(spr. woltär),FrançoisMarie Arouet de, der berühmteste und einflußreichste aller franz. Schriftsteller,
wurde nach jetzt allgemeiner
Annahme zu
Paris
[* 2] als der Sohn eines Finanzbeamten, Arouet, geboren und später in dem
Jesuitenkollegium
Louis le
Grand erzogen. Nach Beendigung der Gymnasialstudien (1710) wurde er vom
Vater
in eine
Rechtsschule geschickt; doch fand der schwächliche und durch eine schiefe
Schulter verunstaltete junge Mann keinen
Geschmack an dem Rechtsstudium, sondern wollte sich ausschließlich der
Philosophie und den schönen
Wissenschaften widmen,
worin ihn sein
Pate, der
Abbé de
Châteauneuf, bestärkte, der ihn in die geistreichen und frivolen
Zirkel
der vornehmen
Gesellschaft einführte. In diese Zeit fallen seine ersten
Oden und der
Entwurf zur
Tragödie »Oedipe«. Um ihn
auf andre
Gedanken zu bringen, sandte ihn der erzürnte
Vater 1713 als
Pagen mit dem
Marquis de
Châteauneuf, der als französischer
Gesandter nach
Holland ging, nach demHaag.
[* 3]
Wegen eines Liebeshandels mit einem
FräuleinDunoyer nach
Paris zurückgeschickt, wollte er nach
Amerika
[* 4] gehen, ließ sich aber
als
Clerc bei einem Prokureur anstellen, um den
Gang
[* 5] der
Geschäfte kennen zu lernen.
Bald darauf folgte er dem
Marquis de Coumartin
auf sein
LandgutSt.-Ange bei
Fontainebleau; die
Begeisterung seines Wirtes für
Heinrich IV. und die genaue
Kenntnis desselben vom
ZeitalterLudwigs XIV. gaben Voltaire die ersten Anregungen zu zweien seiner Hauptwerke. Der Autorschaft einer
nach
Ludwigs XIV.
Tod erschienenen beißenden
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mehr
Satire auf den Regenten verdächtig, mußte er in die Bastille wandern (1717), wo er während seiner elfmonatlichen Gefangenschaft
die »Henriade« entwarf und die Tragödie »Oedipe« vollendete. Die begeisterte Aufnahme dieses Stücks bei der Aufführung (1718)
söhnte ihn mit seinem Vater aus; hier signiert er auch zum erstenmal mit »Voltaire«, dem
Anagramm von Arouet l. j. (le jeune). Die unvorsichtige Teilnahme an einer Hofintrige hatte bald darauf seine Ausweisung aus
Paris zur Folge. Er kam indessen 1721 zurück, um seine Tragödie »Artémire« aufführen zu lassen, welche jedoch durchfiel.
Nach dem Tod seines Vaters machte er eine Reise nach Holland mit Frau v. Rupelmonde, kehrte aber 1724 nach
Paris zurück und brachte seine Tragödie »Marianne« zur Aufführung, ebenfalls mit ungünstigem Erfolg. Ein Streit mit dem
Chevalier von Rohan-Chabot, der ihn durch seinen Bedienten prügeln ließ, und den er zum Zweikampf forderte, brachte ihn 1726 zum
zweitenmal in die Bastille. Nach einigen Wochen erhielt er seine Freiheit wieder, zugleich aber den gemessenen
Befehl, das Königreich zu verlassen. Voltaire wählte England zu seinem Aufenthaltsort (1726-29), studierte eifrigst die Litteratur,
Philosophie, Geschichte und Politik des Landes und begeisterte sich für Shakespeare.
Auf Verwendung seiner Freunde kehrte er 1729 nach Paris zurück, wo er eine Zeitlang in einer entfernten Vorstadt in Zurückgezogenheit
lebte, mit Entwürfen zu neuen Werken und mit glücklichen Handelsspekulationen beschäftigt. Wegen einiger Verse auf den Tod
der Schauspielerin Lecouvreur, der die Geistlichkeit ein ehrliches Begräbnis verweigerte, fand er für
geraten, eine Zeitlang unter fremdem Namen in Rouen
[* 7] zu leben, wo er seine »Histoire de Charles XII« und die »Lettres philosophiques«
heimlich drucken ließ.
