Freie
Bühnen. Nach dem Vorbilde des in
Paris
[* 2] von dem
Schauspieler
Charles
Antoine gegründeten und geleiteten
Théâtre libre,
das sich die Aufgabe gestellt, einerseits die
Schöpfungen des
Naturalismus zu pflegen, anderseits verkannten und nicht verstandenen
Dramatikern den
Weg in die
Öffentlichkeit zu bahnen, ist im April 1889 in
Berlin
[* 3] durch den Schriftsteller
Otto
Brahm (s. d.) und einige gleichstrebende Genossen unter dem
Namen
Freie
Bühne ein
Verein ins
Leben gerufen worden, dessen
Zweck nach dem veröffentlichten
Programm die Begründung einer von Rücksichten auf Theaterzensur und Gelderwerb freien
Bühne sein sollte.
»Sowohl in der Auswahl der dramatischen Werke als auch in ihrer schauspielerinnen Darstellung sollen die Ziele einer der Schablone und dem Virtuosentum abgewandten, lebendigen Kunst angestrebt werden«, wobei besonders solche Dramen berücksichtigt werden sollten, »welche den ständigen Bühnen ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind«. Da die Aufführungen der Freien Bühne nur für die Mitglieder des Vereins, deren Zahl auf etwa 700 stieg, veranstaltet wurden, unterlagen die gewählten Stücke nicht der Theaterzensur.
Die Leitung richtete ihr Augenmerk vorzugsweise auf solche Stücke, die aus sittlichen, religiösen, politischen oder ästhetischen Gründen noch nicht auf öffentlichen Theatern zur Aufführung gelangt waren und voraussichtlich von der polizeilichen Theaterzensur auch nicht zugelassen worden wären. Es lag dabei in der Absicht der Gründer des Vereins, nicht nur Schriftsteller zu Worte kommen zu lassen, die bisher aus den angegebenen Ursachen noch nicht öffentlich gehört worden waren, sondern auch Versuche mit den Werken von Neulingen zu machen, um damit den Leitern öffentlicher Bühnen vielleicht brauchbares Material zuzuführen.
Aus der Ankündigung der für die Aufführung gewählten Schauspiele und der Durchführung dieses Programms ergab sich, daß die Leiter des Vereins das Hauptgewicht auf die Förderung der modernen, realistischen Richtung legten und vor der Aufführung von Werken nicht zurückschreckten, die sich die Lösung der gewagtesten sittlichen Probleme und die rücksichtslose Schilderung roher, ungebändigter Leidenschaften zur Aufgabe gestellt hatten. Das erste Vereinsjahr brachte Ibsens »Gespenster«, »Vor Sonnenaufgang« und »Das Friedensfest« von Gerhart Hauptmann, einem jungen Vertreter der naturalistischen Schule, »Henriette Maréchal« von J. ^[Jules] und E. de Goncourt, »Der Handschuh« von B. Björnson, »Die Macht der Finsternis« von Graf Leo Tolstoi, »Das vierte Gebot« von L. Anzengruber, »Die Familie Selicke« von A. Holz [* 4] und J. ^[Johannes] Schlaf, ebenfalls zwei Vertretern des Naturalismus, »Auf dem Heimweg« von A. Kjelland und »Von Gottes Gnaden« von A. Fitger.
Die meisten dieser Aufführungen, die im Lessingtheater an Sonntagen um die Mittagszeit stattfanden, gaben teils wegen des sittlich anstößigen Inhalts der Stücke, teils wegen der bis aufs äußerste getriebenen realistischen Detailmalerei, die statt dramatischer Spannung Langeweile hervorrief, Veranlassung zu sehr erregten Auftritten im Zuschauerraum. Von den zur Darstellung gebrachten Stücken fanden nur zwei den Weg auf öffentliche Bühnen, »Das vierte Gebot« von Anzengruber (aufgeführt im Lessingtheater) und »Vor Sonnenaufgang« von G. Hauptmann (aufgeführt im Belle-Alliance-Theater). Eine litterarische Vertretung fand der Verein in der Anfang 1890 von O. Brahm begründeten und von ihm geleiteten Wochenschrift: »Freie Bühne für modernes Leben«.
Die starke Bevorzugung der ausländischen Litteratur einerseits und des platten Realismus anderseits hatte unter einem Teile der Mitglieder des Vereins eine solche Unzufriedenheit hervorgerufen, daß im April 1890 ein zweiter Verein unter dem Namen Deutsche [* 5] Bühne von einer Anzahl jüngerer Berliner [* 6] Schriftsteller gegründet wurde, die zumeist gleichfalls der realistischen Richtung angehören. In seinem Programm nahm der neue Verein zunächst Stellung gegen »den übermäßigen Einfluß fremdländischer, oft sehr fragwürdiger Werke« und präzisierte seine Hauptaufgabe dann dahin, daß er nur Werke deutscher, zumeist jüngerer, litterarisch bereits hinreichend bekannter Schriftsteller zur Aufführung bringen werde.
