Gneisenau
,
August
Wilhelm
Anton,
Graf Neithardt von, einer der
Helden des deutschen
Befreiungskriegs, geb. zu
Schildau in der preußischen
Provinz
Sachsen.
[* 2]
Sein
Vater, sächsischer Artillerieleutnant bei der
Reichsarmee, stammte aus einer
alten österreichischen
Familie, welche neben dem Familiennamen Neithardt auch wohl nach ihrem
Schloß bei
Eferding den
Namen
Gneisenau
führte. Die
Mutter, aus
Würzburg
[* 3] gebürtig, floh mit dem
Knaben aus
Schildau, als die Reichstruppen nach der
Schlacht bei
Torgau
[* 4] abrückten, und zog sich dabei eine
Krankheit zu, die ihren baldigen
Tod zur
Folge hatte.
Gneisenau
, welcher seinem
Vater auf seinen Kriegszügen folgte, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, bis ihn sein Großvater,
Oberstleutnant
Müller, nach
Würzburg nahm und in einer
Jesuitenschule erziehen ließ. Nach
Müllers
Tod 1772 ging Gneisenau
ins väterliche
Haus nach
Erfurt
[* 5] und bezog 1777 die dortige
Universität. Geldmangel zwang ihn 1779, bei den österreichischen
Truppen in
Erfurt
Dienste
[* 6] zu nehmen, aus denen er schon nach einem Jahr in die ansbach-baireuthische
Armee übertrat. 1782 wurde
er
Leutnant und ging als solcher mit seinem
Regiment nach
Amerika,
[* 7] um für
England gegen die abgefallenen
Kolonien zu kämpfen.
Obwohl wegen des bald eintretenden
Friedens Gneisenau
schon 1783 nach
Europa
[* 8] zurückkehrte, ohne an
Gefechten teilgenommen
zu haben, hat die
Reise mit ihren zahlreichen neuen
Eindrücken doch den Anstoß zur reichen Entfaltung seiner geistigen
Anlagen
gegeben. Als Premierleutnant trat er Anfang 1786 in preußische
Dienste. Im
August 1786 wurde er zu einem Freiregiment nach
Schlesien
[* 9] versetzt und kam 1787 nach
Löwenberg in das Standquartier. Hier verlebte er mehrere Jahre, mit
der
Ausbildung im
Dienst, militärischen
Studien und den politischen Zeitereignissen beschäftigt, und errang durch Redlichkeit
und treue
Freundschaft die
Liebe und
Achtung aller
Kameraden. 1790 wurde er
Stabskapitän und nahm von 1793 bis 1795 an der
Okkupation
Polens teil. 1796 vermählte er sich mit
Karoline v. Kottwitz.
Zehn Jahre mußte er sich als Hauptmann in Jauer [* 10] mit dem ewigen Einerlei des Friedensdienstes abquälen, ohne doch seine Frische und Energie zu verlieren. Er erkannte mit scharfem Blick die Schwächen des preußischen Heers und war auf eine Katastrophe gefaßt. An der Spitze seines Bataillons nahm er 1806 am Gefecht bei Saalfeld [* 11] und an der Schlacht bei Jena [* 12] teil. In der nun folgenden Zeit der Verwirrung und allgemeinen Mutlosigkeit bewährten sich seine klare Einsicht und seine Charakterfestigkeit.
Jetzt endlich wurde er zum Major befördert und erst mit dem Auftrag betraut, in Litauen neue Reservebataillone zu formieren, im April 1807 aber an Stelle des alten, schwachen Obersten v. Loucadou zum Kommandanten von Kolberg [* 13] ernannt. Er verteidigte diese hart bedrängte Festung, [* 14] unterstützt von ihren Bürgern (s. Nettelbeck) und von Schill, mit wenigen Truppen gegen eine große Übermacht bis zum Tilsiter Frieden und rettete die preußische Waffenehre. Nach Aufhebung der Belagerung wurde er, inzwischen Oberstleutnant und Ritter des Ordens pour le mérite geworden, zum Chef des Ingenieurkorps ernannt und in die Kommission zur Reorganisation des Heers berufen. In dieser Stellung war er für die Wiedergeburt Preußens [* 15] außerordentlich thätig; er gehörte zu den eifrigsten Gehilfen Steins und Scharnhorsts. Als Stein aber entlassen wurde und Preußen [* 16] sich der Teilnahme an der Erhebung Österreichs 1809 enthielt, bekam er aus Rücksicht auf Napoleon seine Entlassung und, nachdem er seine Vermögensverhältnisse ¶
mehr
geordnet, den geheimen Auftrag, die Verhältnisse des Auslandes zu studieren. Er reiste zu diesem Zweck 1811 nach Österreich, [* 18] Rußland und England und war mit den mannigfachsten Entwürfen, das Ziel seiner heißesten Wünsche, die Befreiung Deutschlands, [* 19] zu erreichen, beschäftigt. Oft verzweifelte er an der Möglichkeit, den unentschlossenen König zum Befreiungskampf fortzureißen. Auf die Kunde von dem Ausgang des russischen Feldzugs kehrte er nach Preußen zurück und wurde als Generalmajor wieder angestellt und zum Generalstabschef zuerst des Blücherschen Korps, dann, nach dem Waffenstillstand, der schlesischen Armee ernannt. Im Befreiungskrieg hat er sich die größten Verdienste erworben.
