Schießpulver.
[* 2] Das anfänglich beim französischen Gewehr M/86 angewendete rauchlose S. mußte wegen mangelnder chemischer Beständigkeit aufgegeben werden. Es soll das Pikratpulver von Brugère, bestehend aus 54 pikrinsaurem Ammoniak und 46 Kalisalpeter, gewesen sein. Gegen Mitte des Jahres 1888 wurde das von Viville erfundene rauchlose S. bekannt, durch welches nunmehr diese Frage in Fluß kam, da aus taktischen Gründen kein Heer dem rauchlosen S. gegenüber ein rauchendes beibehalten konnte.
Als gegen Ende des Jahres 1888 in Frankreich das neue S. auch mit Erfolg auf Geschütze [* 3] aller Kaliber übertragen wurde, bemächtigte sich die chemische Industrie allerorts mit größtem Eifer der Erfindung von rauchlosem S. und von Explosivstoffen. Fast alle nahmen in Äther gelöste Nitrocellulose zur Grundlage, welcher sie irgend ein Sauerstoff entwickelndes Salz in [* 4] verschieden großer Menge beimischten, je nach dem beabsichtigten Grade der Schnelligkeit des Verbrennens des Explosivstoffs.
Abgesehen von der zweifelhaften chemischen Beständigkeit dieser Präparate, hat schon Abel in Woolwich darauf hingewiesen, daß die Rauchlosigkeit nur bei einem Explosivstoff rein organischen Ursprungs erreichbar ist. Gemische aus organischen Substanzen und sauerstoffreichen Salzen, wie Salpeter, Kaliumchlorat etc., können nie rauchlos sein, weil sie nie vollständig vergast werden können, denn im Pulverrauch sehen wir die von deren Gasen fortgetragenen, fein zerstäubten, nicht vergasbaren Bestandteile des Schießpulvers.
Zwei Gruppen von Substanzen kommen beim rauchlosen S. in Betracht, Nitroverbindungen und Salpetersäureäther verschiedener Alkohole. Das Prototyp der erstern ist das Trinitrophenol, bekannt unter dem Namen Pikrinsäure. Da die letztere jedoch zu ihrer vollständigen Verbrennung zu Kohlensäure nur etwa die Hälfte des erforderlichen Sauerstoffs besitzt, so werden ihr 40-55 Proz. kräftiger Oxydationsmittel, z. B. Chlorate oder Nitrate, beigemischt. Alle diese Mischungen sind aber nicht haltbar, weil die Pikrinsäure die Salpeter- oder Chlorsäure aus ihren Verbindungen verdrängt.
Deshalb sind alle bisherigen Versuche mit Pikratpulvern erfolglos geblieben. Reine Pikrinsäure ist beständig und durch einen starken Detonator aus Knallquecksilber explodierbar, wobei sich dann aber nicht Kohlensäure, sondern Kohlenoxydgas bildet. Da hierbei der Sauerstoff die doppelte Menge Kohlenstoff oxydiert, so sind Beimengungen sauerstoffreicher Salze entbehrlich. Nach Turpins Vorschlägen ist reine geschmolzene Pikrinsäure, gemischt mit ungeschmolzener Pikrinsäure, zu Sprengladungen von Granaten [* 5] geeignet und hier von großer Wirkung.
Die neuern rauchlosen Pulverarten haben Nitrocellulose zur gemeinsamen Grundlage, und zwar benutzt man die niedrigern Nitrate, welche die Kollodiumwolle bilden, die in einem Gemisch von 7-8 Teilen Äther und einem Teil Alkohol zu Kollodium löslich ist und bei ihrer Vergasung in Kohlensäure, Kohlenoxyd, Stickstoff und Wasserdampf zerfällt, also keine festen Verbrennungsprodukte hinterläßt.
In den Jahren 1885-88 sind in England, Frankreich und Deutschland [* 6] Patente auf rauchlose S. erteilt worden, welche dem Celluloid ähnliche Stoffe sind. Sie enthalten teils zur Herabminderung der Offensivität, teils zur Verbrennung des Kampfers sauerstoffliefernde Salze. 1888 wurde ein Patent Nobels bekannt, nach welchem Kollodiumwolle in Äthermischungen zu einer Pasta aufgelöst wird, die nach dem Trocknen und Pressen eine celluloidähnliche Masse ergibt, welche gekörnt wurde.
