Romān,
im Mittelalter in
Frankreich Bezeichnung derjenigen epischen, meist in Reimpaaren verfaßten und ritterliche
Stoffe behandelnden Gedichte, welche nicht in der lat., sondern in der
Volkssprache (der lingua romana
) geschrieben waren; ausgenommen sind alle Schöpfungen des Volksepos, also auch die franz.
Chansons de geste. Als mit dem
Verfall der ritterlichen
Poesie und dem wachsenden Lesehunger des Publikums das stoffliche Interesse
das formelle ganz verdrängte, trat nach dem
Muster lat. Prosaromane
auch in den Landessprachen, zuerst
in
Frankreich, später in
Deutschland
[* 2] und England, Prosa an die
Stelle der Reimpaare, ja ältere
Dichtungen wurden der Mode zu
Liebe prosaisch aufgelöst.
Seit dem 16. Jahrh. ist uns daher der Roman
der prosaische
Vertreter des frühern Epos, eine
höchst moderne poet. Gattung. Im
Gegensatz zum Volksepos, das im wesentlichen ein bestimmtes großes, von der Sage verherrlichtes Ereignis
poetisch verklärt, ist schon der Ritterroman
in Versen wesentlich auf der
Person des
Helden aufgebaut, der durch eine Fülle
verschiedener Erlebnisse hindurch geleitet wird und sich in ihnen entfaltet; diese Fülle des
Inhalts stellt den
Helden zugleich
in ein großes Weltbild hinein.
Als
Muster eines solchen Ritterromans
, der feinste psychol.
Entwicklung mit reicher Gestaltung des umgebenden Lebens vereint,
darf
Wolframs
«Parzival» gelten. Der moderne Roman
verschmäht zwar die märchenhaften
Stoffe der mittelalterlichen Ritterepen,
aber auch er giebt ein umfassendes
Bild der vergangenen (historischer Roman
) oder bestehenden (Zeitroman
)
Welt und Gesellschaft, das zugleich den
Untergrund bildet für das geistige und seelische Werden des meist mehr bildsamen
und eindrucksfähigen als energischen und sichern Roman
helden.
Auch da, wo der moderne Roman
histor.
Personen zu
Helden wählt, ist ihm ihr Privatleben, die Probleme ihres Gemüts- und Geisteslebens
die Hauptsache; im Unterschied zur Novelle (s. d.) ist es
aber nicht ein einzelnes inneres oder äußeres Erlebnis, eine individuelle psychol. Frage, die der Roman
zum
Thema hat, sondern
er giebt eine zusammenhängende Entwicklungsreihe, die den
Helden als
Typus einer bestimmten
Richtung,
Krankheit, Schwärmerei
seiner Zeit oder der Zeit des Dichters darstellt und ihn stets in mannigfachste Berührung mit der Vielheit
der Welt bringt, der gegenüber er etwa die
Rechte des
Herzens, der
Vernunft, der Wahrhaftigkeit verficht.
Eine Vorstufe des Roman
bilden gewisse alexandrinische Liebesgeschichten in griech.
Sprache
[* 3] aus dem 2. bis 5. Jahrh. n.Chr. (s.
Erotiker).
Rom
[* 4] führte den satir.-phantastischen Sittenroman
durch die «Satiren»
des Petronius und den
«Goldenen Esel» des
Apulejus (nach Lucian) in die Litteratur ein. Im Mittelalter wurde das lange allein
herrschende Kunstepos seit dem 13. Jahrh. mehr und mehr durch Prosaromane
verdrängt, die
aber zunächst dieselben ritterlichen
Stoffe behandelten wie die Kunstepen.
Den Anfang macht
Frankreich (der ältere engl.
«Apollonius» um 1100 steht ganz isoliert da) und ruft durch
sein
Beispiel auch in den andern
Ländern des
Abendlandes, namentlich in
Spanien,
[* 5] eine gewaltige Roman
produktion hervor. Den
Höhepunkt des galanten prosaischen Ritterromans
bezeichnet der ungeheuerliche
«Amadis von
Gallien» des Portugiesen
Vasco de
Lobeira, der im 15. und 16. Jahrh. in immer umfänglichern Bearbeitungen
die ganze Kulturwelt überschwemmte und seit 1569 auch in
Deutschland heimisch ward, wo schon seit 1437
(«Loher und Maller»,
übersetzt von der Herzogin Elisabeth von Lothringen), namentlich in adligen
Kreisen,
Übersetzungen franz. Prosaromane in
Mode waren, aus denen viele unserer
Volksbücher (s. d.) hervorgingen.