Die letztern wurden 1734 durch Henkershand verbrannt. Von mehreren Tragödien, »Zaïre« (1732),
die er damals schrieb, machte nur die erstgenannte Glück; auch »Brutus« (1731) war
nur kühl aufgenommen worden. Das Gedicht »Le
[* 8] temple du goût« (1733),
worin der Dichter die gepriesensten Schriftsteller seiner Zeit schonungslos beurteilte, machte großen Lärm und verschloß
ihm die Pforten der Akademie. Um den allenthalben losbrechenden Angriffen zu entgehen, begab sich Voltaire mit
seiner gelehrten Geliebten, der Marquisedu Châtelet, auf deren LandgutCirey in Lothringen, wo er mit einigen Unterbrechungen 15 Jahre
blieb.
das Lustspiel
»L'enfant prodigue«, die »Discours sur l'homme« und viele andre, auch ließ er seine Tragödie »La mort de César« (1735), deren
öffentliche Aufführung verboten wurde, auf einer Privatbühne in Szene gehen. Unterdessen war VoltairesRuhm ein europäischer
geworden. Der Kronprinz von Preußen
[* 9] (Friedrich II.) schrieb Voltaire die schmeichelhaftesten Briefe und lud
ihn zu einer Zusammenkunft ein, ja selbst PapstBenedikt XIV. genehmigte die Dedikation des (in Frankreich nicht zur Aufführung
zugelassenen) »Mahomet« und segnete den Verfasser. 1746 verschafften ihm
ein Singspiel: »La princesse de Navarre«, zur Feier der Vermählung des Dauphins den langersehnten Sitz
in der Akademie und das Amt eines Historiographen.
Diese Behandlung hat Voltaire dem König trotz ihrer Aussöhnung und des fortgesetzten Briefwechsels
nie vollständig verziehen. SeinBerliner Aufenthalt war aber nicht unfruchtbar gewesen. Er hatte sein berühmtes Werk »Siècle
de Louis XIV« (Berl. 1752, 2 Bde.)
vollendet, seine Studien zu einer Universalgeschichte begonnen, die er nachher veröffentlichte in dem »Essai
sur l'histoire universelle« (Dresd. 1754 bis 1758, 6 Bde.),
besonders aber das dem König gewidmete »Poème sur la loi naturelle« (1752,
1756), welches wiederum von dem PariserParlament zur Verbrennung verurteilt wurde. Da ihm der Aufenthalt in Paris noch immer
verboten war, blieb er ein Jahr in Kolmar,
[* 15] ging dann nach Lyon
[* 16] und Genf,
[* 17] hielt es aber endlich für das Klügste,
sich in der Schweiz
[* 18] niederzulassen. Zuerst kaufte er einige Häuser in und vor Lausanne
[* 19] und ein Landgut bei Genf,
»Les Délices«, dann
die Herrschaften Tourney und Ferney in dem französischen Grenzländchen Gex.
Hier verlebte der Patriarch von Ferney, wie er sich gern nennen hörte, die letzten 20 Jahre seines Lebens,
umgeben von fürstlichem Luxus und im Genuß einer Rente von 140,000 Livres. Er erhob den armen Flecken nach und nach zur wohlhabenden
Stadt, baute eine Kirche mit der Inschrift: »Deo erexit Voltaire« und erwarb sich um die ganze Umgegend große
Verdienste. Unerschrocken trat er als Hort und Verteidiger aller unschuldig Verfolgten auf und brachte es beispielsweise durch
seine rastlosen Bemühungen dahin, daß der Prozeß des unschuldig hingerichteten Calas wieder aufgenommen und die unglückliche
Familie der Armut und Schmach entzogen wurde. Dabei entwickelte er eine ungemeine litterarische Thätigkeit. Zunächst lieferte
er zahlreiche Artikel für die »Encyclopédie«. Als die wichtigsten seiner Schriften in dieser Epoche sind
sodann
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hervorzuheben: »Essai sur les mœurs et l'esprit des nations« (1756; deutsch von Wachsmuth, Leipz. 1867, 6 Bde.);
»La
Bible enfin expliquée« (1776) etc. Im Februar 1778 besuchte der Vierundachtzigjährige noch einmal Paris, wo er mit Ehrenbezeigungen
überhäuft wurde, aber, vielleicht infolge der dadurch veranlaßten Aufregung, in eine Krankheit verfiel
und starb.
