Chīos
(jetzt Chio oder Skio, türk. Sakiz-Adasi, »Mastixinsel«),
türk.
Insel im Ägeischen
Meer, südlich von
Lesbos und
durch die 7 km breite
Straße von Chios
von der kleinasiatischen
Halbinsel Karaburnu getrennt (s.
Karte
»Griechenland«),
[* 3]
hat einen Flächeninhalt von 827 qkm (15 QM.). Als Vorgebirge nennen die Alten: Poseidion (jetzt Kap Helena) und Phanä; Meläna (jetzt Kap St. Nikolo), Psyra gegenüber; Laios und Phlion. Die Insel ist von Bergen [* 4] durchzogen (darunter im N. der St. Eliasberg, der Pellinäos der Alten, 1267 m), zwar magern Bodens, aber gut angebaut. Das Klima [* 5] ist mild; mittlere Jahrestemperatur 19,8° C. Erdbeben [* 6] sind nicht selten (1881 kamen durch ein solches 3558 Menschen um, und Eigentum im Wert von 60-80 Mill. Mk. wurde zerstört).
Aus den Bergen brach man schon im Altertum berühmten bleifarbigen Marmor mit weißen Adern und vorzüglichen Töpferthon; in jüngster Zeit bearbeitet man Gruben, welche Antimonglanz und Ocker in großer Mächtigkeit liefern. Die Tierwelt ist arm; Ziegen, deren Felle einen ansehnlichen Ausfuhrartikel nach Triest [* 7] bilden, werden in großen Herden in den Bergen gehalten, außerdem noch Esel und Maulesel, wenige Kühe und Pferde. [* 8] Sonst gibt es viele Kaninchen [* 9] und Marder, [* 10] von Vögeln große Herden gezähmter Rebhühner, wilde Enten, [* 11] Bienen, viele Schlangen [* 12] u. a. Die Seidenraupenzucht erzielt jährlich 5000 Ztr. Kokons (nach Lyon), [* 13] auch wird die Seide [* 14] geschickt von den Frauen zu Geweben verarbeitet.
Die wertvollsten Handelsprodukte liefert die Pflanzenwelt. Ausgeführt werden
Mastix (jährlich 900-1200 Ztr.),
Wein,
Apfelsinen
und
Zitronen (35-40 Mill.
Stück), eingemachte
Früchte,
Mandeln,
Orangen- und
Rosenwasser u. a. Die Bewohner, etwa
70,000
Seelen (vor dem Blutbad von 1822 weit über 100,000), sind fast sämtlich Griechen; die Hauptstadt Chios
hat 13,000
Einw.; in der
Festung
[* 15]
(Kastro) wohnen 3000
Türken und 200-300
Juden. Die Stadt ist zugleich Hauptstadt des
Sandschaks
Sakis, Sitz
eines griechischen
Bischofs und mehrerer
Konsuln. Nicht weit davon das prächtige, 1040 von dem
Kaiser
Konstantin
Monomachos und seiner Gemahlin
Zea erbaute
Kloster Nea-Moni.
Das einzige
Altertum der
Insel, auf welcher ein erbliches Homeridengeschlecht existierte, die sogen.
Schule des
Homer, wo der
gefeierte
Sänger seine
Schüler um sich versammelt haben soll, befindet sich am
Fuß des
Bergs
Epos, unweit der
Küste
des
Meers, wohl ein uraltes Heiligtum der
Kybele.
[* 16] Chios
stritt vielleicht mit mehr
Recht als jede andre Stadt um die
Ehre, das Vaterland
Homers zu sein. Auch der Tragiker Jon, der
Historiker
Theopompos, der Geograph
Skymnos, der
Sophist
Theokritos hatten Chios
zum Vaterland.
Die jetzigen Chioten haben einen entschiedenen Hang zum
Handel (ihre
Handelsflotte soll an 500
Schiffe
[* 17] zählen),
sind sparsam, nüchtern, aber meist ungebildet und abergläubisch. Die alten Chier waren berühmt wegen ihrer Erzählungskunst,
woher das Sprichwort stammt:
»Wo ein Chier ist, kommt ein
Chor nicht zum
Wort«. Chios
besaß die ersten
Hypothekenbücher und war
namentlich Sitz des griechischen
Sklavenhandels.
