Gervinus
,
Georg
Gottfried, ausgezeichneter Geschichtschreiber, geb. zu
Darmstadt,
[* 3] erhielt seine wissenschaftliche
Vorbildung auf dem
Gymnasium seiner Vaterstadt, trat 1819, der
Schule überdrüssig, in einer Buchhandlung zu
Bonn,
[* 4] bald darauf
in einem Tuchgeschäft zu
Darmstadt in die
Lehre,
[* 5] widmete sich aber daneben mit
Eifer ästhetischen und litterargeschichtlichen
Studien und neuern
Sprachen und wandte sich 1824 dem gelehrten
Beruf zu. Er holte die versäumte Schulbildung
durch die fleißigsten Privatstudien nach, bezog 1825 die
Universität
Gießen
[* 6] und ging
Ostern 1826 nach
Heidelberg,
[* 7] wo die Vorlesungen
Schlossers ihn zum Entschluß bestimmten, sich der Geschichte zu widmen. 1828 wurde er
Lehrer an einem
Erziehungsinstitut zu
Frankfurt
[* 8] a. M., und zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer kleinen
Schrift über die »Geschichte
der
Angelsachsen« (Frankf. 1830) als
Privatdozent in
Heidelberg, begab sich aber bald darauf, ohne Vorlesungen begonnen zu haben,
nach
Italien,
[* 9] wo er ein Jahr zubrachte. 1833 gab er eine Sammlung kleiner historischer
Schriften heraus
und 1835 den ersten
Band
[* 10] seiner »Geschichte der deutschen
Nationallitteratur« (Leipz. 1835-42, 5 Bde.);
spätere
Auflagen führen den veränderten
Titel: »Geschichte der deutschen
Dichtung«, die fünfte ist teilweise nach seinem
Tod von K.
Bartsch herausgegeben (das. 1871-74). Dieses Werk war auf dem betreffenden Gebiet epochemachend,
denn Gervinus
ist der erste gewesen, welcher die
deutsche Litteratur im Zusammenhang mit dem nationalen und
politischen
Leben und den gesamten Kulturzuständen aufgefaßt hat. Auf
Dahlmanns
Empfehlung wurde er 1835 als
Professor der
Geschichte und Litteratur nach
Göttingen
[* 11] berufen, wo er
Ostern 1836 sein
Amt antrat.
Bald darauf gab er die »Grundzüge
der
Historik« (Leipz. 1837) heraus, eine kleine, aber von ernstem Nachdenken zeugende
Schrift.
Seine glücklich begonnene Wirksamkeit in Göttingen nahm ein schnelles Ende infolge des von ihm und sechs andern Professoren unterzeichneten Protestes gegen die vom König Ernst August verfügte Aufhebung der hannöverschen Verfassung. Im Dezember 1837 abgesetzt und des Landes verwiesen, lebte er nun teils in Darmstadt, teils in Italien und ließ sich 1844 in Heidelberg nieder, wo er zum Honorarprofessor ernannt wurde und vielbesuchte Vorlesungen hielt. Dieselben machten, obgleich monoton abgelesen, alles Reizes eines freien Vortrags entbehrend, doch durch ihren gedankenreichen und sittlich erwärmenden Inhalt einen nachhaltigen Eindruck. Eine Frucht seiner Teilnahme an den damaligen Zeitinteressen waren seine zwei Flugschriften über »Die Mission der Deutschkatholiken« (Heidelb. 1846) und »Die preußische Verfassung und das Patent vom 8. Februar" (Mannh. 1847). Noch unmittelbarer bethätigte er sein Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten durch die 1847 in Verbindung mit Häusser, Mathy u. a. unternommene Gründung der "Deutschen Zeitung«, die er ein Jahr lang redigierte und mit vielen trefflichen Leitartikeln ausstattete. Im Frühjahr 1848 wurde er von den Hansestädten als Vertrauensmann zum Bundestag gesandt und von einem sächsisch-preußischen Wahlbezirk in die Nationalversammlung gewählt; aber er beteiligte sich weder an dem Verfassungsentwurf der Vertrauensmänner noch an den Verhandlungen des Frankfurter Parlaments in hervorragender Weise; mit dem Gang [* 12] der Dinge wenig einverstanden, trat er schon im August 1848 geistig und körperlich verstimmt aus dem Parlament aus und suchte Erholung und Erfrischung auf einer Reise nach Italien.