Aus diesem ist das zuerst von Krupp im Juli 1889 mit überraschendem Erfolg versuchte Nobelsche S. Patent Nr. 51,471 hervorgegangen, welches, von den »Vereinigten [* 7] Köln-Rottweiler Pulverfabriken« angekauft und verbessert, als rauchloses S. C/89, von Italien [* 8] unter dem Namen Ballistit eingeführt wurde. Es besteht aus Kollodiumwolle und der gleichen Gewichtsmenge Nitroglycerin. Nobel ging von der Sprenggelatine aus, einer Lösung von 7-10 Proz. Nitrocellulose in Nitroglycerin, und fand, daß mit dem größern Gehalt an Nitrocellulose die Offensivität der Sprenggelatine sich vermindert, da aber die Lösung der Kollodiumwolle in Nitroglycerin auf gewöhnlichem Wege nur durch Zusatz flüchtiger Stoffe, wie Kampfer, erreichbar ist, welche später verdunsten und damit die Zusammensetzung des Explosivstoffes ändern, übergoß Nobel die Nitrocellulose bei +6 bis 8° mit einem Überschuß von Nitroglycerin, machte, um eine möglichst gründliche Durchtränkung zu erzielen, den Raum, in welchem die Mischung sich befand, luftleer und beseitigte das überschüssige Nitroglycerin in einer Zentrifuge [* 9] oder Presse [* 10] so weit, bis das dem Erzeugnis zugedachte Mischungsverhältnis erreicht war.
Bei der nunmehrigen Erwärmung des Gemisches auf 60-90° beginnt die Gelatinierung, welche um so langsamer von statten geht, je mehr Nitrocellulose vorhanden ist. Nach beendeter Gelatinierung wird die Masse unter Innehaltung der hohen Temperatur in einer erwärmten Presse zu 1-2 mm dicken Platten zusammengedrückt und zwischen erwärmten Walzen zu etwa 0,1 mm dicken Blättern ausgewalzt. Nach dem Trocknen bilden dieselben eine hornartige, celluloidähnlich durchscheinende Masse.
Diese Blätter werden in entsprechender Anzahl aufeinander gelegt und bei +80° zu Platten von gewünschter Stärke [* 11] zusammengepreßt, aus welchen Streifen und der Plattendicke entsprechende Würfel geschnitten werden. Zur Sicherung der chemischen Beständigkeit werden bereits vor der Gelatinierung 1-2 Proz. Diphenylamin zugesetzt. Krupp und das Grusonwerk haben mit dem rauchlosen S. C/89 eingehende Versuche angestellt und gefunden, daß es eine dreimal größere Verwertung als die ältern Pulversorten ergibt. Es entwickelt schwach bräunliche Nebel, die so dünn sind, daß unmittelbar nach dem Schuß wieder gerichtet werden kann.
Selbst bei starkem Regenwetter verziehen sich die Nebel innerhalb 3 Sekunden vollständig. Es hinterläßt so wenig Rückstand, daß die Seele der Waffe fast ganz rein bleibt. Die Erwärmung des Rohres ist geringer als beim Schwarzpulver. Die Versuche ergaben, daß Gasdruck und Anfangsgeschwindigkeit in den verschiedenen Kalibern nach Belieben durch die Korngröße regulierbar ist, so daß man durch geeignete Wahl der Körnergröße bei geringstem Gasdruck die größte Anfangsgeschwindigkeit erzielen kann. Das S. C/89 wird in ¶
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Würfeln von verschiedener Seitenlänge (vorläufig 1-15 mm) verwendet. So ergaben z. B. bei der 7,5 cm Schnellfeuerkanone des Grusonwerkes 600 g 3 mm Würfel 503 m Anfangsgeschwindigkeit bei 1936 Atmosphären, 650 g 4 mm Würfel 498 m Anfangsgeschwindigkeit bei 1604 Atmosphären Gasdruck; 725 g 4 mm Würfel ergaben 546 m Anfangsgeschwindigkeit bei 2089 Atmosphären, dagegen 1,5 kg grobkörniges S. C/86: 538 m Anfangsgeschwindigkeit bei 2547 Atmosphären.
In Schweden [* 13] befindet sich ein vom Ingenieur Skoglund erfundenes rauchloses S. im Versuch, welches Hafergrütze ähnlich sieht und seiner Farbe nach Graupulver genannt wird. Nach der Patentbeschreibung besteht es aus einem Nitrat, dessen brisante Wirkung durch Zusatz eines Salzes (vermutlich salpetersaures Ammoniak) herabgemindert wird. Es soll, wie durch nächtliche Schießversuche festgestellt wurde, beim Schießen [* 14] keine Flamme [* 15] geben, wenig Wärme [* 16] entwickeln und geringen Rückstoß haben. In England ist ein seines bindfadenförmigen Aussehens wegen Kordite genanntes rauchfreies S. unter der Bezeichnung E. X. E. als Geschützpulver eingeführt worden. Es hat außerordentlich glänzende Feuererscheinung und stärkern Knall als Schwarzpulver; es wird in Waltham-Abbey gefertigt. In Österreich [* 17] ist beim Gewehr 88 ein vom Major Schwab in der Dynamitfabrik zu Preßburg [* 18] angefertigtes rauchfreies S. im Gebrauch, welches sehr befriedigt. Libbrecht, Direktor der Gesellschaft von Copal u. Co. in Wetteren (Belgien, [* 19] Ostflandern), hat Mitte 1890 ein rauchloses Pulver erfunden, Körner von 2 cm Seitenlänge, welches bei Schießversuchen in Caulille sich gut bewahrte.
