Chartismus
ist der
Name für eine demokratische Arbeiterbewegung in
England in den 30er und 40er
Jahren,
deren
Zweck war, die
Staatsgewalt in die
Hände der arbeitenden
Klassen zu bringen, um dann von
Staats wegen
Recht,
Wirtschaft und
Gesellschaft im
Interesse der
Arbeiter zu ändern. Der Chartismus
hatte zeitweise eine große
Ausdehnung
[* 2] und einen gefährlichen
Charakter.
Der
Name Chartismus
rührt daher, daß die
Partei 1838 ihr
Programm in der Form eines
Gesetzentwurfs
(Bill) formulierte,
der
Charte
(Volkscharte im
Gegensatz zur
Magna Charta König
Johanns) genannt wurde. Die Hauptpunkte der
Charte, die aus 39
Artikeln
bestand, waren sechs:
allgemeines Stimmrecht der
Männer vom 21. Jahr, geheime
Abstimmung, jährliche
Parlamente, Abschaffung
der Vermögensqualifikation zu wählender Mitglieder,
Diäten, gleichmäßige Wahlbezirke (nach Kopfzahl).
Andre waren: Einführung der
Einkommensteuer, Abschaffung der neuen Armengesetze, Verminderung der
Lasten, Fabrikgesetze etc.
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Schon vor der Reformbill von 1832 hat es in England nicht an Agitationen demokratischer Vereine für das allgemeine Stimmrecht,
für geheime Abstimmung und jährliche Parlamente gefehlt; aber der Chartismus
hat doch seinen eigentlichen Ausgangspunkt in der Reformbill
von 1832 und dem 1837 in London
[* 4] gegründeten Arbeiterverein Working men's Association. Nach der Reformbill
von 1832 verhielten sich die Anhänger jener Forderungen noch jahrelang ruhig in abwartender Stellung; als aber das reformierte
Parlament noch weniger als das frühere eine Arbeiterschutzgesetzgebung begünstigte und die radikalen Parlamentsmitglieder
mit ihren Versuchen, eine weitere Ausdehnung des Stimmrechts herbeizuführen, stets in einer verschwindenden Minorität blieben,
erfolgte 1837 die Bildung jenes Arbeitervereins, um für eine Vertretung der Arbeiter im Parlament und für
eine Neuordnung der Gesellschaft im Arbeiterinteresse zu agitieren. Der Verein, geleitet von Lovett, gründete Provinzialvereine
und trat in Verbindung mit den radikalen Parlamentsmitgliedern (Roebuck, Joseph Hume, O'Connell u. a.). Aus den Verhandlungen ging 1838 die
Volkscharte hervor, die sofort auch von den zahlreichen im Land existierenden demokratischen Vereinen als
Programm acceptiert wurde.
Das Haupt des Chartismus
wurde jetzt und blieb während der ganzen Dauer des Chartismus O'Connor. Die energische Agitation der Chartisten für
die Wiedereinführung des 1834 aufgehobenen Elisabethschen Armengesetzes und die Zehnstundenbewegung führten dem Chartismus
die
Arbeiter in großen Massen zu. Zahlreiche Zeitschriften mit grobem Absatz entstanden, von denen das Organ O'Connors mit einer Auflage
von 50,000 das populärste war, ungeheure Volksversammlungen (nicht wenige mit über 200,000 Teilnehmern) wurden überall
abgehalten, und eine Massenpetition an das Parlament um Einführung der Charte wurde vorbereitet.
Die Chartisten spalteten sich aber sofort in zwei Parteien, in die der physischen Gewalt unter O'Connor, Stephens u. a. und die der moralischen Gewalt unter Lovett. Der Gegensatz der Parteien kam zum heftigen Ausbruch in dem am in London zusammengetretenen »nationalen Konvent« der Chartisten, der als Arbeiterparlament neben dem Parlament tagte. O'Connor und seine Partei siegten über die Partei der moralischen Gewalt. Die Versammlungen der Chartisten nahmen schon seit dem Spätherbst 1839 einen bedrohlichen Charakter an, sie wurden abends und nachts gehalten, man kam bewaffnet zu ihnen und predigte offen die Rebellion.
