Moralstatistik
,
die auf zahlenmäßige Massenbeobachtung gestützte Untersuchung der sittlich bedeutsamen Handlungen
in der menschlichen Gesellschaft. Notgedrungen muß sich die
Beobachtung auf solche Erscheinungen dieser
Art beschränken, die an die Öffentlichkeit gelangen und Gegenstand fortlaufender
Erhebungen werden können. Eine statist.
Beobachtung der sittlich guten Handlungen ist nur in bescheidenem
Umfange möglich; sie beschränkt sich fast ganz auf die
Ermittelung gewisser
Thatsachen, die einen, obendrein nur unsichern
Schluß auf den Zustand der
Moralität
zulassen
(Statistik der
Sparkassen, milden
Stiftungen u. s. w.). Die Moralstatistik
ist aber im wesentlichen eine
Statistik der unsittlichen
Handlungen.
Unter diesen letztern kommen vor allem diejenigen in Betracht, welche nach den Landesgesetzen strafbar sind.
Ihre statist.
Ermittelung ist
Aufgabe der Kriminalstatistik (s. d.), die somit den Hauptbestandteil der
Moralstatistik
bildet. Der
Kreis
[* 2] der nicht strafbaren, unsittlichen Handlungen, die seitens der Moralstatistik
berücksichtigt werden können,
ist eng begrenzt. Es gehören hierher namentlich die Selbstmorde, die
Trunksucht, die
Prostitution, die unehelichen
Geburten
(s.
Geburtsstatistik), die
Ehescheidungen und nach gewissen
Richtungen hin (Mischehen u. s. w.) auch die
Eheschließungen (s.
Ehestatistik). Auf die Regelmäßigkeiten, die sich in der Frequenz der statistisch erfaßbaren unsittlichen
Handlungen zeigen, wies zuerst Quételet (s. d. und
Statistik) besonders in seinem Werke
«Sur l'homme» (Par. 1835) hin; er
betonte aber vorzugsweise das scheinbar naturgesetzliche
Moment in diesen Erscheinungen und betrachtete den freien Willen
des Einzelnen nur als eine nebensächliche
Ursache in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Kräfte. Herschel,
Buckle, bis zum gewissen
Grade auch Ad.
Wagner folgten ihm hierin.
Drobisch unterwarf diese mechan.
Auffassung der in seiner
Schrift
«Die moralische
Statistik und die menschliche Willensfreiheit» (Lpz. 1867) einer berechtigten Kritik,
und Quételets
Anschauung findet seitdem kaum noch wissenschaftliche
Vertreter.
Daß in der Frequenz der Erscheinungen, z. B. der
Verbrechen, im Verhältnis zur
Bevölkerung
[* 3] bei Massenbeobachtungen
eine gewisse Regelmäßigkeit auftritt, hängt mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zusammen und schließt die Selbständigkeit
der einzelnen Handlungen keineswegs aus. Eine Verarbeitung des gesamten
Stoffs der Moralstatistik
hat
A. von Öttingen in seinem Werke
«Die in ihrer Bedeutung für eine Socialethik» (3.
Aufl.,
Erlangen
[* 4] 1882) geliefert. -
Vgl. außerdem A. Wagner, Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen Handlungen (Hamb. 1864);
Knapp, Die neuern
Ansichten über Moralstatistik
(Jena
[* 5] 1871);
Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft (Freib. i. Br. 1877);
ders., Moralstatistik
im «Handwörterbuch der
Staatswissenschaften», Bd. 4
(Jena
1892).