Titel
Estienne
(Etienne, gewöhnlich lat. Stephanus), berühmte franz. Buchdrucker- und Gelehrtenfamilie, deren namhaftesten Glieder [* 2] folgende sind:
1) Henri I., geboren um 1460 in der Provence aus edler Familie, wurde enterbt, weil er sich der Buchdruckerkunst widmete, errichtete 1501 in Paris [* 3] mit Wolfgang Hopyl eine Druckerei und starb 1520.
2) Robert, Sohn des vorigen, geb. 1503 zu Paris, studierte die alten Sprachen, arbeitete nach dem Tode des Vaters gemeinschaftlich mit seinem Stiefvater Simon de Colines, begründete 1526 eine eigne Druckerei, wurde 1539 von Franz I. zum Typographus regius für das Hebräische, Griechische und Lateinische ernannt, siedelte, um den bedrohlichen Angriffen der Theologen wegen seiner Verbreitung unliebsamer Bücher, besonders der Bibel, [* 4] zu entgehen, 1551 nach Genf [* 5] über, wo er zur reformierten Kirche übertrat, und starb daselbst. In seinem Haus wurde schließlich sogar von der Dienerschaft lateinisch gesprochen.
Seine
Drucke (man zählt 382), welche namentlich die ganze
Bibel wie das
Neue Testament in den verschiedenen
Sprachen, griechische
und besonders römische
Klassiker, meist von ihm selbst mit Vorreden und
Noten versehen,
Grammatiken, Schulbücher etc., aber
auch die
Schriften der
Schweizer
Reformatoren umfaßten, wurden wegen ihrer
Schönheit und sprichwörtlichen
Korrektheit selbst denen seines
Sohns
Heinrich vorgezogen.
Franz I. ließ für ihn die berühmten characteres regii gießen.
Als
Autor ist Estienne
besonders durch den unter
Beihilfe von
Jean
Thierry de
Beauvais verfaßten
»Thesaurus linguae latinae« (Par. 1531, 2 Bde.,
u. öfter; zuletzt Basel
[* 6] 1740, 4 Bde.)
bekannt.
Vgl.
Crapelet, Roh. Estienne
, imprimeur royal (Par. 1839).
3) Charles, Bruder des vorigen, geb. 1504, studierte Medizin, übernahm bei der Übersiedelung Roberts nach Genf dessen Pariser Druckerei, geriet aber in Schulden und starb 1564 im Gefängnis. Er verfaßte: »Dictionnaire historique et poétique« (1553) und »Praedium rusticum« (1554).
4)
Henri II., Sohn von Estienne
2, geb. 1528 zu
Paris, durch die trefflichsten
Lehrer gebildet, siedelte 1551 mit dem
Vater nach Genf
über,
zunächst als
Korrektor in dessen Druckerei, edierte seit 1554 selbständige Werke, begründete 1557 eine eigne Druckerei
in Genf
mit Unterstützung von Huldrich
Fugger aus
Augsburg,
[* 7] weshalb er sich diesem zu
Ehren bis 1568 häufig
auf den
Titeln als dessen typographus bezeichnet, vereinigte aber 1559 dieselbe mit dem
Geschäft seines
Vaters und lebte nun
diesem und den
Wissenschaften.
Schon 1547-49 und 1556-57 war er in Italien, [* 8] 1550-51 in England und den spanischen Niederlanden, von Genf aus auch öfters in Frankreich, später besonders in Deutschland, [* 9] für dessen Gelehrte er eine besondere Vorliebe hatte, so regelmäßig zur Messe in Frankfurt [* 10] a. M. Als jedoch der »Thesaurus linguae graecae« einen großen Teil seines Vermögens verbraucht hatte, ein entsprechender Absatz sich nicht fand, weil sein Korrektor Joh. Scapula hinterlistig einen handlichen und billigen Auszug desselben veröffentlicht hatte, noch dazu seine zweite Frau, die treffliche Barbe de Wille, starb (1581), bemächtigte sich seiner mit dem allmählichen Ruin des Geschäfts eine unstete Ruhelosigkeit. Er erkrankte ¶
mehr
auf einer Reise in Lyon
[* 12] und starb dort Anfang März 1598 im Spital unter Spuren völliger Geisteszerrüttung. Estienne
besaß eine
seltene Kenntnis des Griechischen. Seine Ausgaben, darunter nahe an 30 editiones principes, umfassen fast die gesamte griechische Litteratur.
Ausgezeichnet durch umfangreiche Benutzung von Handschriften und allerdings oft zu weit gehende Konjekturalkritik,
sind sie zum Teil bis in die neuere Zeit die Grundlage des Textes geblieben. Seine lateinischen Ausgaben treten an Zahl und
Bedeutung dahinter zurück.
Sein Hauptwerk ist der schon von seinem Vater vorbereitete »Thesaurus linguae graecae« (Genf 1572, 5 Bde.; 2. Ausg., Lond. 1815-25, 8 Bde.; 3. Ausg. von Hase, [* 13] W. und L. Dindorf, Fix, v. Sinner, Par. 1831-65, 9 Bde.). Auch in seiner Muttersprache zeichnete er sich als eleganter Schriftsteller aus;
wir nennen: »Traité de la conformité du langage français avec le grec« (1565);
»L'introduction au Traité de la conformité des merveilles anciennes avec les modernes, ou Traité préparatif à l'Apologie pour Hérodote« (1566);
»Discours mervellieux de la vie, actions et départements de Catherine de Médicis« (1575).
Seine lateinischen und griechischen Poesien hat er meist auf seinen Reisen zu Pferde [* 14] sitzend niedergeschrieben.
Vgl. Feugère, Essai sur la vie et les ouvrages de Henri Estienne
(Par. 1853);
Grautoff, Henricus Stephanus (Programm, Glogau [* 15] 1862).
5) Paul, Sohn des vorigen, geb. 1566 zu Genf, übernahm 1598 das väterliche Geschäft, druckte sehr geschätzte Ausgaben des Euripides (1602) und Sophokles (1603), mußte aber 1605, politischer Umtriebe verdächtig, aus Genf fliehen und starb um 1627.
6) Antoine, ältester Sohn des vorigen, geboren im Juni 1592 zu Genf, wirkte seit 1618 als Buchdrucker zu Paris, ward 1623 Buchdrucker des Königs, druckte besonders für die Oratorianer, so den Chrysostomos, die Septuaginta u. a., und starb verarmt und erblindet 1674 im Hôtel-Dieu zu Paris. Er ist der letzte berühmte Buchdrucker der Familie; diese selbst starb erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus.
Vgl. Renouard, Annales de l'imprimerie des Estienne
(2. Aufl., Par.
1843, 2 Bde.);
Dupont, Histoire de l'imprimerie (das. 1854, 2 Bde.);
Bernard, Les Estienne
et les types grecs de François I (das. 1856).