Vgl. Abel, Smokeless explosives, in »Chemical News and Journal of Physical Science«, Nr. 1582 und 1583, März 1890.
Die Anwendung des rauchlosen (rauchschwachen) Schießpulvers übt einen bedeutenden Einfluß auf die Taktik aus. Durch den Fortfall des Rauches beim Schießen geht das wesentlichste und oft einzige Merkmal verloren, den Feind im Gelände zu entdecken, seine Stellung in ihrer ganzen Ausdehnung [* 20] zu übersehen; aber es geht dadurch auch der feuernden Truppe die Deckung der eignen Bewegungen verloren, die der Pulverrauch gegen feindliche Beobachtung gewährt. Anderseits ist dadurch das wesentlichste Hindernis scharfen Zielens, wie zur Beobachtung des eignen Feuers und seiner Wirkung beseitigt. Es handelt sich nun darum, theoretisch und, soweit es die Übungen gestatten, auf Grund praktischer Anschauungen und Erfahrungen die Grenzen [* 21] dieses Einflusses auf beiden Seiten sowie diejenigen Maßnahmen festzustellen, mit deren Hilfe man in den verschiedenen Kampfverhältnissen den Nachteilen dieses Einflusses begegnen und seine Vorteile ausbeuten kann.
Die Ausübung des Sicherheits- und Aufklärungsdienstes wird bedeutend erschwert, da die weithin sichtbare Kavallerie von der Infanterie mit ihrem weittragenden Gewehr beschossen werden kann, ohne daß sie zu entdecken vermochte, woher das Feuer kam. Daraus folgt, daß das neue Pulver die Möglichkeit erfolgreicher Überfälle vermehrt. Alle zu Fuß kämpfenden Truppen, also auch die abgesessen kämpfende Reiterei, werden vom Spaten den ausgiebigsten Gebrauch machen, um sich Deckung zu verschaffen, denn der gute Schütze kommt bei der Übersehbarkeit des Schlachtfeldes mit seiner ausgezeichneten, weittragenden Schußwaffe heute viel mehr zur Geltung als je. Die Infanterie wird deshalb schon auf größern Entfernungen sich zum Gefecht formieren müssen; ihre eigentliche Kampfform ist die aufgelöste Ordnung, die Schützenlinie.
Die Reiterei findet für ihre Attacken, deren Erfolg nicht selten von ihrer überraschenden Ausführung abhängt, nicht mehr den deckenden Pulverdampf und wird daher mit Sorgfalt in größern Entfernungen durch das Gelände gedeckte Aufstellungen suchen müssen und dadurch zu viel weiter ausgreifendem, oft verlustreichem Anlauf [* 22] gezwungen sein. Den größten Gewinn vom neuen S. hat die Feldartillerie, deren Wirksamkeit von ununterbrochener, klarer Beobachtung und scharfem Richten abhängt.
Sie ist nicht mehr gezwungen, bei der Wahl ihrer Aufstellung Rücksicht auf die Windrichtung zu nehmen, sondern geht dahin, wo sie die beste Feuerwirkung erwarten kann und, wenn möglich, gedeckt ist. Das französische Reglement sagt: vor allem sehen; sodann, wenn möglich, nicht gesehen werden! Das deutsche: jede Rücksicht auf Deckung muß derjenigen auf Feuerwirkung nachstehen. Um das Krepieren ihrer Geschosse [* 23] besser beobachten zu können, wird die Artillerie sich stark rauchender Sprengladungen bedienen. Im Festungskrieg wird die Artillerie, noch viel mehr als bisher, ihre Erfolge vom Wurffeuer zu erwarten haben, da das für das Demontieren notwendige Erkennen der feindlichen Geschützstellung wegen Mangels an Raucherscheinung nur ausnahmsweise gelingen wird.
Vgl. v. Löbell, Jahresberichte über Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen (1890,2. Teil);
die anonymen Broschüren: »Das rauchlose Pulver und sein Einfluß auf die Gestaltung des Gefechts im allgemeinen sowie auf das Gefecht der einzelnen Waffengattungen« (Berl. 1889),
»Das rauchfreie Pulver. Ergebnisse seiner Anwendung im Manöver« (das. 1889),
»Wird das rauchschwache Pulver die Verwendbarkeit der Kavallerie beeinträchtigen?« (das. 1890);
Wiebe, Das rauchschwache Pulver und seine Bedeutung für den Festungskrieg (das. 1890);
»La poudre sans fumée et ses conséquences tactiques, par le colonel B.« (Par. 1890);
Moch, La poudre sans fumée et la tactique (das. 1890; deutsch im »Militär-Wochenblatt« Berl. 1890, Nr. 21 ff.);
»Der Einfluß des rauchfreien und schwach knallenden Pulvers auf die Taktik« (in den »Jahrbüchern für die deutsche Armee und Marine«, das. 1889).