Chiliasmus
(griech.), der
Glaube an ein künftiges tausendjähriges, mit
Christi sichtbarer
Wiederkunft anhebendes Gottesreich
auf
Erden. Der Chiliasmus
ist älter als die
christliche Kirche, denn seine
Wurzeln liegen im
Judentum und in den sinnlichen
Vorstellungen
desselben von einer irdischen
Blütezeit des
Reichs Gottes im
Gegensatz zu dem nebelhaftern Jenseits des
philosophischen
Unsterblichkeits- und Vollendungsglaubens.
Schon die
Propheten hatten ein irdisches
Reich des
Messias verheißen,
in welchem das
Glück
¶
mehr
der Nation sich auch durch äußern Wohlstand und Frieden der verklärten Natur kundgeben werde. Aus dieser prophetischen Perspektive griff das spätere Judentum mit Vorliebe die politische Seite heraus. Neben blutiger Rache an den Unterdrückern forderte man auch für die inzwischen verstorbenen Israeliten Anteil an dem Heil des Messiasreichs. So entstand der jüdische Volkstraum von einem theokratischen Weltreich, in welchem unter der sichtbaren Herrschaft des Messias das aus der Zerstreuung gesammelte und vom Tod erweckte Israel nach Zerstörung der Weltreiche, im alleinigen Dienst Jahves, über die Heiden herrschen werde. Es war eine psychologische Unvermeidlichkeit, daß, als sich die alttestamentliche Messiasidee im Christentum vollendete und verwirklichte, auch der chiliastische Volksglaube mit in die judenchristliche Zukunftshoffnung überging.
Daher lehrt die Offenbarung des Johannes (20, 4), daß nach der Wiederkunft Christi seine standhaften Bekenner mit ihm auferstehen und 1000 Jahre herrschen werden. Der Bestimmung der Dauer liegt eine bereits den Juden geläufige Projektion [* 3] der Schöpfungswoche in sechs oder sieben Jahrtausenden, näher eine Kombination des sogen. Hexaemeron mit Psalm 90, 4. (vgl. 2. Petr. 3, 8). zu Grunde, so daß die 1000 Jahre der Herrschaft der Heiligen dem Sabbat entsprechen. Gleichfalls aus der Johanneischen Offenbarung (20, 7 ff.) stammt die Vorstellung, daß am Ende der 1000 Jahre der Satan wieder los werden und seine letzten Kräfte gegen das Gottesreich aufbieten werde; erst nach seiner Vernichtung beginnt dann die ewige Seligkeit, das reine Jenseits, »ein neuer Himmel [* 4] und eine neue Erde«.
In der Ausmalung der dieser letzten Katastrophe vorangehenden paradiesischen Glückseligkeit gab die urchristliche Phantasie, welche sich mit ihren Zukunftsahnungen jahrhundertelang in dem beschriebenen Rahmen bewegte, der jüdischen nichts nach. Noch bei Papias, dem bis in die Mitte des 2. Jahrh. lebenden Bischof von Hierapolis, finden wir angebliche Aussprüche Jesu über die monströse Fruchtbarkeit der Natur im Tausendjährigen Reich, über die Vortrefflichkeit seiner Weinstöcke etc. und innerhalb der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts ist der dem Apostelschüler Barnabas zugeschriebene Brief entstanden, welcher jene Herleitung des aus dem Sechstagewerk ausdrücklich enthält (Kap. 15). Nicht minder begegnen uns die Grundzüge der chiliastischen Weltanschauung auch bei Cerinth und sämtlichen Richtungen der Ebioniten, im »Hirten des Hermas« und in den Sibyllinischen Büchern, welche wenn auch nicht den Namen, doch die Sache enthalten und zwar vermischt mit heidnischen Bildern aus dem Idyll des goldenen Weltalters.