Zugleich gab der Verein ein ästhetisches Glaubensbekenntnis ab, dessen Hauptsätze folgende sind: »Wir meinen, daß allerdings die Dichtung unsrer Zeit deren Anschauungen und Ideen widerspiegeln und auf der Höhe der litterarischen Technik der Gegenwart stehen muß, daß aber die Grundsätze des Realismus sich keineswegs auf die Darstellung der kleinlichen Trivialitäten des Alltagslebens und der rohesten Ausschreitungen beschränken, sowenig wie auf die sklavische Nachahmung ausländischer Sensationshascherei. Wir glauben vielmehr, daß die Aufgabe des realistischen Dramas vor allem die wahrheitsgetreue Darstellung großer menschlicher Handlungen und Leidenschaften ist, und daß diese meist unabhängig sind von dem äußern Gewand, welches die Figuren des Dichters tragen.«
Die Folge dieser zweiten Gründung war, daß sich das Publikum, das an diesen theatralischen ¶
mehr
Veranstaltungen Interesse nimmt, zersplitterte, und daß beide Bühnen das Vereinsjahr 1890/91 mit einer so geringen Anzahl von Mitgliedern begannen, daß ein ferneres Fortbestehen der beiden Vereine nebeneinander zweifelhaft geworden ist. Die Deutsche Bühne brachte bis Februar 1891 im Thomastheater (ebenfalls an Sonntagen) »Schicksal« von K. Bleibtreu, »Brot« [* 8] von C. Alberti, »Irma« von Müller-Guttenbrunn und »Die neuen Menschen« von Hermann Bahr zur Aufführung, die sämtlich von dem größern Teile der Zuhörerschaft abgelehnt wurden, die Freie Bühne, deren Vorstand für das zweite Vereinsjahr das Residenztheater gemietet hatte, in derselben Zeit Strindbergs Schauspiel »Der Vater«, »Angèle« von O. E. Hartleben, »Ohne Liebe« von Marie von Ebner-Eschenbach, ein neues Schauspiel von Hauptmann: »Einsame Menschen« und »Die Raben« von Henri Becque. Von diesen Aufführungen hatten nur das Lustspiel von M. v. Ebner-Eschenbach und das Schauspiel Hauptmanns, der darin auf seine frühern naturalistischen Ausschreitungen fast völlig verzichtet hatte, einen unbestrittenen Erfolg.
Im August 1890 wurde in Berlin unter dem Namen Freie Volksbühne ein dritter Verein begründet, der sich an die großen Volksmassen, besonders an die arbeitenden Klassen wendet und deshalb, den Berliner Verhältnissen entsprechend, ein sozialdemokratisches Gepräge trägt. Nach den Satzungen hat sich der Verein die Aufgabe gestellt, »die Poesie in ihrer modernen Richtung dem Volke vorzuführen und insbesondere zeitgemäße Stücke durch Vorträge und Vorlesungen zu erläutern«.
Über die zur Aufführung gelangenden Stücke hat ein Ausschuß zu entscheiden, in den unter andern die Schriftsteller O. Brahm, W. Bölsche, J. ^[Julius] Hart, Konrad Schmidt und B. Wille gewählt wurden, die später auch die Vorträge hielten. Bei der Auswahl der Stücke, die seit Oktober 1890 im Ostendtheater zur Aufführung gelangten, und bei den Vorträgen und Vorlesungen ging die litterarische Leitung des Vereins von der Ansicht aus, daß die moderne realistische Richtung der Poesie auch den litterarischen Neigungen der arbeitenden Klassen am meisten entsprechen würde.
Aber die Ausführung von Ibsens »Volksfeind« und »Stützen der Gesellschaft« und von Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«
fanden geringeres Verständnis als die von Schillers »Kabale und Liebe«. Der Grundsatz der Gleichberechtigung aller kommt bei
diesen Aufführungen dadurch zum Ausdruck, daß die Plätze eine Stunde vor Beginn der Vorstellung verlost werden. Auch dieses
Unternehmen hat nicht den Anklang gesunden, den die Gründer des Vereins bei dem angeblich stark vorhandenen
Bildungsbedürfnis der untern Volksklassen erwartet hatten. - Ein im Mai 1889 in Berlin gestifteter Verein zur Begründung
deutscher Volksbühnen
ist bisher nur durch Veranstaltung von Vorträgen und Vorlesungen von Bühnen
werken in die Öffentlichkeit
getreten, ohne daß es ihm gelungen ist, einen Einfluß auf das Theaterwesen zu gewinnen.