Von gleichem Thatendrang beseelt wie sein Oberfeldherr, entwarf er die genialsten und doch zugleich sorgfältigst
berechneten Operationspläne und führte sie im Verein mit Blücher mit kühner, rücksichtsloser Energie durch; er schonte
die Truppen allerdings nicht, was ihm die größte Unzufriedenheit, ja Feindschaft Yorks zuzog. Der König bezeigte ihm nach
der Schlacht bei Leipzig
[* 20] seinen Dank durch die Ernennung zum Generalleutnant, durch die Erhebung in den Grafenstand
und nach dem ersten Pariser Frieden durch eine Dotation. 1815 war Gneisenau
wieder Blüchers Generalstabschef, ermöglichte durch seine
treffliche Anordnung nach der Niederlage bei Ligny (16. Juni) den Marsch nach Waterloo,
[* 21] und nachdem das pünktliche Erscheinen der
Preußen den Sieg der Alliierten 18. Juni entschieden hatte, leitete er die Verfolgung mit solcher Schnelligkeit und Kraft,
[* 22] daß
der Rückzug der französischen Armee in wilde Flucht ausartete. Nach dem Einzug in Paris
[* 23] nahm er an dem Friedensschluß teil,
ohne indes die Erfüllung seiner patriotischen Wünsche erreichen zu können, und erhielt dann, zum General
der Infanterie ernannt, das Kommando des rheinischen Armeekorps. 1816 nahm er seinen Abschied und zog sich nach seinem Schloß
Erdmannsdorf am Riesengebirge zurück. Hier verlebte er im Kreise
[* 24] seiner Familie mit einigen Unterbrechungen die letzte Zeit seines
Lebens. 1818 wurde er nämlich zum Gouverneur von Berlin
[* 25] und Mitglied des Staatsrats, 1825 zum Generalfeldmarschall
und Präses der Militärexaminationskommission und 1831 beim Ausbruch des polnischen Aufstandes zum Oberbefehlshaber der vier
östlichen zum Schutz der preußischen Grenze aufgestellten Armeekorps ernannt. Am 24. Aug. d. J. starb er in Posen
[* 26] an der Cholera
und wurde in Sommerschenburg beigesetzt. - Gneisenau
war nicht bloß ein hervorragender Feldherr und Soldat, sondern
seine vielseitige Geistesbildung und seine staatsmännischen Gaben hätten ihn auch zu einer bedeutenden politischen Thätigkeit
nach 1815 befähigt, wenn man in Preußen davon hätte Gebrauch machen wollen; aber die reaktionäre Strömung drängte ihn
in den Hintergrund. Wie seine Thaten ihm den Ruhm der Nachwelt sicherten, so verschafften ihm seine schöne
ritterliche Erscheinung, seine edle Bescheidenheit, sein wohlwollendes, liebenswürdiges Wesen die Liebe und Verehrung der Mitlebenden.
Seine Erzstatue ist 1855 in Berlin am Opernplatz neben denen Blüchers und Yorks aufgestellt worden. - Von seinen Söhnen führte
der dritte, Bruno, Graf Neithardt von Gneisenau
, geb. im letzten französischen
Krieg die 31. Brigade des 8. Armeekorps und ist jetzt General der Infanterie a. D. Eine vortreffliche Lebensskizze Gneisenaus
bis 1806 hat
E. F. v. Fransecky geschrieben (anonym, Beiheft zum »Militärwochenblatt« 1856).
Das große Werk von H. Pertz: »Das Leben des Feldmarschalls Neithardt v. Gneisenau«
(fortgesetzt
von Delbrück, Berl.
1864-80, 5 Bde.) enthält reiches Material, das Delbrück in einer Biographie (das. 1882, 2 Bde.)
verarbeitet hat.