Epigramm
(griech.), ursprünglich »Aufschrift« an einem Weihgeschenk, einem Grabmal, einem Kunstwerk etc., lediglich mit dem Zweck der Bezeichnung des Gegenstandes und dessen Bedeutung. Später erhielten diese Inschriften eine poetische Erweiterung, indem sie in knappster Fassung des Sinnes, meist in Distichen, auch Gefühlen und Gedanken Raum gaben, welche sich an die betreffende Person, Handlung oder Begebenheit knüpften, und bildeten sich so zu einer selbständigen Dichtgattung heraus.
Lessing erklärt das Epigramm
für ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen
Aufschrift unsre
Aufmerksamkeit
und
Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, »um
sie mit
Eins zu befriedigen«. Erwartung und Aufschluß sind daher die beiden wesentlichen Teile des Epigramms
, von denen
erstere (wie ein
Rätsel) durch einen scheinbaren
Widerspruch gespannt, letzterer durch eine überrraschende
^[richtig: überraschende] Deutung des
Sinnes herbeigeführt wird (daher auch der deutsche
Name
Sinngedicht für Epigramm
). Begründer
der epigramm
atischen
Kunst war
Simonides von
Keos, dessen Epigramme
, zum großen Teil für die
Monumente der
Kämpfer in den
Perserkriegen
gedichtet,
Muster poetischer Auffassung sind und sich durch
Schärfe des
Gedankens und großartige Einfachheit
auszeichnen.
In der
Folge fand das Epigramm
die allgemeinste
Pflege, und der poetische
Sinn der Griechen entfaltete in dergleichen kleinen Gedichten
noch lange eine große
Anmut, Vielseitigkeit und Gewandtheit, auch nachdem ihnen die
Kraft
[* 3] zu größern
Produktionen entschwunden
war. Ein Teil des reichen Nationalschatzes griechischer Epigramme
ist uns in der griechischen
Anthologie
(s. d.) erhalten. Von den Griechen kam die epigramm
atische
Poesie nach
Rom und
[* 4] wurde hier mit Vorliebe gepflegt, nahm aber
bald den vorwiegend satirischen
Charakter an. In der
Periode des
Augustus werden die ersten Dichter
Roms sowie die angesehensten
Männer des
Staats unter den Epigramm
dichtern genannt.
Das Bedeutendste aber, was sich von dieser Art
Poesie der
Römer
[* 5] erhalten hat, sind die Epigramme
des Martial; in späterer
Zeit tritt noch
Ausonius hervor. Auch bei den romanischen Völkern trug das Epigramm
meist den beißenden
Charakter, ward aber zum
Teil zum
Madrigal, zum Teil auch zum
Sonett umgestaltet. Am beliebtesten war es in
Frankreich, wo
Element
Marot (1495-1544) als der erste bekannte Dichter in dieser
Gattung genannt wird.
Mittels des Epigramms
pflegte sich besonders
seit
Richelieus
Zeiten und kurz vor dem
Ausbruch der
Revolution die zum Stillschweigen verurteilte politische
Opposition zu äußern.
In
England wußte vornehmlich
Owen den
Ton des Martial zu treffen.
Als die ältesten deutschen epigramm
atischen
Produkte gelten die
»Priameln« des 13. und 14. Jahrh., die jedoch, ähnlich den
Sinngedichten des
Orients
(Indien,
Persien),
[* 6] mehr allgemeine
Sitten- und Weisheitssprüche sind. Im 17. Jahrh. hielt man sich
im E. an das Vorbild der Alten und nahm sich vornehmlich Martials sarkastische
Schärfe zum
Muster; so
besonders
Logau, später Wernicke,
Kästner,
Lessing,
Haug.
Goethes und
Schillers Epigramme
sind, die scharf treffenden
»Xenien«
ausgenommen, meist Sinnsprüche allgemeinern
Inhalts.
Aus neuerer Zeit sind
Platen,
Grillparzer,
Hebbel,
Vischer u. a. anzuführen. Die beliebteste Form des Epigramms
ist noch jetzt
das
Distichon, das als sein vollkommenes formales
Schema angesehen werden kann, indem der
Hexameter die
Erwartung, der
Pentameter den kurz zusammenfassenden Aufschluß gibt. Indessen eignet sich auch der kurze
Iambus mit passenden
Reimverschlingungen zum
Träger
[* 7] des Epigramms.
Die
Theorie des Epigramms
behandelten
Lessing in den »Anmerkungen über das Epigramm«
und
Herder in der Abhandlung »Über das griechische Epigramm«, jener
vorzugsweise in Rücksicht auf das satirische der
Römer, dieser im Anschluß an die griechische
Anthologie von einem umfassendern
Gesichtspunkt aus. Neuere Sammlungen von Epigrammen veröffentlichten R.
Benedix (»Sammlung deutscher Epigramme«, Leipz.
1861),
Booth (»Epigrams, ancient and modern«, 2. Aufl., Lond. 1865) und Dodd (»Epigrammatists«, 2. Aufl., das. 1875).