Die Geistlichkeit in Paris verweigerte ihm ein kirchliches Begräbnis, und der Abbé Mignot, der ihn in der
Abtei von Scellières beigesetzt hatte, ward sogar bestraft. 1791 wurden seine Gebeine auf Volksbeschluß im Panthéon beigesetzt.
Die 100jährige Wiederkehr seines Todestags wurde 1878 in Paris mit Pomp und in zahlreichen Festschriften
gefeiert.
war Philosoph im französischen Sinn, Geschichtschreiber, dramatischer und Romandichter. Seine sogen. philosophischen
Schriften bestreiten wirkliche oder vermeinte Irrtümer oder Vorurteile oft mit kaustischer, unwiderstehlicher Schärfe, oft
mit witzelnder Unkunde, oder sie tragen bald mit ermüdender Breite,
[* 21] bald mit absprechender Kürze den
Locke-CondillacschenSensualismus und Eudämonismus mit stetem Kampf gegen das Christentum vor. Seine historischen Darstellungen
ermangeln, bei trefflicher Anordnung des Stoffs und höchst geistreicher und ansprechender Darstellung, doch der Wahrheit und
Genauigkeit. Er war bei der wundersamsten Fülle von Kenntnissen ungründlich und oberflächlich, und wo nicht seine Unkunde
zu Irrtümern führte, da thaten es seine lebhafte Phantasie und sein Haß gegen Christentum und Kirche.
Ein Meisterstück romanhafter Geschichtschreibung ist die »Histoire de Charles XII«; auch der »Essai sur l'histoire générale
et sur les mœurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne« ist reich an glänzenden Aperçus. Wertvoll besonders durch Reichhaltigkeit
des Stoffs und anziehende Darstellung ist auch der »Précis du siècle de Louis XV« (1768). Als Dichter exzellierte
Voltaire vor allem im Epigramm; sonst hat er weder in der Lyrik (am allerwenigsten in der Ode) noch in der EpikGroßes geleistet.
SeinEpos »La Henriade« ist eine in wohllautenden Alexandrinern und mit glänzenden Deklamationen und Sentenzen
reich ausgestattete, kalte historische Darstellung, die alles epischen Geistes ermangelt, und »La Pucelle« ist ein in sittlicher
Beziehung höchst verwerfliches, wenn auch in poetischer Hinsicht jenes weit überstrahlendes Gedicht. Dagegen sind seine
kleinen, meist satirisch gehaltenen Romane und Erzählungen (»Zadig«, »Micromégas«,
»Candide«, »Jeannot et Colin«,
»L'ingénu«, »La
princesse de Babylone« etc.) ausgezeichnete Leistungen, eine wunderbare Mischung von Ernst und Scherz, bezaubernder Leichtigkeit
und Anschaulichkeit der Darstellung.
Trotz des großen Fleißes, den Voltaire auf seine Tragödien verwandte, und trotz seiner wunderbaren Produktivität hat er doch
seine großen klassischen Muster, Corneille und Racine, nicht erreicht. Mehrmals versuchte er es auf Grund
seiner Begeisterung für Shakespeare, dem französischen Drama mehr Bewegung und Freiheit zu geben; immer aber scheiterte er an
dem Widerstand des Publikums, dessen Beifall
er nicht entbehren konnte. Auch seine Stücke leiden unter dem Zwang der klassischen
Regeln; auch bei ihm ersetzt Schilderung die Handlung, glänzende Rhetorik die Charakterzeichnung; am schwächsten
aber ist sein Stil. Im Lustspiel, für welches sich seine so mächtige Individualität nicht eignete, hat er seinen größten
Erfolg mit dem »Enfant prodigue« davongetragen. - »Den großen Widerspruch seines Lebens zwischen seinem bedeutenden Talent und
seinem ursprünglich kleinen und selbstsüchtigen Naturell hat Voltaire nie gelöst. Geist und Bildung lassen
ihn für die hohen und idealen Zwecke der Menschheit kämpfen; aber sein persönlicher Charakter zeigt die niedrigsten und
kleinlichsten Schwächen, welche die menschliche Natur entstellen. Er ist eitel, gewinnsüchtig und unwahr. Seine Angriffe gegen
die römische Kirche, ja gegen das Christentum sind leidenschaftlich, gehässig und frech und treten um
so greller hervor bei der Leichtigkeit, mit der er sich um seines Vorteils willen an den kirchlichen Handlungen beteiligte.