Als das Parlament es mit 237 gegen 148 Stimmen ablehnte, die Petition, welche 1,280,000 Unterschriften
erhalten hatte, in Erwägung zu ziehen, kam es zu blutigen Zusammenstößen, namentlich 15. Juli Birmingham,
[* 5] dem damaligen Hauptsitz
der Bewegung, zu einem Aufstand, bei dem über 30 Häuser in Brand gesteckt wurden, der aber bald unterdrückt ward. Die Regierung
ging energisch gegen die Führer vor, gegen 380 wurden im Land verhaftet und mit wenigen Ausnahmen zu
Gefängnis von 1 Monat bis zu 2 Jahren verurteilt. Der Versuch der Chartisten, die Gefangenen in Newport zu befreien,
mißglückte. Die Gefahr des Chartismus
war durch die Energie der Regierung beseitigt.
Bei Beginn 1840 schien die Chartistenbewegung, deren Führer sämtlich im Gefängnis saßen, zu Ende. Aber sie begann bald von neuem. Am wurden alle lokalen Vereine zu einer großen Association, »Nationale Chartistenassociation von Großbritannien«, [* 6] vereinigt. In ihr gelangte zunächst die gemäßigte Partei ans Ruder. Es wurde ausdrücklich beschlossen, nur friedliche und konstitutionelle Mittel anzuwenden, um die Charte zum Landesgesetz zu machen.
Eine neue Petition, angeblich mit 3,300,000 Unterschriften, wurde dem Parlament überreicht, aber mit 287 gegen 89 Stimmen verworfen. Das hatte zur Folge, daß die radikale Partei der Chartisten wieder die Oberhand bekam. Die Hauptthätigkeit der Chartisten bestand jetzt längere Zeit darin, Streiks zu veranlassen, um Forderungen gegen die Fabrikanten durchzusetzen. Aber die Erfolge waren meist gering. Infolgedessen ließ die öffentliche und politische Chartistenbewegung allmählich nach, und man beschäftigte sich mehr mit den phantastischen Landplänen O'Connors, die den Arbeitern zu Landbesitz verhelfen wollten.
Noch einmal zeigte sich eine starke Chartistenbewegung im Jahr 1848. Die Februarrevolution erregte mächtig die Chartistenkreise. Die Agitation für die Charte begann überall von neuem, die Führer, O'Connor vor allen, forderten die Massen offen zur Revolution auf und vertraten jetzt auch entschieden republikanische Ideen. Zunächst sollte eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte Petition für die Charte an das Parlament gerichtet und nach einer großen Volksversammlung 10. April in Prozession ins Parlament getragen werden.
Als aber die Regierung die energischten Vorkehrungen traf, um den ungesetzlichen Zug zu verhindern, scheute O'Connor vor dem unvermeidlichen blutigen Zusammenstoß zurück. Der Zug unterblieb, O'Connor verteidigte in der Volksversammlung 10. April, in der statt der erwarteten 100,000 Männer nur ca. 30,000 erschienen, selber die Unterlassung desselben. Die Petition, die nach der Angabe O'Connors von 5,700,000 Personen unterschrieben sein sollte, wurde in gewöhnlicher Weise dem Parlament überreicht.
Bei näherer Prüfung derselben wurde festgestellt, daß dieselbe noch nicht 2 Mill. Unterschriften hatte und von
diesen viele teils gefälscht waren, teils von Frauen herrührten. Diese Petition war die letzte That der Chartisten. O'Connors
Einfluß auf die Massen war durch seinen Rückzug gebrochen, und der Chartismus
hörte auf, ein Gegenstand des Schreckens zu sein. Die
nationale Chartistenassociation bestand zwar noch eine Reihe von Jahren fort, verlor aber mehr und mehr
an Bedeutung. Die Arbeiter wandten sich mit der zunehmenden Erstarkung der Trades' Unions und mit der steten Verbesserung ihrer
Lage infolge der Fabrikgesetzgebung vom ab; O'Connor selbst starb im Irrenhaus, eine Chartistenpartei existiert heute nicht
mehr.
Vgl. Carlyle, On chartism (Lond. 1839);
Léon Faucher, Études sur l'Angleterre (Par. 1845, 2 Bde.);
Harriet Martineau, History of England etc. (Lond. 1851, 2 Bde.);
Pauli, Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen von 1814 und 1815 (Leipz. 1864-75, 3 Bde.);
Ludlow und Jones, Progress of the working class 1832-67 (Lond. 1867);
L. Brentano, Die englische Chartistenbewegung (in »Preußische Jahrbücher«, Bd. 33, 1874).