heißt nach Ratzel, analog der
Tier- und Pflanzengeographie, seit 1882 derjenige
Teil der Erdkunde,
[* 2] der die Abhängigkeit des
Menschen von den räumlichen Verhältnissen der Erdoberfläche im allgemeinsten
Sinne des Wortes
zum Gegenstande der Forschung macht. Da diese Abhängigkeit selbstverständlich eine höchst verwickelte
Funktion der natürlichen Gegebenheiten des
Bodens, des
Klimas, der Verkehrslage u. s. w. ist, und da die in letzter Reihe
alle Fragen der
Anthropologie und der
Völkerkunde oder Ethnographie
[* 3] in sich schließt, so sind die von Ratzel gegebenen Anregungen
bisher vielfach als zu allgemein gehalten und zu wenig streng angegriffen worden. Doch ist unverkennbar,
daß die Ausführungen über den allgemeinen Einfluß der Naturbedingungen auf die Menschheit schon sehr anregende Bedeutung
errungen haben; und man darf auch erwarten, daß anthropogeogr. Specialuntersuchungen in der
nächsten Zeit viel zur Klärung
der allgemeinen Andeutungen in Ratzels Anthropogeographie beitragen und der gesamten Geographie
viel schätzbares Material zuführen werden. -
Vgl. Ratzel,Anthropogeographie (2
Tle., Stuttg. 1882
u. 1891).
Indem die Gegensätze von Bodengüte und Klima
[* 4] schon auf den niedrigsten Kulturstufen tief einschneidende
Unterschiede der Lebensbedingungen hervorrufen, zwingen sie die Vergesellschaftungen der Menschen zu verschiedenen
Arten des Wirtschaftslebens und damit der Daseinsform überhaupt; sie bedingen Wanderungen, d. h.
die Anfänge und Weiterentwicklung des Verkehrs. Die Siedelungen, und zwar ebensowohl das unscheinbarste Einzelgehöft wie
die größte Weltstadt, sind nach ihren Anfängen und nach der Art ihres Wachstums in erster Reihe durchaus
von den geogr. Verhältnissen der Örtlichkeit abhängig, die auch den Wert und die Bedeutung
einer bewohnten Erdstelle für die weitere Umgebung oder für eine größere Gesamtheit, einen Stamm, ein Volk, einen Staat
bedingen.
Und schließlich verleiht jede Landschaft der in ihr ansässigen Bevölkerung,
[* 5] deren Erwerbsleben, Thätigkeit
und Denkweise sie durch Generationen hindurch in ganz bestimmter Weise beeinflußt, einen ausgeprägten Charakter, der z. B.
Gebirgsstämme von Küstenbevölkerungen, Tropenbewohner von Polarvölkern scharf unterscheidet. Freilich fällt hierbei
das nichtgeogr. Moment der geistigen Veranlagung oder der kulturellen Entwicklungsstufe eines Volks schwer in die Wagschale,
indem es selbstverständlich principiell unterscheidend wirkt, ob ein tief stehendes Naturvolk sich den
Einflüssen eines Erdraumes machtlos ausgesetzt sieht, oder ob ein Volk mit vergleichsweise hoher Kultur diese Einflüsse
mehr oder weniger brach zu legen im stande ist und so der Landschaft mehr seinen Stempel aufdrückt, als von ihr abhängig
wird. Man vergleiche, um diesen Gegensatz in seinem ganzen Gewichte zu ermessen, z. B.
nur das geogr. Gesamtbild der Vereinigten Staaten
[* 6] Amerikas von heute mit dem ihres Gebietes vor der Zeit der europ. Besiedelung.
Indem also die Anthropogeographie zeigt, in welcher Weise die menschlichen Vergesellschaftungen von den natürlichen Zuständen der Wohnsitze
bedingt sind, und wie andererseits der Mensch kleinere und größere Erdräume in tief einschneidender
Weise umzugestalten und sich auf diese Weise erst dienstbar zu machen vermag, bedarf sie zu ihren Untersuchungen und Schlußfolgerungen
natürlich in ausgedehntester Weise der Rücksichtnahme auf die Zeit, da nur in langen Perioden der Prähistorie und der Geschichte
die in Rede stehenden Einflüsse ihre Wirkungen ausüben konnten und können. Die Bezeichnung historische
Geographie für Anthropogeographie ist daher wohl berechtigt; nur ist zu beachten, daß sie ab und zu auch in anderm
Sinne gebraucht wird, nämlich so, daß es sich um die geogr. Zustände bestimmter Epochen
handelt. In diesem Sinne spricht man z. B. von einer Geographie Italiens
[* 7] zur Zeit des röm. Kaiserreichs
oder allgemein von einer mittelalterlichen Geographie u. s. w. Das Wort Anthropogeographie ist
also jedenfalls vorzuziehen.
Sucht man das Forschungsgebiet der Anthropogeographie genau zu umgrenzen, so wird man als ihre allgemeine Aufgabe erkennen, den Einfluß der
Naturbedingungen, also z. B. der Lage in einem Kontinent, auf einer Insel oder Halbinsel, der Größe des
verfügbaren Raumes, der Art seiner Umgrenzung, der Bodenunebenheiten, der Flüsse,
[* 8] Küsten, Seen,
des Klimas, des Pflanzenkleides
der Erde, darzuthun, und zwar den Einfluß auf die Art, Größe, Verteilung der Siedelungen, auf die räumliche Ausdehnung
[* 9] der Völker und ihrer Kulturkreise, auf den Verkehr und seine vielseitigen, besonders wirtschaftlichen
Wirkungen.
Man kann also Siedelungskunde, Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie als wichtige Hauptteile der Anthropogeographie aufstellen.
Auch die politische Geographie, die sich mit den Besitzverhältnissen der menschlichen Staaten und deren Gliederung zu einer
bestimmten Zeit befaßt, ist ein Zweig der der für zahlreiche anthropogeogr. Untersuchungen die naturgegebene
Form ist, in welche sich alles der Statistik zugängliche geogr. Material am bequemsten einfügt, da eben die Zahlen der Statistik
an die Erhebungen innerhalb polit. Grenzen
[* 10] gebunden sind.
Wenn häufig gesagt wird, es falle der Geographie die schöne Aufgabe zu, Vermittlerin und Bindeglied zu sein zwischen den
Welten der historischen und der Naturwissenschaften, so trifft das sicherlich ja allermeist zu für die
Anthropogeographie, welche eben das abgerundete länderkundliche Bild einer Erdstelle nur dann vollständig vor Augen führen kann, wenn sie
den jeweiligen geogr. Gesamtzustand des Landes und seiner Bewohner als einen naturbedingten auffaßt.