Die ältesten Bewohner von Chios
waren
Leleger, Kreter und
Karier, welche von den
Ioniern unterworfen und verdrängt wurden. Unter
diesen ward Chios
einer der blühendsten
Staaten im ionischen
Kleinasien. Als sich die
Perser über
Kleinasien ergossen und auch
die hellenischen
Kolonien bedrängten, bewiesen die Chier keinen hellenischen
Gemeinsinn, indem
sie den
freiheitliebenden,
vor der barbarischen Zwingherrschaft flüchtenden Phokäern den Verkauf der Önussischen
Inseln aus kleinlicher
Besorgnis, ihr
Handel möchte dereinst dadurch beeinträchtigt werden, verweigerten und sich 546
v. Chr.
Kyros sogar ohne Schwertstreich
ergaben.
Dagegen nahmen sie an der von
Histiäos eingeleiteten und von
Aristagoras ausgeführten ionischen Empörung gegen die
Herrschaft der
Perser lebhaften
Anteil und fochten bei der
Insel
Lade auf 100
Schiffen für die gemeinsame
Freiheit mit großer
Tapferkeit, fielen aber dann wieder unter die
Gewalt der
Perser. Nach der
Schlacht bei
Mykale trat die
Insel dem Seebund der
Athener
bei, zu dessen mächtigsten und angesehensten
Bundesgenossen die Chier gehörten. Unter der
Hegemonie der
Athener, welche Chios
milder als die meisten andern Verbündeten behandelten, hoben sich Macht und Wohlstand der
Insel zur höchsten
Blüte,
[* 18] und die Chier standen deshalb im Peloponnesischen
Krieg den Athenern kräftig bei. 412 traten sie
zu den Peloponnesiern über und wandten auch Milet und andre ionische
Städte vom Athenischen
Bund ab.
Zur
Strafe verwüsteten die
Athener die
Insel.
Nach dem Ende des Peloponnesischen
Kriegs fiel sie infolge erlittener Bedrückung von
Sparta ab und ward 376 nach der
Schlacht
bei
Naxos wieder Bundesgenossin
Athens. Auch von diesem bedrückt, trat sie 363 mit
Theben in
Verbindung
und verteidigte sich im
Bundesgenossenkrieg erfolgreich gegen
Chares, so daß die
Athener 355 ihre Unabhängigkeit anerkennen
mußten.
Später wurde der persische Anführer
Memnon auf kurze Zeit
Herr daselbst. Nach dem
Krieg des
Königs
Philipp III. kam
Chios
zuerst mit den
Römern in Berührung.
Schwer wurde die
Insel im Mithridatischen
Krieg mitgenommen; den
Römern befreundet, mußten die Einwohner
ihre
Schiffe dem pontischen König stellen und 2000
Talente bezahlen. Als
Bestandteil des oströmischen
Reichs teilte darauf
die
Insel alle Drangsale desselben. 1307 eroberten und verwüsteten türkische Seeräuber die
Insel, bald darauf
Bajesid. In der
Folge war Chios
geraume Zeit im
Besitz der Genuesen, bis die
Türken 1566 zur Herrschaft der
Insel gelangten
und einen
Aga dort einsetzten. Am wurde
Kastro von den
Venezianern beschossen und erobert, fiel aber schon im
Februar 1695 von
neuem in die
Gewalt der
Türken.
Die Insel wurde bald die begünstigtste der Sporaden, und die Einkünfte waren Privateigentum der Sultanin. Im griechischen Befreiungskrieg erhoben sich auch die Chier im Februar 1821 gegen die türkische Herrschaft, unterlagen aber, und der türkische Kapudan-Pascha verhängte über die unglückliche Insel im April 1822 ein furchtbares Strafgericht: sie wurde gänzlich verwüstet, 23,000 Einwohner wurden ermordet, 47,000 in die Sklaverei verkauft;
nur 5000 entkamen. Auch ¶
mehr
ein zweiter Befreiungsversuch, den sie 1827, von einem griechischen Hilfskorps unter Fabvier unterstützt, machten, mißlang.
Bei Errichtung des griechischen Königreichs wurde die Insel von dessen Grenzen
[* 20] ausgeschlossen. Am wurde Chios
von einem
schrecklichen Erdbeben heimgesucht und die Stadt Chios
fast ganz zerstört.
Vgl. Poppo, Beiträge zur Kunde
der Insel Chios
und ihrer Geschichte (Frankf. 1822);
Pauli, Die Insel Chios
(in den »Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in
Hamburg«
[* 21] 1880/81).