Boileau
-Despréaux
(spr. boalo-däpreo). Nicolas, franz. Dichter und Kritiker, geb. zu Paris, [* 2] erhielt den ersten wissenschaftlichen Unterricht im Collège Harcourt, dann im Collège Beauvais. Kaum 21 Jahre alt, wurde er unter die Advokaten des Parlaments aufgenommen; aber der erste Prozeß, den er führte, schreckte ihn von dieser Laufbahn zurück. Ebensowenig fand er am Studium der katholischen Theologie in der Sorbonne Gefallen, und da das vom Vater (1657) ererbte Vermögen und die ihm verliehene Priorstelle zu St.-Paterne ihm eine unabhängige Stelle sicherten, widmete er sich ganz der Dichtkunst. Schon seine Satire »Les adieux à Paris« hatte durch die Reinheit des Stils und die Eleganz des Versbaues Aufsehen erregt, das eine Sammlung von sieben Satiren, die 1666 erschien, noch steigerte. Die gegen ihn gerichteten Angriffe der ¶
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darin verspotteten Personen trugen nur dazu bei, seinen Ruhm zu erhöhen. Ludwig XIV., den er in einigen Gedichten gelobt, bewilligte
ihm einen Jahrgehalt von 2000 Livres und ein Privilegium für alle seine Schriften. Durch seine beiden größern Gedichte: »Le
[* 4] lutrin« und »L'art poétique«, schwang er sich vollends zum Gesetzgeber
in Sachen des Geschmacks bei seiner Nation empor, und kaum wagte noch ein eifersüchtiger Gegner, ihm diese
Stellung streitig zu machen. Im J. 1677 ernannte ihn der König neben Racine zu seinem Historiographen, in welcher Eigenschaft
er denselben aus zwei Feldzügen begleitete. Da Boileau
-Despréaux
viele der damaligen Akademiker in seinen Schriften angegriffen
hatte, so ward er erst 1684 auf besondere Vermittelung des Königs Mitglied des Instituts.
Seine litterarische Thätigkeit, die er seit 1677 unterbrochen hatte, nahm er erst 1693 wieder auf, um einige schwache lyrische
Versuche, drei frostige Satiren und einige Episteln zu schreiben, die nicht entfernt an seine frühern Werke
heranreichen. Die meisten sind gegen die Jesuiten und gegen Perrault, den Tadler der Alten, gerichtet, gegen letztern besonders
noch die »Réflexions sur Longin« (1693). Seine besten Jahre verlebte Boileau
-Despréaux
auf seinem Landsitz zu
Auteuil in Gesellschaft Molières und andrer geistreicher Männer; später hielt er sich ganz fern vom Hof,
[* 5] und
als er krank und taub geworden, zog er sich in das Kloster Notre Dame zurück, wo er starb.
Höher als seine Satiren werden seine Episteln geschätzt, am höchsten aber die »Dichtkunst«, welche für alle Stilgattungen der Poesie die Regeln aufstellte, die für die poetische Komposition von jener Zeit an Gesetz blieben. Die Dichtkunst des Horaz, sein Vorbild, hat er aber nicht erreicht, schon deshalb, weil er sich ganz auf die Form beschränkt und die poetische Erfindung nicht berücksichtigt. Die auffällige Nichterwähnung der Fabel erklärt man sich aus der Rücksichtnahme auf Ludwigs XIV. Abneigung gegen Lafontaine. Sein »Lutrin« ist ein Meisterwerk der Verskunst über ein unbedeutendes Thema, voll von feinen und geistreichen Scherzen. Von seinen übrigen Werken sind zu erwähnen die Übersetzung aus Longin: »Traité du sublime« (1674),
seine überaus schwache Ode »Sur la prise de Namur«
[* 6] und seine Briefe (ca. 120) an Brossette, Racine
u. a., welche den letzten Band
[* 7] der Ausgabe von Saint-Surin (1821) bilden. Von den zahllosen Ausgaben seiner
Werke sind die wichtigsten: die von 1701, die letzte, welche Boileau
-Despréaux
selbst besorgt hat;
von Brossette (Gens 1716, 2 Bde.), der
vermöge seines langen Verkehrs mit Boileau
-Despréaux
wichtige Erläuterungen geben konnte;
die erwähnte von Saint-Surin (1821, 4 Bde.);
von Aimé-Martin (1825 u. öfter);
die vortreffliche von Berriat Saint-Prix (1830-34, 4 Bde.);
die von Gidel (1869) und von Poujoulat (Tours [* 8] 1870).
Mit seinem scharfen Verstand, seinem feinen Geschmack und seiner leidenschaftlichen Liebe zur Wahrheit
hat Boileau
-Despréaux
der französischen Sprache
[* 9] und Litteratur ausgezeichnete Dienste
[* 10] geleistet; er hat Ordnung, Regelmäßigkeit,
edle und präzise Sprache und strenge Unterscheidung der Dichtungsarten gelehrt, wenn er auch selbst Musterwerke nicht zu
schaffen vermochte. Corneille und Pascal wußte er zu würdigen; Racine und Molière haben ihm viel zu verdanken. Die Überschätzung,
welche das 18. Jahrh. ihm zu teil werden ließ, ist in diesem Jahrhundert auf das richtige Maß zurückgeführt
worden; trotzdem sind seine Verse Eigentum eines jeden gebildeten Franzosen.
Vgl. Scheffler, Étude littéraire sur Boileau
-Despréaux (Posen
[* 11] 1875);
Bornemann, Boileau-Despréaux
im Urteil seines Zeitgenossen Jean Desmarets de Saint-Sorlin (Heilbr.
1883). -
Sein Bruder Gilles Boileau-Despréaux
, geb. 1631, gest. 1669, machte
sich gleichfalls als Dichter bekannt und ward 1659 Mitglied der Akademie. Seine mäßigen Gedichte finden
sich im »Recueil de quelques pièces nouvelles«, Bd. 1 (Köln
[* 12] 1667 u. öfter). Auch lieferte er Übersetzungen vom vierten
Buch der »Äneide«, von Diogenes Laertius u. a., welche sein Bruder samt einigen Briefen herausgab.