Anfang 1849 von dort zurückgekehrt, schrieb er wieder eifrig Artikel für die »Deutsche [* 13] Zeitung« über die Verfassungsfrage und trat energisch für die zweckmäßige Gestaltung der Zentralgewalt und die Selbständigkeit des Deutschen Reichs gegenüber Österreich [* 14] ein. Nach der Auflösung der Nationalversammlung zog er sich von der Politik zurück und arbeitete ein größeres Werk über Shakespeare aus, dessen Dramen er einer historischen und psychologischen Analyse unterzog, wobei er aber vielfach einem allzu gesteigerten Shakespeare-Kultus huldigte (»Shakespeare«, Leipz. 1849-52, 4 Bde.; 4. Aufl. mit Anmerkungen von Rudolf Genée, das. 1872, 2 Bde.). 1853 veröffentlichte er als Vorläufer eines größern Werkes die »Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts«, welche wegen freisinniger Äußerungen in ihr verboten wurde, und ließ 1854 den ersten Band der »Geschichte des 19. Jahrhunderts« (Leipz. 1856-66, 8 Bde.) selbst folgen, welche mit dem Wiener Kongreß beginnt und das Streben der Völker nach Freiheit und Selbstherrschaft von dem Standpunkt des konstitutionellen Liberalismus aus schildert.
Die ersten
Bände fanden Beifall, obwohl das Gervinus
zu
Gebote stehende urkundliche
Material dürftig war und
die
Reflexion
[* 15] die geschichtliche
Darstellung überwucherte. Das
Interesse des
Publikums erlahmte aber vom dritten
Band ab, der
die
Revolution in
Südamerika
[* 16] mit ermüdender
Breite
[* 17] behandelte, und konnte auch nicht durch die Schilderung des griechischen
Freiheitskampfes und der deutschen und französischen Geschichte bis 1830 wieder belebt werden. Die
Katastrophe
des
Jahrs 1866, welche das von Gervinus
so ersehnte
Ziel der politischen
Einheit
Deutschlands
[* 18] auf einem ganz andern Weg näher rückte,
namentlich die preußischen
Annexionen, verstimmte ihn tief; er sah der weitern
Entwickelung der
Dinge nur mit Erbitterung gegen
Preußen
[* 19] und mit Groll über seinen großen Staatsmann, der sich so gar nicht an die Vorschriften
politischer
Doktrinäre hielt, zu. Dieser
Stimmung gab er selbst nach Beginn des
Kriegs gegen
Frankreich
Ausdruck in der vom
November 1870 datierten
Vorrede zum ersten
Band einer neuen
Auflage seiner »Geschichte der deutschen
Dichtung«.
Der Ärger über den Gang der deutschen Politik untergrub seine ohnehin erschütterte Gesundheit, er starb nach kurzer Krankheit in Heidelberg. Seine Ansichten über die politischen Dinge seit 1866 hat er selbst noch weiter ausgeführt in zwei nach seinem Tod von seiner Witwe (geb. Schalver) herausgegebenen Aufsätzen: »Denkschrift zum Frieden an das preußische Königshaus« und »Selbstkritik« (»Hinterlassene Schriften«, Wien [* 20] 1872). Die letzte größere Arbeit, die er veröffentlichte, war ein Buch über »Händel und Shakespeare. Zur Ästhetik der Tonkunst« (Leipz. 1868). Nicht unerwähnt darf bleiben sein »Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers« (Leipz. 1861), worin er seinem alten Lehrer ein Denkmal persönlicher Freundschaft setzte und sich über die Aufgaben des Geschichtschreibers aussprach.
Die schriftstellerische Bedeutung von Gervinus
beruht in erster
Linie auf seiner Litteraturgeschichte, an welcher die
Kritik zwar
mancherlei auszusetzen hat, die aber doch eine neue
Bahn gebrochen und eine neue Grundlage für dieses
Fach geschaffen hat
und maßgebend für alle Spätern geblieben ist. Die Großartigkeit seiner Auffassung, welche das Ineinandergreifen
der verschiedenen geistigen Gebiete vor
Augen stellte, hat in die ganze Geschichtschreibung neues
Leben gebracht. Auch darf
man es ihm nicht vergessen, daß er durch seine ganze schriftstellerische
¶
mehr
und besonders seine publizistische Thätigkeit zur Entwickelung des nationalen Bewußtseins unendlich viel beigetragen hat.
Aus seinem Nachlaß gab Gervinus'
Witwe »Händels Oratorientexte, übersetzt von Gervinus«
(Leipz. 1873) heraus.
Vgl. Lehmann, Gervinus
, Versuch
einer Charakteristik (Hamb. 1871);
Gosche, Gervinus
(Leipz. 1871);
»Briefwechsel zwischen Jakob und Wilh. Grimm, Dahlmann und Gervinus«
(hrsg.
von Ippel, Berl. 1885).