Sokrates
,
griech. Philosoph, geb. 470 v. Chr. zu Athen, [* 2] Sohn des Bildhauers Sophroniskus und der Hebamme Phänarete, war anfangs selbst Bildhauer, erkannte aber dann als seinen wahren Beruf die Philosophie, der er mit vollem Glauben an sich selbst seine ganze Zeit widmete. Spätere geben ihm den Anaxagoreer Archelaus zum Lehrer, er selbst nennt, halb scherzend, den Sophisten Prodikus seinen Meister. Die Schriften der ältern Philosophen kannte er gründlich, doch schlug er eigene Wege ein.
Nach der Darstellung des Plato und Xenophon lebte er ohne Geschäft, arm und bedürfnislos, auch vom Staatsleben sich möglichst fern haltend; er suchte den Handwerker in der Werkstatt, den jungen Vornehmen auf den Übungsplätzen auf, war auf allen Gassen zu finden, unersättlich die Leute, Städter und Fremde, ins Gespräch zu ziehen, sie, falls sie irgendein Wissen zu besitzen glaubten, zu prüfen, zur Rechenschaft zu nötigen, zur Selbsterkenntnis zu zwingen. Er hat seine Vaterstadt nicht verlassen, außer einmal zu den Isthmischen Spielen und dreimal im Kriegsdienst; in den Kämpfen bei Potidäa 432, Delium 424 und Amphipolis 422 zeichnete er sich durch persönliche Tapferkeit aus. An öffentlichen Angelegenheiten beteiligte er sich zweimal pflichtmäßig, beidemal trat er ungerechten Forderungen, einmal des Demos, das andere Mal der Oligarchen unerschrocken entgegen. In S. vereinigt sich eine in der Griechenwelt vielleicht einzige Ursprünglichkeit und Tiefe des Innenlebens mit einer höchst hervorstechenden Sonderbarkeit der äußern Erscheinung und Umgangsweise; er zeigt eine wunderbare Gabe der Unterredung, große Fähigkeit, Gedanken im andern zu erzeugen, ihn auf sich selbst, auf seine eigene Innenwelt hinzulenken, alles in der ironischen Maske dessen, der vom andern lernen will und bei diesem die «Weisheit», die ihm selber mangle, voraussetzt.
Dies alles machte ihn den Besten seiner Zeit anziehend, der Menge verhaßt. Verdacht wurde ihm auch der Anhang, den er bei der vornehmen Jugend, bei Männern wie Kritias und Alcibiades fand, mehr noch die freie Kritik der athenischen Demokratie, vollends die Unabhängigkeit seiner religiösen Anschauungen. Man fühlte instinktiv, daß die geistige Wiedergeburt, auf die er, ein echter philos. Reformator, hinarbeitete, das Bestehende in seiner Wurzel [* 3] angriff, und fühlte sich, der ungeheuren Macht seiner Persönlichkeit gegenüber, gewissermaßen im Stande der Notwehr.
Der Komiker Aristophanes hatte sich in den «Wolken» (423) seiner charakteristischen Maske bedient zu einem sehr ernst gemeinten Angriff auf unsittliche Sophisten und freigeisterische Naturforscher; das hing ihm nach, obgleich er mit beiden nichts gemein hatte. Zur Katastrophe aber führte erst die demokratische Reaktion nach dem Sturze der Oligarchie der Dreißigmänner. Die Anklage, die ein Dichter Meletus, ein Volksredner Lykon und ein Gerber und Staatsmann Anytus 399 einreichten, lautete, daß S. an die Götter, die der Stadt gelten, nicht glaube, andere neue Gottheiten einführe und die Jugend verderbe.
Der erste Klagepunkt bezog sich darauf, daß S. sich ein «Dämonium» zuschrieb, d. h. eine ihm allein zu teil werdende göttliche Warnstimme; der Vorwurf, daß er die Jugend verderbe, zielte auf seinen Einfluß bei den vornehmen Jünglingen. Man hatte wahrscheinlich nur die Absicht, den S. gründlich zu demütigen und zum Schweigen zu bringen. Der Spruch, der auf schuldig lautete, erfolgte nur mit geringer Stimmenmehrheit, und noch stand es ihm selbst frei, eine milde Strafe zu beantragen; er durfte die Verbannung wählen, ja man hätte ihn wohl gegen eine bloße Geldbuße freigegeben unter der einzigen Bedingung des Schweigens.
Allein mit ungebrochenem Stolz erklärte er, von dem durch Gott ihm auferlegten Beruf nicht lassen zu können und den Tod auch der Verbannung vorzuziehen. So erfolgte die Verurteilung zum Tode. Noch 30 Tage durfte er in ungestörtem Verkehr mit den Freunden im Kerker leben, bis das Festschiff von Delos (während dessen Abwesenheit kein Urteil vollstreckt werden durfte) zurückkam; es wäre ein Leichtes gewesen, ihn sicher über die Grenze zu schaffen, er wies den ungesetzlichen Vorschlag der Freunde mit Entrüstung zurück und nahm den Giftbecher.
Als den Inbegriff seiner «Weisheit» erklärt S. selbst in Platos «Apologie des S.», die wohl als die am meisten authentische Urkunde seiner Philosophie gelten kann, sein Wissen, daß er nichts wisse. Diese Selbstbesinnung ist ihm die wahre menschliche Weisheit, im Unterschied von der übermenschlichen, die die Weisen vor ihm erreicht zu haben wähnten. Die Sokratische Philosophie besteht daher wesentlich in dem kritischen Verfahren, der Prüfung alles vermeinten Wissens auf seine Zulänglichkeit.