Seine Streitschriften sind fast immer Pasquille, sein Kampf gegen andre Schriftsteller meist persönliche Rache; er erlaubt
sich Mittel, welche nur die Wirkung im Auge
[* 22] haben und es mit der Wahrheit niemals genau nehmen. Überall,
wo es ihm ersprießlich dünkt, verleugnet er frech seine Bücher, statt ehrlich und mannhaft für sie einzustehen. In seiner
Beurteilung Voltaires begnügt sich Strauß
[* 23] (s. unten) nicht mit der Lösung, wie sie Friedrich d. Gr. versucht: das Talent von
dem Charakter zu trennen, alles Licht
[* 24] auf das erstere, allen Schatten
[* 25] auf den letztern fallen zu lassen;
zu bedauern, daß ein so großer Geist ein so kleiner Mensch gewesen sei. Er versucht die Lösung in der Weise, daß er in den
geschichtlichen Zusammenhang hineinstellt, dem er angehört. In diesem Sinn erscheinen seine Fehler teils als
natürliche Wirkungen seiner Zeit und ihrer Verbildung, teils sogar als Mittel zu ihrer Umbildung. Nicht sind sie etwa darum
keine persönlichen Fehler gewesen. Auch hat Voltaire unter ihnen am meisten gelitten. Er lebte selten im Vollgefühl
seiner Kraft,
[* 26] seines Wirkens, seines Wertes; die meiste Zeit seines Lebens war er in der Pein um untergeordnete,
oft ganz unwürdige Zwecke befangen. Er ist nur so weit glücklich gewesen, als er gut gewesen ist.« (Pfundheller.) Von den
zahlreichen Ausgaben seiner Werke, von denen einen beträchtlichen Teil seine ausgedehnte und interessante, bis ins höchste
Alter fortgeführte Korrespondenz ausmacht, erwähnen wir nur die von Beaumarchais, Condorcet und Decroix
(Kehl 1785 bis 1789, 70 Bde.), die vortreffliche von Beuchot,
dem Bibliographen Voltaires (das. 1829-41, 72 Bde.),
ferner die von Furne (1835-38, 13 Bde.), Barré (1856-59, 20 Bde.), Hachette (1859-62, 40 Bde.), Didot (1859, 13 Bde.), Garnier
(1878-85, 52 Bde.). Die deutschen Übersetzungen von Mylius u. a. (Berl. 1783-91, 29 Bde.),
Gleich, Hell u. a. (Leipz. 1825-30, 30 Bde.)
sind unvollständig und nicht besonders gelungen; eine Auswahl in 5 Bänden besorgte Ellissen (das. 1854). Briefwechsel: »Voltaire et
le président de Brosses« (hrsg. v. Foisset, 2. Aufl.
1858);
»Lettres inédites« (hrsg. von Carayol, 2. Aufl.
1857);
à Ferney« (Briefwechsel mit der Herzogin von Gotha,
[* 27] hrsg. von
Bavoux, 2. Aufl. 1865);
»Lettres inédites sur la tolérance« (hrsg. von Coquerel, 1863).
Vgl. Bungener, Voltaire et son temps (2. Aufl., Par. 1851, 2 Bde.);
Maynard, Voltaire, sa vie et ses œuvres (das. 1867, 2 Bde.);
In der poetischen Epistel fanden Beifall: Voltaire, Dorat, G. Bernard, Thomas, Bernis, Piron, Gresset, Chamfort, Sedaine, de Moustier, Laharpe und Colardeau (gest. 1776)