Dahlmann
,
Friedrich Christoph, hervorragender Geschichtschreiber und Staatsmann, geb. zu Wismar [* 2] als schwedischer Unterthan, erhielt seine erste wissenschaftliche Ausbildung in der mangelhaften Lateinschule seiner Vaterstadt; 1802 bezog er die Universität Kopenhagen, [* 3] wo ein mütterlicher Oheim sich seiner annahm. Vorwiegende Neigung führte ihn dem Studium der Philologie zu; doch fand er die Lehrer, die er in Kopenhagen traf, wenig geeignet, ihn zu fördern, und entschloß sich daher 1804, nach Halle [* 4] zu gehen, wo Friedr. Aug. Wolf eine so große Anziehungskraft ausübte.
Seine Studien wurden durch eigne Krankheit und den Tod seines Vaters, der nur dürftige Mittel hinterließ, unterbrochen, und er kam noch einmal nach Kopenhagen, aber nur um Privatstudien zu treiben, und hielt sich dann mehrere Jahre in Wismar auf. 1809 reiste er nach Dresden, [* 5] wo er mit Heinrich v. Kleist innige Freundschaft schloß, und von wo er mit diesem während des französisch-österreichischen Kriegs das Schlachtfeld von Aspern [* 6] besuchte. In Wittenberg [* 7] erwarb er 1810 mit einer Abhandlung über Ottokar von Böhmen [* 8] den philosophischen Doktorgrad; 1811 habilitierte er sich in Kopenhagen als Privatdozent der Philologie, erhielt aber 1812 den Auftrag, an der Universität Kiel [* 9] geschichtliche Vorlesungen zu halten, und wurde 1813 als außerordentlicher Professor daselbst angestellt.
In der Festrede (Kiel 1815), die er bei der von der Universität veranstalteten Feier der Schlacht bei Waterloo [* 10] hielt, mahnte er mit ernsten Worten zur Arbeit an der politischen Wiedergeburt Deutschlands. [* 11] Als Sekretär [* 12] der schleswig-holsteinischen Ritterschaft trat er mit Eifer und Entschiedenheit für deren Rechte ein und geriet hierdurch in eine oppositionelle Stellung zur dänischen Regierung. Er ward nicht zum ordentlichen Professor befördert und nahm daher bereitwillig 1829 einen Ruf nach Göttingen [* 13] als Professor der deutschen Geschichte und der Staatswissenschaften an. Hier widmete er sich mit großem Erfolg der Lehrthätigkeit, wurde aber wiederum in die Politik verwickelt, indem er, nach der sogen. Göttinger Revolution (Januar 1831) als Deputierter der Universität an den Generalgouverneur Herzog von Cambridge abgesandt, dessen Vertrauen gewann, bei Feststellung der Verfassung zu Rate gezogen und von der Universität zu ihrem Vertreter in der Zweiten Kammer gewählt wurde. Sowohl seine Reden als seine Artikel in der »Hannöverschen Zeitung« erregten durch ihren rücksichtslosen Freimut und ihr nach allen Seiten selbständiges Urteil vielfach Anstoß, und er fühlte sich ¶
mehr
mit seinen politischen Ansichten isoliert. Eine Frucht seiner damaligen praktischen und theoretischen Studien in der Politik
war das Handbuch der Politik: »Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt«, von welchem nur
der 1. Band
[* 15] (Götting. 1835; 3. Aufl., Berl. 1847) erschienen ist. Dem schönen,
dankbaren Wirkungskreis, den sich Dahlmann
in Göttingen geschaffen hatte, wurde ein plötzliches Ende gemacht
durch den Verfassungsbruch König Ernst Augusts 1837. Dahlmann
verfaßte den Entwurf einer Protestation, welche das Verfahren des Königs
für einen Staatsstreich erklärte, der niemand von dem auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid entbinden könne; sechs von
Dahlmanns
Kollegen unterschrieben diese Erklärung.
Ihre Absetzung und Ausweisung war bekanntlich die Folge davon. Dahlmann
, der über die Verfassungsfrage noch das klassische Pamphlet
»Zur Verständigung« schrieb, begab sich zunächst nach Leipzig,
[* 16] wo man ihm eine Stätte ruhigen Wirkens schaffen zu wollen
schien, ein Plan, der aber an der Ängstlichkeit des Ministeriums scheiterte. Nun ging er nach Jena,
[* 17] wo er
seine vortreffliche »Geschichte von Dänemark«
[* 18] (Hamb. 1840-43, 3 Bde.)
schrieb, die leider nur bis zur Reformation reicht.
Nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. ward Dahlmann
als Professor an die Universität Bonn
[* 19] berufen. Hier gewann
er bald eine ausgedehnte Wirksamkeit. Seine Vorlesungen wurden die besuchtesten in Bonn, er galt weithin
als politische Autorität, und auch die Regierung holte in wichtigen Universitätsangelegenheiten seinen Rat ein. Obwohl Dahlmanns
Persönlichkeit, seine Zurückhaltung u. Schwerfälligkeit ihn wenig begünstigten, ward Dahlmann
doch
populär.
Unter den Vorlesungen, die er in Bonn hielt, ragten besonders die über die englische und französische Revolution
durch ihre politische Bedeutung hervor; sie wurden bald auch gedruckt (»Geschichte
der englischen Revolution«, Leipz. 1844; 6. Aufl. 1864; »Geschichte
der französischen Revolution«, das. 1845; 3. Aufl. 1864), fanden reißenden
Absatz und bestimmten das politische Urteil der gebildeten Mittelklassen in Deutschland.
[* 20] An der Veranstaltung der Germanistenversammlungen,
welche, in den Jahren 1846 und 1847 gehalten, die Bedeutung eines deutschen Vorparlaments hatten, nahm Dahlmann
den lebhaftesten
Anteil.
Eine sehr wichtige, einflußreiche Rolle spielte er in der nationalen Bewegung des Jahrs 1848. Gleich im Beginn derselben wurde er von dem neuernannten Minister Grafen Schwerin [* 21] zur Teilnahme an den Beratungen über die preußische Verfassung aufgefordert, bald nachher als preußischer Vertrauensmann zum Bundestag nach Frankfurt [* 22] geschickt, darauf sogar zum eigentlichen Bundestagsgesandten ernannt, was er jedoch ablehnte, da er überzeugt war, in freierer Stellung mehr wirken zu können.
Der Verfassungsentwurf der 17 Vertrauensmänner, in welchem der Einheitsgedanke zu so entschiedenem Ausdruck kam,
ist hauptsächlich Dahlmanns
Werk. Auch war er Referent des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung. In der Frage der
Hegemonie war er für die Einigung unter Preußens
[* 23] Führung mit Ausschluß Österreichs, fand aber damit weder beim König von
Preußen
[* 24] noch bei der Mehrheit des Parlaments Beifall. Überhaupt fehlten ihm für eine praktische Politik
die rasche Erkenntnis des Möglichen und Praktischen und der kühne Entschluß, wie sein Verhalten 1. Sept. in der Frage des Malmöer
Waffenstillstandes und seine Unfähigkeit, ein Ministerium zu bilden, zeigten.
Doch trat er 1849 noch entschieden für das preußische Kaisertum ein.
Zur Teilnahme an der Gothaer Versammlung und zur Unterstützung
der preußischen Unionsbestrebungen entschloß sich Dahlmann
nur mit großer Selbstüberwindung: er war überzeugt,
daß jener Weg nicht zum Ziel führen werde. Doch ließ er sich in das Erfurter Parlament wählen und trat auch im Sommer 1850 in
die preußische Erste Kammer ein, wo er den überstürzenden Restaurationsbestrebungen mutig, aber ohne
Erfolg entgegentrat.
Später zog er sich ganz aus dem politischen Leben zurück und widmete sich mit Eifer seinem Lehramt. Mehr und mehr vereinsamt, überließ er sich dem Gefühl bitterer Resignation und schöpfte erst seit der Wendung der Dinge in Preußen 1858 neuen Mut. Er starb als einer der bedeutendsten Politiker und edelsten Patrioten Deutschlands anerkannt. Von seinen Schriften sind neben der Ausgabe von Neocorus' »Geschichte der Dithmarschen«, in sächsischer Sprache [* 25] (Kiel 1827),
noch zu erwähnen: »Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte« (Bd. 1, Altona [* 26] 1821; Bd. 2: »Herodot«, 1824);
»Quellenkunde der deutschen Geschichte«, für eigne Vorträge der deutschen Geschichte geordnet (Götting. 1830; 5. Aufl., hrsg. von Waitz, 1883).
Seine 1826 in Kiel gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte Dithmarschens gab Kolster (Leipz. 1873) ergänzt heraus.
Vgl. A. Springer, Friedr. Christ. Dahlmann
(Leipz. 1870-72, 2 Bde.).