Titel
Merlin
der Zauberer, eine der hervorragendsten Gestalten in dem altbritischen
Sagenkreis.
Die ältesten Nachrichten über ihn, dessen
Geburt und
Leben in mystisches
Dunkel gehüllt sind, finden sich in Nennius'
»Historia
Britonum« (9. Jahrh.). Hiernach stammte Merlin
, mit dem Zunamen
Ambrosius (Merddin Embrys),
aus
Caermarthen in
Wales (dem Maridunum
des
Ptolemäos) und besaß schon als
Knabe prophetische
Gabe. Er wurde um 480 vor den Britenkönig Vortigern als das endlich
gefundene
»Kind ohne
Vater« gebracht, das derselbe auf Geheiß seiner Zauberer suchen ließ, damit auf
dem mit seinem
Blut getränkten
Boden der bisher vergeblich versuchte
Bau einer
Burg gelänge, worauf ihm Merlin
die Geheimnisse
des
Bodens enthüllte und daraus den
Sieg der Briten über die
Sachsen
[* 2] prophezeite. In gleicher
Weise, aber schon romantisch
ausgesponnen, berichtet über ihn die
Chronik
(»Historia regum Britanniae«, um 1135) des
Gottfried von
Monmouth,
der aus der Vermischung eines
Inkubus mit einer
Nonne aus königlichem Geblüt hervorgehen läßt.
Der
Knabe ergeht sich in einer ausführlichen
Weissagung, wird zugleich als Zauberer eingeführt, indem er das
Stonehenge aus
Irland durch seine übernatürliche
Kraft
[* 3] in die
Ebene von
Salisbury versetzt, und tritt weiter als Sterndeuter
und
Berater in den
Schlachten
[* 4] auf. Nachdem König Uter-Pendragon zur Herrschaft gelangt ist, benutzt er seine magische
Kunst
zur
Begünstigung eines verbotenen
Umgangs desselben mit der schönen Iguerne, welchem
Artus seine Entstehung verdankt, an dessen
Hof
[* 5] Merlin
in der
Folge eine gleich wichtige
Rolle spielt (s.
Artus).
Mit diesem Merlin
verschmolzen oder wahrscheinlich identisch erscheint ein zweiter Merlin mit dem Zunamen
Silvester oder Caledonius,
von dem Giraldus Cambrensis (um 1180) zuerst berichtet: der
Barde Merddin ab Morvryn, der unter König
Artus gegen die
Sachsen
focht, aber nach der
Schlacht beim
Wald von Celidon, von
Wahnsinn ergriffen, in diesen floh und daselbst
prophezeiend bis an seinen
Tod verweilte. Ihm werden einige Gedichte, namentlich »Avallenau« (»Der
Apfelgarten«) und »Hoianau« (»Die
Horchenden«),
zugeschrieben, die sich auf jene
Kämpfe beziehen sollen und in der »Myvyrian archaiology of
Wales« (Lond. 1801)
abgedruckt sind; indessen sind dieselben, nach neuern Untersuchungen, untergeschoben und als politisch-tendenziöse
Dichtungen des 12. Jahrh. zu betrachten. Die volkstümliche Bedeutung Merlins
und sein
europäischer
Ruf, den er durch fünf
Jahrhunderte behauptete, datiert überhaupt erst vom 12. Jahrh., und hieran hatten vorzugsweise
drei Werke
Anteil:
1) die »Prophetia Merlini«
des
Gottfried von
Monmouth (hrsg. mit dem
Kommentar des
Alanus ab Insulis, Frankf. 1603 u.
öfter), eine um 1132 in lateinischer
Sprache
[* 6] verfaßte, später seiner
Chronik einverleibte Bearbeitung der zahlreich umlaufenden
wundersamen
Weissagungen des Zauberers über die
Geschicke
Englands, die das ganze
Mittelalter hindurch in kanonischem Ansehen
stand;
2) die früher ebenfalls
Gottfried von
Monmouth beigelegte, doch erst um 1220 abgefaßte
»Vita Merlini«
in lateinischen
Hexametern (hrsg. von
Michel und
Wright, Par. 1837),
die im wesentlichen der
Tradition vom kaledonischen Merlin
folgt,
aber den
Stoff etwas frei behandelt;
3) der weitschichtige, in französischer Sprache ¶
mehr
geschriebene »Roman de Merlin«
des (am Hof Heinrichs II. lebenden) Anglonormannen Robert de Borron, der die Sagen vom Gral, von Joseph
von Arimathia und der Tafelrunde mit hereinzieht und sich ebensosehr im Reich der Phantasie wie auf dem Gebiet der Tradition bewegt
(erster Druck, Par. 1498, 4 Bde.; hrsg.
von G. Paris,
[* 8] das. 1888, 2 Bde.; auch
ins Italienische, Spanische,
[* 9] Englische
[* 10] etc. übersetzt; deutsch bearbeitet von Friedr. v.
Schlegel: »Geschichte des Zauberers Merlin«
, Leipz.
1804). Hier wird Merlin
von einem Teufel mit einer reinen Jungfrau erzeugt, um durch seine Hilfe wiederzugewinnen, was Christus der
Hölle entrissen, und er endet schließlich als das Opfer seiner eignen Magie, indem er von seiner Geliebten
Viviana, die ihm seine Zauberkunst abgelernt, im Wald Brecilian in einen Hagedornbusch gebannt wird, aus dem fortan nur noch
seine Stimme erklingt.
Die zahlreichen Auflagen dieses wie noch andrer Romane, die Merlins
Namen tragen und fast alle auch die
»Prophetia« Gottfrieds mit aufnehmen, beweisen das bis ins 17. Jahrh. hinein rege Interesse für den Gegenstand. Auch in Dichtungen
andrer Art findet sich die
[* 7]
Figur des Zauberers mehrfach verwendet. Immermann machte Merlin
zum Helden eines dramatischen Gedichts
eine Mythe«, 1832); in neuester Zeit (1886) wurde der Stoff zweimal als Oper behandelt, von Lipiner (Musik
von Goldmark) und Hoffmann (Musik von Rufer). Dagegen hat Gottschalls Dichtung »Merlins
Wanderungen« (Bresl. 1887) mit der alten
Sage nur den Namen gemein.
Vgl. Heywood, The life of Merlin
, his prophecies and predictions (Lond. 1641, neue Ausg.
1813);
San Marte, Die Sagen von Merlin
(Halle
[* 11] 1853),
worin auch die »Prophetia« Gottfrieds und die »Vita Merlini« sowie die beiden oben erwähnten Gedichte mitgeteilt und erläutert sind; de la Villemarqué, Myrdhinn ou l'enchanteur Merlin (Par. 1861);
Grässe, Die großen Sagenkreise des Mittelalters (Dresd. 1842).