Epilepsie
(griech.,
»Angriff, Anfall«,
Fallsucht,
böses Wesen, böse
Staupe,
Morbus sacer, franz.
Haut-mal), eine chronische
Krankheit des
Nervensystems, welche deshalb zu den sogen. reinen
Neurosen gerechnet wird, weil man keine
derselben zu
Grunde liegenden gröbern anatomischen Veränderungen des Nervenzentralorgans kennt. Die wesentlichste
Erscheinung
der Epilepsie
besteht in eigentümlichen, mit
Bewußtlosigkeit verbundenen Krampfanfällen, zwischen welchen freie Zwischenzeiten
von verschiedener, oft sehr langer Dauer vorkommen, in denen sich der
Patient vollständig wohl befindet. Über das
Wesen
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dieser ziemlich häufig vorkommenden Krankheit, über die Art ihrer Entstehung und die sie veranlassenden Ursachen sind wir
nur sehr mangelhaft unterrichtet. Frauen leiden häufiger an Epilepsie
als Männer, kein Lebensalter bleibt von derselben verschont;
doch fallen die meisten Fälle auf die Zeit vom 10. bis 20., dann auf die Zeit vom 2. bis 10. und nächstdem
auf die vom 20. bis 30. Jahr. Im eigentlichen Greisenalter sowie in den ersten Lebensmonaten kommt Epilepsie
kaum vor. Die wichtigste
Rolle in der Ätiologie der Epilepsie
spielt unverkennbar eine gewisse angeborne Anlage, welche sich wohl bei einem Drittel aller Kranken
nachweisen läßt.
Denn Epilepsie
kommt vorzugsweise bei solchen Individuen vor, welche von Eltern, namentlich Müttern, abstammen,
die von der gleichen Krankheit befallen waren, aber auch bei solchen, deren Eltern oder Großeltern an Geisteskrankheiten oder
Trunksucht gelitten haben. In manchen Familien leiden zahlreiche Glieder
[* 3] mehrerer Generationen an Epilepsie.
Zuweilen bleibt eine Generation
frei davon, und nicht die Kinder der epileptischen Eltern, sondern erst die Enkel werden wieder epileptisch.
Herabgekommene und schwächliche Individuen, Säufer und Onanisten erkranken häufiger an der Epilepsie
als gesunde
und kräftige Menschen; allein auch diese bleiben nicht gänzlich davon verschont. Als Gelegenheitsursache zum Ausbruch der
Epilepsie
müssen in erster Linie heftige psychische Erregungen, Schreck, Furcht und namentlich auch der Anblick
Epileptischer, genannt werden. In manchen Fällen scheint die Epilepsie
bedingt zu sein durch gewisse anatomische Veränderungen
des Gehirns und seiner Hüllen, z. B. durch Geschwülste, welche auf das verlängerte Mark drücken, durch behindertes Wachstum
des Gehirns bei vorzeitiger Verknöcherung der Schädelkapsel. Auch durch den Druck, welchen Geschwülste
auf peripherische Nerven
[* 4] ausüben, hat man zuweilen Epilepsie
entstehen sehen. Endlich können abnorme Erregungszustände der Empfindungsnerven
unter Umständen zur Epilepsie
führen. So kann der Reiz der Eingeweidewürmer oder Reizungszustände der Gebärmutter
[* 5] Epilepsie
veranlassen.
Die Epilepsie
besteht aus einzelnen Anfällen oder Paroxysmen. Der Anfall wird bei manchen Kranken
regelmäßig oder doch gewöhnlich durch eine sogen. Aura eingeleitet, d. h. der Kranke hat die Empfindung, als ob er angehaucht
würde, und diese Empfindung steigt von den Händen oder Füßen nach dem Kopf zu auf und geht sofort in den Anfall selbst über.
Häufiger noch leitet ein Gefühl des Kribbelns, der Wärme,
[* 6] der Erstarrung oder eines eigentümlichen
Schmerzes an den verschiedensten Körperstellen, welche von da bis zum Gehirn
[* 7] fortschreiten, den Anfall ein. In andern Fällen
gehen Zuckungen oder Lähmungen einzelner Glieder (motorische Aura), Halluzinationen, Funken- und Farbensehen, Ohrensausen, Wahrnehmung
gewisser Geräusche, Schwindel u. dgl. dem Anfall voraus.