Justin der Märtyrer sieht im C. den Schlußstein der orthodoxen Lehre;
[* 5] der 190 schreibende Bischof Irenäus erweist Recht und Wahrheit
des aus Schrift und Tradition, Tertullian aus der neuen Prophetie des Montanismus. Gerade diese Richtung aber
führte durch ihre schwärmerische Übertreibung eine Ernüchterung innerhalb der Kirche herbei, und um 200 tritt in dem römischen
Presbyter Cajus der erste Bekämpfer des Chiliasmus
auf. Mit noch größerm Erfolg trat Origenes von seinen spiritualistischen Voraussetzungen
aus gegen die sinnliche Zukunftserwartung auf.
Tauchen seither auch noch von Nepos und Korakion bis auf Methodius und Lactantius einzelne Anhänger des Chiliasmus
in der Kirche auf,
so war doch dessen unaufhaltsame Niederlage durch die seit Konstantin politisch veränderte Stellung der Kirche besiegelt. Sobald
die siegreiche Kirche sich auf dem Boden dieser Erde es wohnlich gemacht hatte,
machte sie sich mit dem
Gedanken vertraut, das Tausendjährige Reich sei schon mit dem Christentum selbst gekommen, und Augustin erhob diese Auffassung
zur herrschenden.
Seitdem sehen wir chiliastische Meinungen in der Kirche nur sporadisch auftauchen, wie gegen das Ende des ersten christlichen Jahrtausends. Um so mehr gaben sich unter den mit der päpstlichen Hierarchie unzufriedenen Sekten, die durch Verfolgungen zu fanatischen Hoffnungen aufgeregt wurden, jeweilig auch chiliastische Anschauungen kund. S. Evangelium, ewiges. Zur Zeit der Reformation aber standen neue Propheten des Tausendjährigen Reichs auf, welche durch radikale Wiedergeburt der verderbten Welt dem Kommen Christi die Bahn brechen wollten. Die Reformatoren selbst teilten zwar den Glauben an die Nähe des Weltendes, verwarfen jedoch schon in der Augsburgischen Konfession (Art. 17) die Zurüstungen der Anabaptisten auf die nahe Offenbarung Christi und deren Errichtung eines neuen Zion als jüdische Träumerei.
Hauptherd des Chiliasmus
wurden dagegen die Sekten der reformierten Kirche in England, Holland und später besonders
in Amerika.
[* 6] Auch die Theosophie Valentin Weigels (gest. 1588), Jakob Böhmes und der Rosenkreuzer nährte sich von chiliastischen
Hoffnungen; gleichzeitig brachte die Diaspora der Böhmischen und Mährischen Brüder chiliastische Propheten hervor, deren Weissagungen
Comenius, selbst Chiliast, sammelte. Da Spener nicht unbedingt in das Verdammungsurteil der Orthodoxie über
den 1692 als Chiliast abgesetzten Petersen einstimmte, kam er selbst in den Verdacht des E. Sicher ist, daß der Pietismus sich
aufs neue mit großer Liebhaberei der Erklärung der Johanneischen Offenbarung als eines prophetischen Kompendiums der Kirchengeschichte
annahm und auf diese Weise auch den Chiliasmus
wieder zu Ehren brachte, dem endlich J. A. ^[Johann Albrecht] Bengel
(s. d.) das Bürgerrecht in der protestantischen Theologie eroberte.
Dieser neuere Chiliasmus
betont übrigens im Gegensatz zum alten mehr den Begriff der Verklärung; namentlich brachte ihn der geistvolle
Theosoph Ötinger in Verbindung mit seinem Thema von der Geistleiblichkeit. Die Irvingianer gründeten 1832 ihre
apostolische Kirche auf das Feldgeschrei, daß das Reich der Herrlichkeit nahe sei; andre Schwärmer, besonders aus Württemberg,
[* 7] wanderten in ähnlichem Glauben nach dem Morgenland, und die Mormonen haben den Grund zum neuen Zion am Salzsee gelegt.
Vgl. Corrodi,
Kritische Geschichte des Chiliasmus
(2. Aufl., Zürich
[* 8] 1794, 4 Bde.).