Die ersten deutschen Originalromane in Prosa waren von Jörg Wickram (gest. um 1556), harmlose Familiengeschichten mit pädagogischer Tendenz. Die Hochflut der Ritterromane veranlaßte den großen span. Dichter Cervantes zu seinem «Don Quixote» (1605 und 1615), der in wehmütigem Spotte die ideale Verstiegenheit des Helden mit der gemeinen Prosa des Lebens kontrastiert, und schon früher den franz. Satiriker Rabelais zu seinen gegen die gesamte Romantik gerichteten tollphantastischen, grotesk-derben ¶
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Romanen von den Riesen Gargantua und Pantagruel (1532 und 1535). Eine bedeutende Rolle spielt im 16. und 17. Jahrh. der Schäferroman (s. Schäferpoesie). Das 17. Jahrh. ist zugleich die Blüte [* 7] pathetischer, von Gelehrsamkeit überladener Geschichtsromane, von Haupt- und Staatsaktionen, Liebes- und Heldengeschichten ungeheuren Umfangs, die auffallend an die ersten griechischen Roman erinnern; diese Gattung vertritt in Frankreich Madelaine de Scudéry, in Deutschland Philipp von Zesen, Anselm von Ziegler und Kliphausen («Asiat. Banise», 1688) und Lohenstein («Arminius», 1689). Hier überall herrscht trotz Rabelais und Cervantes noch immer die der Wirklichkeit abgewandte Romantik; die politischen Roman, wie des Engländers Th. Morus «Utopia» (1516),
Barclays «Argenis» (1621; verdeutscht von Opitz) und Fénelons «Télémaque» (1717),
sind in dieser Hinsicht nicht viel besser.
Aber auch der Rückschlag ging von dem klassischen Lande des Roman, von Spanien, aus. Mendoza eröffnete durch seinen «Lazarillo de Tormes» (1554) die Schelmen- und Vagabundenromane; ihm folgte Alemans «Guzman de Alfarache» (1599). In dieser Richtung entstanden in Deutschland die realistischen Zeitsatiren Moscherosch' und vor allem Grimmelshausens lebenswahrer «Simplicissimus» (1669),
ein packendes Sittenbild aus dem Dreißigjährigen Kriege, weiterhin Christian Reuters komischer Lügenroman «Schelmuffsky», in Frankreich Scarrons «Roman comique» (1662) und Lesages «Histoire de Gil Blas» (1735); ja Defoes berühmter «Robinson Crusoe» (1719) und die ungeheure Litteratur der Robinsonaden und Aventurierromane gehen im letzten Grunde auf den span. Schelmenroman zurück. Auch in England wurde «Lazarillo» noch im 16. Jahrh. (1586) übersetzt, wie auch «Das Leben des Guzman de Alfarache» als «Spanish Rogue».
Thomas Nash schrieb noch im 16. Jahrh. in Nachahmung der Spanier den «Jack Wilton». 1665 verfaßte dann Richard Head «The English Rogue», der von Franz Kirkman fortgesetzt wurde. Trotz der ermüdenden Breite [* 8] ist dieser Roman wichtig, weil er auf Defoes Roman, nicht auf seinen «Robinson», wohl aber auf seinen «Colonel Jack», «Captain Singleton», «Moll Flanders u. a. einwirkte. In England selbst entstand noch im 17. Jahrh. der erste Negerroman »Oroonoko» von Aphra Behn (1640-89),
der das Vorbild für alle spätern Roman dieser Art wurde, auch noch auf «Onkel Toms Hütte» stark einwirkte. Die mancherlei pikanten Situationen des Schelmenromans und seiner Ausläufer wurden in Frankreich das Thema schlüpfriger Salon- und Boudoirromane, die auch nach Deutschland herüber wirkten. Der Klassiker dieser Richtung war der phantastische Crébillon (1707-77), der seine Erfindungen gern in den märchenhaften Orient verlegt, während in Deutschland Wieland, der Schüler Lucians, Griechenland [* 9] zu ihrer Stätte macht.
Hatte bis dahin die Tendenz auf die Wirklichkeit und Gegenwart stets einen komisch-frivolen Charakter gehabt, so beginnt der ernsthafte Sitten- und Familienroman mit dem Engländer Richardson, der zugleich der Schöpfer des Briefromans war. Seine bis zur Langweiligkeit einseitige Tugendtendenz wurde in England selbst bald ergänzt durch den saftvollen realistischen Humor Fieldings und Smollets, durch den sentimentalen Humor der Sterneschen Ich-Romane, der noch bei Jean Paul und Tieck Früchte trug. An die Schelmenromane erinnern vielfach noch Dickens und Thackeray.
Dagegen wirkte Richardson gerade durch seine moralische Einseitigkeit und seine idealistische Psychologie überwältigend auf den Roman des Festlandes. J. J. Rousseau, der Vater des romantischen Naturgefühls, der begeisterte Vorkämpfer des Rechts der Leidenschaft, der Aristokratie einer schönen Seele, trat in der «Nouvelle Héloise» in Richardsons Fußstapfen, und Goethe stand in «Werthers Leiden», [* 10] dem poet. Meisterwerke dieser Gruppe, auf beider Schultern (vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe, Jena [* 11] 1875). Damit hatte der Roman in den Mittelpunkt der socialen Interessen hereingegriffen und sich einen nahezu beherrschenden Platz auf den Höhen der Litteratur errungen. Erst mit jenen dreien begann der moderne Roman.