Bisweilen läßt sich der Ausbruch eines epileptischen Anfalles verhüten, wenn man die Stelle, an welcher die Aura auftritt, durch ein festes, oberhalb derselben angelegtes Band [* 8] umschnürt. Den Ausbruch des Anfalles, mag demselben eine Aura vorausgegangen sein oder nicht, bezeichnet gewöhnlich ein greller Schrei, mit welchem der Kranke plötzlich besinnungslos zu Boden stürzt. Er hat fast nie Zeit, sich auf den Fall vorzubereiten, sondern er fällt rücksichtslos, oft an den gefährlichsten Stellen.
Daher tragen die Epileptiker nach längerm Bestand der Krankheit fast regelmäßig die Spuren mehr oder minder schwerer Verletzungen an sich. Nach dem Hinstürzen treten gewöhnlich zunächst mehr tonische Muskelkontraktionen, eine Art starrkrampfähnlichen Zustandes, ein, wobei der Kopf rückwärts und seitwärts gezogen, der Mund fest geschlossen, die weit geöffneten Augen nach oben und innen gerollt, der Brustkorb festgestellt und die Atmungsbewegungen zum Stillstand gebracht werden.
Nach wenigen Momenten stellen sich aber bereits klonische, d. h. Schüttelkrämpfe ein, welche sich schnell über den ganzen Körper verbreiten. Das Antlitz gerät in lebhafte Bewegung, die Kiefer werden unter Zähneknirschen gewaltsam aufeinander gepreßt und hin- und hergerissen, wobei nicht selten die Zunge verletzt und fast regelmäßig Schaum vor dem Mund gebildet wird. Kopf und Rumpf werden durch die Schüttelkrämpfe hin- und hergeworfen, an den Armen und Beinen wechseln kurz stoßende und schlagende mit drehenden und zuckenden Bewegungen gewaltsamster Art ab. Die Finger sind gewöhnlich gekrümmt und der Daumen fest in die Hand [* 9] eingeschlagen.
Die Atmung ist während des Anfalles schwer gestört, der Herzschlag beschleunigt, der Puls gewöhnlich klein, manchmal unregelmäßig, die Haut [* 10] mit Schweiß bedeckt, das Gesicht [* 11] blaurot gefärbt. Oft läßt der Kranke während des Anfalles Stuhlgang und Urin unter sich gehen. Das Bewußtsein ist während der ganzen Dauer des Anfalles so vollständig erloschen, daß der Kranke selbst auf die schmerzhafteste Verletzung durchaus nicht reagiert. Nachdem der Anfall 1-10, höchstens 15 Minuten gedauert hat, erlischt er bald allmählich, bald plötzlich.
Sehr oft beschließt eine lange seufzende Ausatmung den Anfall; seltener endet er mit Erbrechen, Aufstoßen, Abgang von Blähungen u. dgl. Gewöhnlich verfallen die Kranken unmittelbar nach dem Anfall in einen tiefen Schlaf mit langsamer und geräuschvoller Atmung. Weckt man sie aus dem Schlaf, so pflegen sie verstört und ängstlich um sich zu blicken und finden sich schwer in ihrer zufälligen Situation zurecht. Ihr einziges Streben geht dahin, daß man sie fortschlafen lasse. Am andern Morgen sind sie zwar noch etwas angegriffen und verdrießlich, können aber ihren gewöhnlichen Verrichtungen wieder nachgehen.
Von dem geschilderten Verlauf eines Anfalles kommen zahlreiche Abweichungen vor, welche sich auf die Dauer, die Heftigkeit und die Verbreitung der Schüttelkrämpfe beziehen. Zuweilen sind die Anfälle so leicht, daß die Kranken selbst sie nicht merken und auch die Umgebung nur aufmerksam wird, wenn die Befallenen Gegenstände, die sie gerade in der Hand haben, fallen lassen oder plötzlich in der Rede stocken oder aus den Reden andrer gewisse Bruchstücke nicht gehört haben.
