Rationalismus
(v. lat. ratio, »die Vernunft«),
in der
Theologie die Denkweise, welche in der menschlichen
Vernunft ebensosehr das
Organ und
den
Maßstab
[* 2] der
Religion wie im sittlichen
Handeln ihren eigentlichen
Inhalt erblickt. Als innerhalb der
Kirche anerkannte Denkweise
konnte sich der theologische Rationalismus
erst auf dem
Boden des
Protestantismus ausbilden, besonders seitdem in
England die sogen.
Freidenker
(s.
Deismus) nicht nur einzelne christliche Dogmen, sondern den
Begriff der
Offenbarung selbst einer strengen
Kritik unterzogen, während die
Freigeister (esprits forts) in
Frankreich vollends als die wahre
Philosophie einen platten
Naturalismus
zu begründen gesucht hatten.
Anders gestalteten sich die Dinge in Deutschland, [* 3] wo im sogen. Zeitalter der Aufklärung (s. d.) der ursprüngliche Supernaturalismus (s. d.) der protestantischen Theologie, welcher nur einen formalen, d. h. auf die systematische Darstellung der Dogmen gerichteten, Vernunftgebrauch gestattete, angeregt durch die dogmengeschichtlichen Studien, wie sie Semler (s. d.), die exegetischen, wie sie Ernesti (s. Hermeneutik) und J. D. Michaelis ^[Michaelis 1)] (s. d.) anbahnten, und die allgemein kulturhistorischen Impulse, wie sie von Lessing (s. d.) und Herder (s. d.) ausgingen, zu einer vorurteilslosern Prüfung des Bibelinhalts fortschritt.
Vollendet erscheint dieser theologische Rationalismus
erst in
Kants
Schrift »Die
Religion innerhalb der
Grenzen
[* 4] der
Vernunft«, die den
Schwerpunkt
[* 5] der religiösen
Interessen ganz in das sittliche
Moment verlegt. In der
Folge ward nun die positive
Religion mehr und mehr bloß
als äußere Handhabe der
Moral betrachtet und das eigentlich Religiöse auf wenige abstrakte
Sätze zurückgebracht.
Gott,
Freiheit und
Unsterblichkeit waren die Lieblingsideen, um die sich der rationalis
tische Religionsunterricht und die rationalistische
Predigt bewegten. Der hat ein Verstandeschristentum aufgestellt, dem, so ehrlich und treu es gemeint war, doch das
Frische,
Kräftige, Lebensvolle und
Poetische des biblischen
Christentums gänzlich
¶
mehr
abging. Diesen ins Platte und Triviale ausartenden Rationalismus
pflegt man als Rationalismus vulgaris, d. h.
ordinären Rationalismus
, zu bezeichnen. Über dem Eifer in seiner Verurteilung hat man vielfach vergessen, daß der Emanzipation der weltlichen
Kultur von der kirchlichen Führung, wie sie sich im Zeitalter des Rationalismus
vollzog, auf protestantischem Boden Notwendigkeit
zukam, wie denn auch der Rationalismus
den Kern der reformatorischen Frömmigkeit, das sittliche Ideal der Pflichtübung, bewahrt und nach
der Seite einer universelle Humanität erweitert hat.
Als die vorzüglichsten Vertreter des wissenschaftlichen Rationalismus
sind die Dogmatiker Wegscheider (s. d.) und Bretschneider (s. d.),
der durch seine natürliche Wundererklärung epochemachende Exeget H. E. G. Paulus (s. d.) und der Kanzelredner
Röhr (s. d.) hervorzuheben. Schleiermacher hat in seiner »Glaubenslehre« den Gegensatz zwischen Rationalismus
und Supernaturalismus vor
allem durch eine tiefere Erfassung des Begriffs der Religion überwunden.
Vgl. Stäudlin, Geschichte des Rationalismus
(Götting. 1826);
Hase, [* 7] Theologische Streitschriften (Jena [* 8] 1834-36, 3 Hefte);
Rückert, Der Rationalismus
(Leipz. 1859);
G. Frank, Geschichte der protestantischen Theologie, Bd. 3 (das. 1875).
In der Philosophie bezeichnet Rationalismus
(seit Kant) diejenige Richtung, welche die sogen. »reine Vernunft« (ratio pura) mit Ausschluß
jeder, sei es innern, sei es äußern, Erfahrung als einzige Erkenntnisquelle gelten läßt und diese durch jene vollständig
ersetzen zu können glaubt. Gegen dieselbe ist Kants ebendeshalb als »Kritik der reinen Vernunft« bezeichnetes
Hauptwerk in der Weise gerichtet, daß zuerst der in der allgemeinen, dann in der besondern Metaphysik, und zwar in jedem der
drei Teile der letztern, Psychologie, Kosmologie und Theologie, der Kritik unterzogen wird.
Das Ergebnis derselben fällt dahin aus, daß die Schöpfer einer Metaphysik aus »reiner Vernunft«, dergleichen
nach ihm Christian v. Wolf (s. d.) und Crusius sind, als »Luftbaumeister« anzusehen seien; aber auch, daß
es mit jenen einer Psychologie, Kosmologie und Theologie »aus reiner Vernunft« nicht besser stehe. Nichtsdestoweniger ist der
Rationalismus
nach Kant in dessen idealistischen Nachfolgern abermals und verstärkt hervorgetreten, hat aber in
dem vermessenen Versuch, die gegebene Natur- und Geschichtserfahrung durch rationale Konstruktion aus »Begriffen der reinen Vernunft«
überflüssig zu machen, sowohl in der Naturphilosophie (Schellings) als in der Philosophie der Geschichte (Hegels) zu demselben
Ergebnis innerlich hohler »Luftgebäude« oder versteckter Entlehnung aus
der äußerlich schroff abgewiesenen Erfahrung geführt.