Gemse
(Gems, Capella Blas. et Keys.), Säugetiergattung aus der Ordnung der Huftiere, der Familie der Horntiere (Cavicornia) und der Unterfamilie der Antilopen (Antilopina), mit der einzigen Art C. rupicapra Blas. et Keys. Diese wird 1 m lang, mit 8 cm langem Schwanz, am Widerrist 75 cm hoch und 30, bisweilen 45 kg schwer. Sie ist gedrungen und kräftig gebaut, mit ziemlich schlankem Hals, kurzem, nach der Schnauze hin stark verschmälertem Kopf, mit spitzigen Ohren von nahezu halber Kopfeslänge, langen, starken Füßen, ziemlich plumpen Hufen, ohne Thränengruben und mit 25 cm langen, drehrunden, an der Wurzel [* 3] geringelten, gerade aufsteigenden, an der Spitze rückwärts gebogenen Hörnern (Krickeln) bei beiden Geschlechtern.
Hinter letztern befindet sich eine in einen Drüsensack führende
Höhle, die sogen. Brunstfeige, aus der sich zur Brunstzeit
eine schmierige, übelriechende
Materie absondert. Im
Sommer ist die Gemse
schmutzig rotbraun, auf der Unterseite hell rotgelb,
auf dem
Rücken mit einem schwarzbraunen
Streifen, an der
Kehle fahlgelb, im
Nacken weißgelblich. Die Hinterseite
der
Schenkel ist weiß, der
Schwanz auf der Unterseite und an der
Spitze schwarz. Von den
Ohren verläuft über die
Augen hin
eine schwarze Längsbinde. Im
Winter ist die Gemse
oben dunkelbraun oder braunschwarz, am
Bauch
[* 4] weiß, an den
Füßen und
am
Kopf gelblichweiß, auf dem
Scheitel und an der Schnauze etwas dunkler.
Beide
Kleider gehen unmerklich ineinander über.
Jäger unterscheiden das große, dunkelbraune »Waldtier« von dem kleinen,
rotbraunen
»Grattier«. Die Gemse
bewohnt die
Alpen,
[* 5] findet sich von
Savoyen bis Südfrankreich, in den
Abruzzen, in
Dalmatien,
Griechenland
[* 6] nordwärts bis zu den
Karpathen. Auch in den
Pyrenäen, im
Kaukasus, in
Taurien und
Georgien kommen Gemsen
vor, die vielleicht identisch mit denen der
Alpen sind. In
Oberbayern,
Salzburg
[* 7] und dem
Salzkammergut,
[* 8] in
Steiermark
[* 9] und
Kärnten
findet sich die Gemse
ungleich zahlreicher als in der
Schweiz.
[* 10]
Die Gemse
ist die einzige Antilopenart, die in
Europa
[* 11] vorkommt, und ein ganz unschädliches
Tier. Sie hält
sich am liebsten in dem obern Waldgürtel auf, steigt im
Sommer aber häufig weiter im
Gebirge empor und bewohnt, wo sie viel
gestört wird, die unzugänglichsten
Bezirke, von wo aus sie dann mit Anbruch des
Tags die Grasplätze zwischen den
Felsen
besucht. Gegen den
Winter rückt sie weiter in die
Wälder herab. Sie lebt in
Rudeln von oft sehr großer Zahl, und nur die
alten
Böcke halten sich außer der Brunstzeit isoliert.
Ihre
Nahrung besteht in den jungen
Trieben der
Alpensträucher
(Alpenrose,
Erle,
Weide,
[* 12]
Wacholder,
Kiefer) sowie in Alpenkräutern
und
Gräsern, im
Winter auch aus
Moos und
Flechten;
[* 13]
Wasser ist für sie
Bedürfnis und
Salz
[* 14] eine große Leckerei.
Sie klettert, springt und läuft mit staunenswerter Sicherheit und
Schnelligkeit, besonders wenn sie verfolgt wird, und schwimmt
auch vortrefflich.
Ihre
Sinne sind ungemein scharf; die Gemse
ist das
Sinnbild der Wachsamkeit, sie ruht selbst
in einer
Lage, daß sie augenblicklich die
Flucht ergreifen kann.
Beim
Weiden und Ausruhen übernimmt das Leittier (die Vorgeiß) das Wächteramt und pfeift hell auf, sobald es
Gefahr ahnt.
Auf den sogen. freien
Bergen
[* 15] und an
Orten, wo keine Gemse
geschossen werden darf, sind sie weniger scheu und fast
zutraulich.
Ihre Brunstzeit fällt in die zweite Hälfte des
Novembers und Anfang
Dezember; Ende Mai oder Anfang Juni wirft
die ein, selten zwei oder drei
Junge, welche bald der
Mutter folgen und sechs
Monate saugen. Im dritten Jahr ist
das
Junge ausgewachsen.
Die Gemsen
erreichen ein
Alter von 20-25
Jahren.
Jung eingefangen, lassen sie sich mit Ziegenmilch ernähren
und werden sehr zahm, bisweilen pflanzen sie sich in der Gefangenschaft fort. Auf den
Alpen sollen
Ziegen von Gemsböcken beschlagen
werden und
Bastarde liefern, die sich schwer aufziehen lassen. Die Gemsen
sind beständig durch herabrollende
Steine und Felsstücke
sowie durch
Lawinen, auch im strengen
Winter durch Futtermangel gefährdet;
Luchs,
Wolf und
Bär,
Adler
[* 16] und
Lämmergeier stellen ihnen nach.
Ihr größter Feind aber ist der
Mensch, obschon die
Jagd mühsam und gefährlich genug ist. Das
Fleisch der Gemsen
ist wohlschmeckend
und wird hoch geschätzt; das
Fell gibt schönes
Leder, welches vorzüglich zu
Beinkleidern und
Handschuhen
verarbeitet wird. Die
Hörner dienen zu Stockgriffen und die
Haare
[* 17] auf dem
Widerrist als Hutschmuck.
In dem
Magen
[* 18] der Gemse
findet
man zuweilen die sogen.
Gemskugeln oder den deutschen
Bezoar. Dieselben wurden wegen vermeintlicher arzneilicher Wirksamkeit
sonst teuer bezahlt, sind aber ohne allen Wert. In der Volksdichtung der Alpenbewohner spielt die Gemse
etwa
dieselbe
Rolle wie die
Gazelle bei den Morgenländern, viele
Sagen knüpfen sich an ihr
Leben, und der
Aberglaube findet dabei
reichliche
Nahrung.
Vgl.
Keller, Die Gemse
(Klagenfurt
[* 19] 1885).