Goethes «Werther» hatte einen internationalen, alle Stände umfassenden Erfolg. Aber die Masse des deutschen Lesepublikums zog doch auf die Dauer die humoristischen Plattheiten Nicolais, Engels, Hermes', [* 12] die das Schlüpfrige streifenden Roman Wielands, Heinses, Thümmels, Lafontaines, die im 19. Jahrh. an Clauren einen berüchtigten Nachfolger fanden, vor allem die aufregenden Ritter- und Räuberromane der Spieß, Cramer, Vulpius, über die sich Fouqué trotz aller adlig-romantischen Deutschtümelei und aller blassen Tugend künstlerisch nicht viel erhebt, Goethe bedeutend vor, und der sentimentale Humorist Jean Paul zumal schlug in der Gunst der Gebildeten die Klassiker weitaus. Da nahm Goethe in so gewaltig einschneidenden Werken wie den «Wahlverwandtschaften» und vor allem im «Wilhelm Meister» noch einmal das Wort, die tiefsten socialen Fragen mit sicherer Künstlerhand berührend.
Auf dem «Wilhelm Meister», diesem von der romantischen Schule überschwänglich gefeierten Werk, beruht der moderne Bildungs- und Künstlerroman, wie Tiecks «Sternbald», Friedrich Schlegels «Lucinde», Novalis' «Heinrich von Ofterdingen», im weitern Fortschritt Immermanns «Epigonen» und Gottfried Kellers «Grüner Heinrich». Die Jüngern lernten wenigstens von dem Altmeister auf die Zeichen der Zeit achten. Romantische Anregungen, die aus Deutschland kamen (darunter die genialen Schauerromane E. T. A. Hoffmanns, Fouqués «Undine» u. a.), riefen in Frankreich Victor Hugo und Eugen Sue, in Italien [* 13] Manzoni, in England den schott. Romantiker Walter Scott hervor, der nun seinerseits auf Deutschland zurückwirkte und dort die lange Episode des historischen Roman (Spindler, Wilibald Alexis, Freytag, Ebers, Dahn) veranlaßte.
Immermanns wundervolle Dorfgeschichte im «Münchhausen» fand sehr bald bei Bitzius (Jeremias Gotthelf), Auerbach, [* 14] Rosegger, Max. Schmidt u. a. Nachfolge. Den engl. Seeromanen Coopers und Marryats thaten es in Deutschland Sealsfield und Gerstäcker nach. Die Zuckungen der Revolutionszeit zeitigten in Frankreich einen großen Romanschriftsteller in dem glänzenden Sittenschilderer Honoré de Balzac, neben ihm die talentvolle Verfechterin der Frauenrechte, George Sand, während die Roman Jungdeutschlands (Gutzkow, Laube, Meißner, Spielhagen) künstlerisch nicht so hoch stehen. Unter den deutschen Romanschriftstellern der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart ragen hervor Gust. Freytag, Anzengruber, Gottfr. Keller, Fontane, Sudermann; auch der Humoristen K. von Holtei und des plattdeutsch schreibenden Fritz Reuter sei nicht vergessen; die Novelle, die bei ¶
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größerm Umfange oft, aber mit Unrecht, unter der Flagge des Roman segelt, hat bei uns den Roman momentan in den Schatten [* 16] gestellt, während Frankreich an Daudet, Flaubert, den Goncourt bedeutende Romanciers besitzt oder besaß. Die neueste Richtung des Roman, die des Naturalismus, der sich bisher in der Schilderung geistiger oder seelischer Krankheit ganz besonders gefällt, wird in Frankreich durch den virtuosen Romantiker Zola, in Rußland durch den grüblerischen Psychologen Dostojewski mit starker poet. Kraft [* 17] vertreten. Doch ist die Reaktion gegen die naturalistische Einseitigkeit schnell eingetreten.
Vgl. O. L. B. Wolff, Allgemeine Geschichte des Roman von dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit (Jena 1841);
Dunlop, History of fiction (Lond. 1843 u. ö.; deutsch von Liebrecht, Berl. 1851);
Kreyßig, Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart (Berl. 1869);
Bobertag, Geschichte des Roman und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland (Bd. 1-2, Bresl. und Berl. 1877-84);
Scherer, Die Anfänge des deutschen Prosaromans (Straßb. 1877);
Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Roman (Lpz. 1883);
K. Reborn, Der deutsche Roman (Köln [* 18] 1890);
H. Mielke, Der deutsche Roman des 19. Jahrh. (Braunschw. 1890);
H. Gerschmann, Studien über den modernen Roman (Königsb. 1894).