Man bezeichnet diese übrigens immer mit Bewußtlosigkeit verbundenen Zustände als »epileptischen Schwindelanfall«. Auch andre Störungen treten bei Epileptischen zuweilen als Ersatz (technisch Äquivalent) für einen regulären Anfall ein, wie plötzliche Geistesabwesenheit mit Grimassenschneiden, Verdrehen des Kopfes und der Glieder, Stottern oder dieselbe Bewußtseinsstörung mit traumhaften, impulsiven Handlungen, wie plötzlichem Ergreifen irgend welcher Gegenstände, Fortlaufen unter Wegnahme derselben etc., wodurch die Kranken oft des Diebstahls verdächtig werden (sogen. Kleptomanie). In andern Fällen tritt plötzlicher Schlaf oder während der Nacht plötzliches Aufschrecken und Nachtwandeln ein. Die gesunden Pausen, welche zwischen den einzelnen epileptischen Anfällen liegen, dauern bei manchen Kranken mehrere Jahre, bei andern wochen- und monatelang, während wieder andre Kranke fast täglich einen oder selbst mehrere Anfälle zu erleiden haben. Ein ganz ¶
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regelmäßiger Cyklus der Aufeinanderfolge der Anfälle kommt niemals vor. Die Anfälle treten bei manchen Individuen während
des Tags, bei andern während der Nacht ein. Die nächtliche Epilepsie
gilt für besonders bösartig und hartnäckig. Die Epilepsie ist nur
in einer Minderzahl von Fällen auf die Anfälle (status epilepticus) beschränkt, es treten vielmehr
in etwa 62 Proz. aller Fälle Störungen in dem gesamten Geistesleben ein, welche man als epileptisches Irresein zusammenfaßt.
Hierin gehören zunächst Geistesstörungen, welche den eigentlichen Anfällen kurz vorausgehen oder ihnen unmittelbar folgen. Sie sind oft durch Angst, durch Verfolgungsideen, Delirien ausgezeichnet; die Kranken werden nicht selten zu Mord, Selbstmord, Diebstahl oder Brandstiftungen getrieben, und da alle diese Handlungen bei Mangel des Bewußtseins ausgeführt werden, so bieten sich bei gerichtlichen Verhandlungen oft außerordentliche Schwierigkeiten dar, ob man es mit einem Verbrecher oder einem Irren zu thun hat.
Später aber entwickeln sich dauernde Geisteskrankheiten, die in Form von Dämmerzuständen mit Angst (petit mal
nach Falret) oder tieferer Bewußtseinsstörung mit entsetzlichen Visionen, Verfolgungswahn und Tobsucht (grand mal nach Falret)
auftreten. Nicht selten sind die Delirien religiösen Inhalts, die Kranken halten sich für Gott oder Christus; dann folgt
meist eine tiefe geistige Ermattung, welche in eine Periode geistiger Klarheit übergeht. In diesem Stadium
der Epilepsie
müssen die Kranken notwendigerweise in Irrenanstalten oder gleichwertigen, unter ärztlicher Leitung stehenden Spitälern
untergebracht werden; jedoch ist es ungemein schwer zu beurteilen, wie lange man die Kranken darin einschließen soll, da
mitunter freie Pausen von jahrelanger Dauer eintreten, auf welche dann plötzlich ein Anfall mit impulsiven Trieben zu
Mord oder Brandstiftung folgen kann.
Wenn man solche Kranke nicht zu dauernder Einzelhaft verurteilen will, wird man die Gesellschaft vor einzelnen Unglücksfällen,
wie sie hin und wieder geschehen, nicht wohl bewahren können. Aber abgesehen von der großen Zahl der Epileptiker, welche
im Irrenhaus untergebracht werden müssen, wird bei fast allen Kranken nach und nach der ganze geistige
und körperliche Habitus geändert. Schärfe des Urteils, Gedächtnis und Einbildungskraft nehmen ab; die rohern Triebe treten
mehr hervor und treiben den Kranken nicht selten zu gewaltsamen und verbrecherischen Handlungen. Oft ziehen sie sich scheu vor
den Menschen zurück, werden launenhaft, quälen ihre Umgebung und geraten bei unbedeutenden Veranlassungen
in maßlosen Zorn. Auch das äußere Aussehen wird bei langem Bestand der Epilepsie
in der Art geändert, daß die Gesichtszüge
grob, der Blick unsicher und nichtssagend werden.
