Fiktion
(lat. Fictio), Erdichtung, etwas Erdichtetes; im Rechtswesen (fictio juris) die auf gesetzliche Vorschrift sich gründende Annahme, daß etwas nicht Geschehenes oder Vorhandenes wirklich geschehen oder vorhanden sei. Das Wesen der Fiktion besteht also darin, daß unter gewissen Umständen eine Thatsache, die in Wirklichkeit nicht eingetreten ist, für eingetreten angenommen werden soll, damit auf den Fall, in welchem die Fiktion stattfindet, diejenigen rechtlichen Folgen in Anwendung kommen, welche die Gesetze ursprünglich und eigentlich nur für den Fall eintreten lassen, daß das fingierte Ereignis wirklich stattgefunden hatte. So werden z. B. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten diejenigen Thatsachen, welche von einer Partei behauptet und von der Gegenpartei nicht bestritten werden, als zugestanden angesehen. Eine Fiktion ist ferner die gesetzliche Annahme, daß der eingesetzte Erbe im Fall der Unwürdigkeit vor dem Erblasser verstorben sei, oder im deutschen Handelsgesetzbuch (Art. 347) die Regel, daß die nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellte Ware als genehmigt gelte.
Die Fiktion unterscheidet sich von der rechtlichen Präsumtion (Rechtsvermutung) durchaus, indem bei letzterer eine noch nicht vollkommen bewiesene, sondern nur wahrscheinliche Thatsache als bewiesen angenommen wird. Der Unterschied zwischen und Präsumtion besteht also darin, daß bei der erstern eine Thatsache, von welcher man weiß, daß sie in Wirklichkeit nicht eingetreten ist, als eingetreten betrachtet, bei der letztern dagegen eine Thatsache, welche nur wahrscheinlich und nicht genügend bewiesen ist, als bewiesen angesehen wird. Im römischen Recht half man sich häufig durch Fiktionen, um vorhandene rechtliche Grundsätze auf neue Fälle auszudehnen, und es kommen daher dergleichen nicht selten vor.
Vgl. Bülow, Zivilprozessualische Fiktionen (Tübing. 1879).