dazu mitwirken. Da indes die Dominikaner ihre frühere Lehre festhielten, die Jesuiten aber
synergistisch lehrten, so entstand darüber zwischen beiden ein langer Streit, zu dessen Erledigung der Papst Clemens VIII. 1598 eine
eigene Kommission, die Congregatio de auxiliis gratiac, niedersetzte, die aber keine Entscheidung aussprach.
Der Streit entbrannte aufs neue in Frankreich und den Niederlanden durch das von dem Bischof Jansen (s.d.) von Ypern geschriebene
und nach seinem Tode bekannt gewordene Buch«Augustinus» (1638), worin die strenge, aber von den Jesuiten bekämpfte Theorie des
Augustinus vorgetragen war.
Die neuere Entwicklung der prot. Theologie hat auch die Lehren
[* 6] von der Gnade und Gnadenwahl vielfach umgestaltet.
Während die Supranaturalisten synergistisch lehrten, die Nationalisten aber die Wirksamkeit der Gnade zu einer leeren
Formel herabdrückten, lehrte Schleiermacher, daß die aus dem Gesamtleben der Sünde heraustretenden Christen durch die Gnade mittels
des Glaubens an Christi Person in ein neues Gesamtleben eingepflanzt würden, worin das göttliche Leben
das herrschende Princip, die Sünde aber izumer mehr im Verschwinden begriffen ist.
Die Gnadenwahl beschrieb Schleiermacher als eine zwar unbedingte, aber auf alle ohne Ausnahme sich erstreckende. Die neuere
Vermittelungstheologie hat diese Schleiermacherschen Gedanken mit den ältern kirchlichen Vorstellungen von
der Erbsünde, der übernatürlichen Geisteswirksamkeit und der wunderbaren Kraft des göttlichen Wortes und der Sakramente
notdürftig auszugleichen gesucht, hinsichtlich der Prädestination aber meist synergistisch gelehrt oder doch die Erwählung
vom vorhergesehenen Gebrauch der Gnadenmittel abhängig gemacht. Die Folgewidrigkeiten dieser Theorie¶