Vollständige Heilung scheint ein seltener Ausgang der Epilepsie
zu sein. Je bestimmter eine angeborne Anlage oder eine Texturerkrankung
des Gehirns als Ursache der Epilepsie anzusehen ist, je länger die Krankheit dauert, je heftiger und häufiger ihre Anfälle sind,
je stärker der Eindruck ist, den sie hinterlassen, um so geringer gestaltet sich die Aussicht auf Genesung. Wenn aber auch
Epileptische nur selten vollkommen von ihrer Krankheit befreit werden, so sterben doch nur sehr wenige
während eines Anfalles. Die Kranken gehen schließlich durch die Fortschritte des Gehirnleidens, auf welchem die Epilepsie beruhte,
oder durch Verletzungen, die sie sich im Anfall zugezogen, und vorzugsweise durch interkurrente Krankheiten zu Grunde, die mit
der Epilepsie in keinem nähern Zusammenhang stehen.
Was die Behandlung der Epilepsie anbelangt, so gelingt es nur selten, der Krankheit dadurch entgegenzutreten, daß man die ihr zu Grunde liegenden Ursachen entfernt. Dies darf jedoch nicht abhalten, den ursachlichen Momenten und ihrer Beseitigung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. So dürfen z. B. epileptische Kinder nicht durch den Schulunterricht übermäßig angestrengt werden, sondern sie müssen sich im Gegenteil viel im Freien aufhalten und spielend beschäftigt werden.
Sorgfältig müssen geschlechtliche Exzesse, übermäßiger Alkoholgenuß u. dgl. vermieden werden. Ist Wurmreiz die wahrscheinliche Ursache der Epilepsie, so muß eine Kur gegen die Eingeweidewürmer eingeleitet werden. Als spezifische Mittel werden empfohlen und mit wechselndem Erfolg vielfältig angewendet: das Atropin, baldriansaures und blausaures Zink, salpetersaures Silberoxyd, der Baldrian, Artemisia vulgaris. Bei weitem das wirksamste Mittel ist das Bromkalium, welches in Mengen von 3-10 g täglich hindurch lange Zeit gebraucht werden muß und alsdann oft erstaunliche Besserungen zur Folge hat. Es ist übrigens auch in manchen Geheimmitteln der wirksame Bestandteil, sollte aber nur auf genaue ärztliche Vorschrift genommen werden.
Epileptische Kranke sollten niemals, auch bei Nacht nicht, ohne Aufsicht und allein gelassen werden, damit sie sich während des Anfalles keinen Schaden zuziehen. Um die Epilepsie zu verhüten, empfiehlt Romberg, in Familien, wo die Epilepsie erblich ist, die Verheiratung der Mitglieder untereinander nicht zu gestatten. Auch sollen epileptische Mütter ihre Kinder nicht selbst stillen, sondern dieselben einer gesunden und kräftigen Amme anvertrauen.
Vgl. Herpin, Du pronostic et du traitement curatif de l'épilepsie (Par. 1852);
Russel Reynolds, Epilepsie, ihre Symptome und Behandlung (deutsch von Beigel, Erlang. 1865);
Echeverria, On epilepsy, anatomo-pathological and clinical notes (New York 1870);
Nothnagel, Über den epileptischen Anfall (Leipz. 1872);
v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie (Stuttg. 1879);
Weiß, Kompendium der Psychiatrie (Wien [* 13] 1881).
Epilepsie ist auch bei allen Haustiergattungen, selbst beim Geflügel, beobachtet worden und kommt am häufigsten bei Hunden vor. Bei Pferden wird sie in einigen Teilen Deutschlands [* 14] als Gewährsmangel mit verschieden langer Gewährszeit in den Gesetzen besonders aufgeführt. Diagnostisch ist von der der Pferde [* 15] der Schwindel (s. d.) zu trennen. Bei letzterm werden die Tiere auch plötzlich bewußtlos, aber es fehlen die klonischen Krämpfe (Zuckungen), welche neben dem Mangel an Bewußtsein den epileptischen Anfall stets begleiten. Die Epilepsie gilt als unheilbar. Versuchsweise werden ergiebige Aderlässe und die Verabreichung von Abführmitteln angewandt. Auch Bromkalium ist bei Pferden versucht worden.