Solche Prüfung setzt ein Bewußtsein davon voraus, was zum wahren Wissen gehört; dieses Bewußtsein spricht sich aus in den beiden Sokratischen Verfahrungsweisen der Induktion [* 4] und der Begriffsbestimmung. Wahres Wissen ist ein solches, das auf dem sichern Begriff der Sache beruht, der Prüfstein des wahren Begriffs aber ist die allseitige Bewährung durch das induktive Verfahren. Vorzüglich wandte S. seine Methode an auf das sittliche Wissen, während er auf Naturerklärung verzichtete.
Tugend ist Wissen; den rechten Begriff vom Guten, Gerechten u. s. w. haben und gut, gerecht u. s. w. sein ist Eins. Über die rechte Erkenntnis hat keine andere Macht in uns Gewalt, weder Lust noch Unlust, weder Begierde noch Furcht; niemand thut bewußt Unrecht, sondern nur aus mangelnder Erkenntnis. Besinnung, Erkenntnis ist die eigentümliche Kraft [* 5] der Seele, auf die Seele kommt für den Menschen alles an, alles Seelische aber auf Besinnung (phronêsis), wofern es zum Guten ausschlagen soll. Das Gute ist Eins mit dem Nützlichen, worunter S. nicht das versteht, was zu einem andern Zweck nützt, sondern wozu alles nützt, was wahrhaft nützt. Am Leben und seinen Gütern liegt nichts, sondern daran allein, daß man recht thue. S. weiß nicht, ob der Tod ein Übel, daß aber unrecht thun ein Übel und Schade, ist, ein weit größeres als unrecht ¶
mehr
leiden, das weiß er. Den bestimmten Inhalt der sittlichen Pflichten wußte S. nicht abzuleiten; er scheint ihn positiven Instanzen zu entnehmen, wenigstens betont er aufs stärkste den Gehorsam gegen den Staat und sein Gesetz, wiewohl er von den irdischen Richtern und Gesetzen an die im Hades, d. i. an das ewige Gericht des Sittengesetzes appelliert und erklärt, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen. Das irdisch Gesetzliche ist ihm nicht ohne weiteres das Gerechte, aber es ist ihm geheiligt durch das ewige Sittengesetz, dessen Vertreter es sein will und, soweit es unter irdischen Bedingungen möglich ist, auch wirklich ist.
Analog ist seine Stellung zur Religion. Die Hoffnung der Unsterblichkeit soll nicht die Voraussetzung der sittlichen Überzeugung bilden; S. erklärt nicht zu wissen, was uns nach dem Tode erwartet; daß aber Rechtthun schlechthin gut, Unrechtthun übel für uns ist, das weiß er. Doch hegt er, eben auf Grund seiner sittlichen Überzeugung, die Hoffnung auf ein Jenseits. Von der Gottheit ist er überzeugt, daß, was sie über uns beschließt, schlechthin gut sein muß; daß dem Gerechten niemand etwas anhaben kann, da Gott ihn nicht verläßt; daß, wer auf das Gute baut, nicht betrogen ist, und geschehe ihm hier das Äußerste. In solchem Sinne erklärt er: ich glaube an Götter wie keiner meiner Ankläger. Der Vertreter jener höhern Richter und Gebieter ist ihm jene warnende Stimme, sein Dämonium. Der teleologische Monotheïsmus, den Xenophon ihm beilegt, ist wahrscheinlich nicht sokratisch, sondern dem Antisthenes (s. d.) entlehnt, von dem er auf die Stoiker überging.
S. hat keine Schriften hinterlassen, wohl aber eine Reihe bedeutender Schüler, die ihrerseits philos. Schulen von sehr verschiedenen Tendenzen gründeten. (S. Sokratiker.) Am tiefsten hat zweifellos Plato ihn begriffen, der in einigen seiner Schriften, welche die Sokratische Gesprächsmanier nachahmen, fast reiner Sokratiker ist, in nahezu allen aber das Beste, was er mitzuteilen weiß, dem S. in den Mund legt. Aber auch andere Sokratiker verfaßten «Sokratische Gespräche», wobei auch sie sich die Freiheit nahmen, dem S. ihre eigenen Ansichten unterzuschieben. Erhalten sind uns davon die «Sokratischen Denkwürdigkeiten» des Xenophon.
Vgl. Schleiermacher, über den Wert des S. als Philosophen (in den «Gesammelten Werken», Abteil. III, Bd. 2, Berl. 1838);
Brandis, Grundlinien der Lehren [* 7] des S. (im «Rhein. Museum», I, 1827);
Ribbing, Über das Verhältnis zwischen den Xenophontischen und Platonischen Berichten über die Persönlichkeit und die Lehre [* 8] des S. (Upsala [* 9] 1870);
Grote, History of Greece, deutsch von Meißner, Bd. 4 (2. Aufl., Hamb. 1883);
Zeller, Philosophie der Griechen, Tl. 2, 1. Abteil. (4. Aufl., Lpz. 1889);
Joël, Der echte und der Xenophontische S. (Bd. 1, Berl. 1893);
Klett, S. nach Xenophontischen Memorabilien (Cannstadt, Programm 1893);
Döring, Die Lehre des S. als sociales Reformsystem (Münch. 1895);